Von Triggern und Wut

„Wäre es möglich, dass Du mir das Crêpe – Gerät mitbringst?“ Eine ehemalige Freundin hat mir geschrieben. Mich gefragt, ob ich ihr das Crêpe – Gerät mitbringen kann, das ihr eigentlich gehört. Sie hat es irgendwann vor knapp zwei Jahren mal da gelassen. Eigentlich fand ich das von Anfang an nicht so super, weil ich keine Ahnung hatte, wie das wieder zurückkommen soll, aber sie meinte, sie kommt mich ja sicher wieder besuchen. Ist nie passiert, wir haben uns dann sehr gestritten. Kommt bei mir selten vor, aber was sie da abgezogen hat ging überhaupt nicht. „Ich komme mit dem Zug, ich kann es nicht mitbringen“, entgegne ich. Ein Nein, bevor ich nachgedacht habe. Kommt auch selten vor. Und dann spüre ich ganz viel Wut in mir.

Es erinnert mich. Sofort. Plötzlich ist Mai 2020. Mein letzter Besuch in der Studienstadt. Damals waren es die DVDs, die ich ihr mitbringen sollte. Die sie eigentlich nie bei mir lassen sollte. Die ich auch nie geschaut habe. Die Zeit war knapp damals in der Studienstadt und den ersten Termin den wir hatten, konnte ich einfach nicht einhalten. Dann haben wir noch einen gemacht. Donnerstagabend. Bevor ich Freitagfrüh fahren würde. Sie hat ordentlich Druck gemacht und ich hatte das Gefühl, dass ich ihr ja irgendwie ihr Eigentum wieder geben muss. Warum man ganz plötzlich ganz dringend eine Staffel Greys Anatomie braucht, weiß ich nicht, aber sie brauchte es.
Donnerstagmittag wurde der Freund aus der Psychiatrie entlassen. Sehr überraschend. Es war nicht geplant und wir hatten uns schon damit abgefunden, dass wir uns wegen COVID und der Besuchsregelungen nicht sehen werden, obwohl ich in der Stadt bin. Und er hatte die Idee, ob ich nicht noch spontan zu ihm nach Hause kommen und ihn besuchen könnte. Hatte ich vor, ja. Aber der ehemaligen Freundin abzusagen war ein unglaubliches Theater, sie hat immens viel moralischen Druck gemacht und im nein sagen, war ich ja noch nie gut.

Ich kann letzten Endes sagen was ich will – am Ende bin ich dafür zuständig meine Prioritäten zu setzen. Und dann habe ich dem Freund erklärt, dass das jetzt zwei Stunden vorher alles irgendwie ein bisschen knapp ist und ich an dem Abend nicht kann, aber ich ja in zwei Wochen wieder Urlaub habe und wir uns da sehen. Kurzzeitig hatte ich noch überlegt, ob ich nach dem Treffen mit der ehemaligen Freundin noch fahre, aber die Strecke ist nicht unbedingt ein Katzensprung mit den Öffis und es würde dann sehr spät sein.  

Nicht mal eine Woche später war der Freund dann tot. Die ehemalige Freundin weiß es nicht und ich sollte es ihr nicht sagen, dass ich die letzte Möglichkeit den Freund zu sehen damit verbracht habe, ihr ihre DVDs zurück zu geben – und die hätte ich mal irgendwie auch mit der Post schicken können. Ich kann ihr nicht wirklich einen Vorwurf machen – das soll an dieser Stelle klar gesagt sein. Und trotzdem frage ich mich was passiert wäre, hätte ich klar „nein“ gesagt. Zumindest hätte ich den Freund noch ein Mal gesehen, bevor er gestorben wäre. Wir hatten uns Pandemie – bedingt natürlich auch lange nicht gesehen. Vielleicht wäre er auch nicht gestorben. Denn – vielleicht ist das auch einfach nur meine allergrößte Angst, aber ein bisschen kannte ich ihn und konnte ihn doch auch spüren – für ihn war das glaube ich eine sehr schlimme Enttäuschung, dass ich da war und wir uns nicht gesehen haben. Er wollte es ja sogar noch irgendwie schaffen, dass wir uns Freitag in der Studienstadt auf dem Bahnhof sehen, aber dieses eine Mal bin ich über eine Nachbarstadt gefahren.

Das ist einer der wesentlichen Punkte von denen ich heute sage, dass sie ein Fehler waren. Ein Punkt, an dem ich mich frage, wie wichtig mir dieser Mensch wirklich war. Wenn ich es nicht geschafft habe, noch schnell ein Treffen zu organisieren. Wenn ich andere Dinge darüber gestellt habe – und wenn ich vielleicht auch nur zu müde zum Diskutieren war oder zu müde noch weit in eine benachbarte Stadt zu fahren, weil es mir selbst nicht so gut ging.
Und ich will mir nicht anmaßen zu glauben, dass ich seine Welt wirklich hätte retten können. Aber ich habe es nicht mal versucht. Vielleicht hätte auch ein minimales Schubsen gereicht, um ihn über diese Krise zu bringen. Oder, dass er gar nicht erst so tief rein rutscht. Vielleicht sind es manchmal solche „kleinen“ Dinge, die zwischen Leben und Sterben entscheiden.

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass für mich heute zwischenzeitlich mal Mai 2020 war. Und ich so unglaublich wütend auf mein Ich von Damals bin. Und wenn es nur unüberlegt oder faul war. Aber es hat gewaltig etwas verändert.Wie das Crêpe – Gerät jetzt zu ihr kommt, weiß ich noch nicht. Ich mag mich auch einfach nicht drum kümmern, nach allem was war. Aber ich muss. Am nächsten freien Wochenende, an dem ich auf die Post gehen kann. Also vielleicht... - in zwei Monaten... 

 


Und heute ist wieder einer dieser Tage, an denen ich ihn so unendlich doll vermisse. So ein Tag, an dem ich in jeden Menschen in der Ferne ihn hinein interpretiere und mich einmal kurz frage, was er hier macht. In denen ich seine Stimme in meinen Ohren fast hören kann.

Zusätzlich war ich heute zum Aushelfen auf der Station, auf der ich ab nächster Woche wieder arbeiten soll. Das Chaos ist nicht kleiner geworden. Lange Abende auf der Station – länger als sie ohnehin schon sind – werden wieder die Regel werden. Und gut genug wird es trotzdem nicht sein; das ist auf dieser Station einfach nicht schaffbar. Ob ich mittwochs noch zur Therapeutin gehen kann, weiß ich nicht. Und die potentielle Bezugsperson und ich werden sich auch nur noch sehr selten sprechen. Ich habe das schonmal alles gemacht. Ich packe das auch nochmal. Es fragt sich nur wie hoch der Preis ist in einer Welt, in der nichts besser werden kann. In der mir das Glück, das ich hätte fühlen können vor bald 15 Monaten durch die Finger geronnen ist.

 

Mondkind

 

Bildquelle: Pixabay

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