Über stille Mitleser

So fühlt es sich also an.
Wenn man sich entscheidet.
Zurück zu fahren. Auch, wenn noch wenig organisiert ist. Das Zugticket fehlt noch, der Schlafplatz, die Tagesplanungen. Aber das war immer so beim Pendeln zwischen den Welten, das kam erst nach und nach, sobald der Termin stand.

Ich weine viel. Mich überfordert (fast) alles und aktuell insbesondere der Job. Ich denk viel über Sterben nach, was alles aktuell sehr unkonkret ist, aber doch wieder mit der Grundidee verhaftet, dass es einfach unmöglich ist, das im aktuellen Zustand ewig zu überleben. Es ist zu viel Schmerz. Es wird nicht heute und nicht morgen passieren. Aber es wird passieren. Und irgendwie hat mir das Umfeld ja auch seit Anfang an klar gemacht, dass das alles für die umstehenden Menschen nicht so schlimm ist.

Und manchmal… - manchmal brauche ich ein paar Goldmomente, die kurz das Herz wärmen. Ich habe einen Ordner auf meinem PC, da werden sie gesammelt und gespeichert.
Gestern bin ich an einem vorbei gekommen.

Es gab zwei Menschen, die die Blogadresse hatten. Der verstorbene Freund  und seit der Mitte des zweiten Klinikaufenthaltes 2019 der Herr Kliniktherapeut. Wir hatten mal über Freizeitaktivitäten gesprochen und da war die Aufmerksamkeit auf dem Blog gefallen. Da ich ja nicht die größte Rednerin bin, hatte er damals vorgeschlagen, dass es ja aus therapeutischen Gründen ganz nützlich sein könnte, wenn er die Adresse hat. Ich habe damals ein paar Nächte drüber geschlafen, ich wusste es nicht. Wenn ich die Adresse ein Mal raus geben würde, wäre es nicht mehr rückgängig zu machen. Am Ende habe ich sie ihm gegeben unter der Maßgabe, sie im Team nicht weiter zu geben. Die Oberärztin muss das jetzt echt nicht lesen, aber er hatte mein Vertrauen. Das hat er mir versprochen und dann hat er sie bekommen. Ich glaube, für den Therapieprozess war das gut. Und am Ende meines Aufenthaltes hatte er mir gesagt, dass er auch nicht weiter lesen wird. Immerhin hat er auch viel zu tun.

Und dann saßen wir da 2020. Es war der erste Termin, den wir seit dem Tod des Freundes wieder gemeinsam hatten, wenn man von dem Treffen absieht, an dem er mich in die Notaufnahme gebracht hat. 

Therapeutentee aus der Therapeutentasse. Ich hab nicht mehr so viele, deswegen ein sehr seltenes, aber sehr tragendes und wärmendes Ritual

 

An einer Stelle im Gespräch.
„Wir hatten uns ja schonmal über Hoffnungen und Chancen unterhalten…“
„Ja, ich kann mich erinnern. Das hat es sogar auf meinen Blog geschafft, weil ich das so gut fand.“
„Ich weiß… - also dass Sie es im Blog geschrieben haben; nicht ob Sie es gut fanden….“

Bitte was…???? Wieso hat er das gelesen?

„Lesen Sie jeden Blogeintrag?“
„Fast jeden, ja.“
Lange Pause.
„Ich muss aber gestehen, aufgrund der durchaus begrenzten Zeit, die ich ja habe, kommt es manchmal vor, dass ich einen Blogeintrag lese und dann merke… - mh… - das hat jetzt gar nicht so viel mit der Therapie an sich zu tun… - und dass ich dann manche Stellen ein bisschen überfliege. Also… - ich lese es nicht immer so ganz exakt.“

Bitte was…? Entschuldigt er sich gerade ernsthaft dafür, dass er nicht jeden Satz gelesen hat, während ich gar nicht wusste, dass er überhaupt irgendeinen Satz davon gelesen hat…?

Wir reden darüber, dass es auf dem Blog eine Mailadresse gibt und ich spreche darüber, wieso ich sie eingerichtet habe und dass es da mal eine Anfrage gab. „Ja genau, den Eintrag habe ich auch gesehen…“ Okay…

Und dann erzähle ich ein bisschen etwas zur aktuellen Situation. [Der Freund] ist gestorben, ich bin in [der Studienstadt] und kann eigentlich diese Stadt gar nicht aushalten und in der Ferne… - wie man da auf mich zu sprechen ist, weiß ich auch nicht. „Ich weiß eigentlich gar nicht, wie es weiter gehen soll“, sage ich. „Mh… - ja ich habe so nebenbei mal gelesen… - natürlich…“ „Den Blog?“, unterbreche ich. „Ja klar“, gibt er unverblümt zu. „Ganz ehrlich, wenn ich Sie ja jetzt erstmal nicht gesehen habe, es ging ja jetzt erstmal wirklich nicht anders; ich möchte ja trotzdem irgendwie auf dem Laufenden bleiben.“
Und es ist so schön und so wärmend zu spüren, dass da Jemand ist. Und vielleicht immer ein kleines Auge auf mich hatte. Dass es wem nicht egal war, dass ich da auf der geschlossenen Station irgendwie versauert bin.

Es hat mich ein bisschen geschockt ehrlich gesagt. Dass er ausnahmslos alles was in dem Jahr passiert ist, in dem ich versucht habe die ersten Monate meines Jobs zu bestreiten, mitbekommen hat. Manche Dinge waren nämlich ganz sicherlich nicht für seine Augen bestimmt.
Aber ich war auch ganz berührt. Davon, dass es jemanden interessiert, was ich hier so treibe. Dass sich Jemand die Mühe macht mitzulesen. Das  Jemand gedanklich bei mir ist.

Manchmal frage ich mich, ob er immer noch mitliest. Ich weiß, dass er nicht mehr an der Klinik arbeitet. Und letztens habe ich mal das Internet mit der Frage bemüht, was er jetzt so treibt. Ich bin fündig geworden. Vielleicht beobachten wir uns gegenseitig jetzt einfach still. Früher wäre dieses Szenario für mich die absolute Katastrophe gewesen. Nach allem was passiert ist kann ich sagen: Ich bin froh, dass er scheinbar lebt und atmet, seine Karriere offensichtlich voran bringt und immer noch mit Herzblut im Job steckt – zumindest dem Engagement nach zu urteilen, von dem zu lesen ist.

Ich habe immer gesagt, ich möchte in meinem Job mal so werden, wie er in seinem. Egal was passiert ist, er ist (fast) immer trotzdem noch motiviert über den Gang gesprungen, er hat nie den Glauben an seine Patienten verloren. Seinen Glücksbringer für die Dienste habe ich immer noch in jedem Dienst in meiner Brusttasche und er erinnert mich in jedem Dienst still daran trotz allem Überforderungserleben zu versuchen das für meine Patienten zu sein, was er für mich war.

 

In jedem Dienst am Start
 

So... - ich muss mich ausruhen. Heute Dienst, morgen Dienst, dann aber 24 Stunden... Und morgen Früh um 10 noch Oberarztvisite, wo ich doch eigentlich erst um 10 Uhr kommen muss, das geht sich irgendwie auch nicht aus. Da muss ich wohl früher los...

Mondkind

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