Was nach einem Jahr von der Entlassung geblieben ist

Ein Jahr.
Manchmal habe ich einfach das Bedürfnis zu rekapitulieren. Zu schauen, was in Erinnerung geblieben ist.

3. September 2020.
Es muss so gegen 11 Uhr sein. Ich sitze mit den anderen Mitpatienten auf der Dachterrasse der Psychiatrie. Es regnet, ist relativ kühl und wir rücken alle etwas unter dem Dach zusammen, damit niemand nass wird. Aus der Küche habe ich mir noch einen Kaffee ergattert. Mir ist klar, dass das hier gerade die letzte zwischenmenschliche Mitte ist, die ich für lange Zeit erleben werde.
Meine Koffer sind gepackt und stehen bei der Pflege im Zimmer, bereit für die Abfahrt. Ich habe schon ein junges Mädel über den Flur laufen sehen, die mein Bett bekommen wird.
Ich habe eigentlich keine Ahnung, wie es weiter gehen soll. Monatstag, Entlassung aus der Klinik, irgendwann heute Nacht werde ich im Ort in der Ferne ankommen, zwei Tage später wieder arbeiten gehen. Gefühlt habe ich zwei Monate zum größten Teil gegen Wände geredet. Ob man irgendwem einen Vorwurf machen kann, weiß ich heute nicht mehr. Ich glaube, bei einem so lebensverändernden Ereignis wie das was ich erlebt hatte, ging es erstmal nur ums Überleben. Ich hatte ja noch nicht mal richtig begriffen, dass der Freund gestorben ist und nie wieder zurückkommt. Nestschutz habe ich allerdings auch nicht so wirklich erfahren. Vom Außen wurde ich nur bombardiert mit der kritischen Frage, wie nah wir uns überhaupt standen und selbst vom Chefpsychologen wurde die Trauer angezweifelt.

„Mondkind kommst Du am Montag wieder zur Arbeit?“, fragen die Kollegen an diesem Morgen. Die Patienten sind mit einer Ärztin weniger auf der Normalstation kaum noch zu händeln, selbst mit voller Besetzung ist diese Station eine Katastrophe und Überstunden sind dort – mehr als auf irgendeiner anderen neurologischen Abteilung im Haus – die Norm. Ich sage zu, Montag wieder da zu sein. Zwar hätte ich mir gewünscht gesehen zu werden und noch ein bisschen bleiben zu dürfen, aber nachdem das Vertretungsteam an der Klinik auf das dort eigentlich arbeitende Team zurück gewechselt hatte, stand das nicht mehr richtig zur Debatte.

Die PJ – Studentin kommt auf die Dachterrasse. Möchte mich nochmal mitnehmen für ein Abschlussgespräch. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das Gespräch losging. Ich habe auf die Papiere gewartet und auf irgendein „Wir wünschen Ihnen alles Gute“, wobei mir natürlich zu dem Zeitpunkt klar ist, dass nichts gut werden würde. Stattdessen kommt irgendwann ein „Wir würden Sie gern nochmal auf eine andere Station verlegen.“ Es ist das erste Mal in diesem Gespräch, dass sich mein Puls etwas beschleunigt. Mit dem Angebot hatte ich nicht gerechnet, aber Lust woanders nochmal mit der Story anzufangen, habe ich auch nicht und mit dem Job ist ja nun auch alles geregelt. Denn wenn ich eine Sache gelernt habe in den letzten Wochen, dann ist es, dass das mit dem Depressionen mal die eine Geschichte ist, aber Angehörige eines an einem Suizid verstorbenen Menschen zu sein ist eine ganz andere Nummer. Wenige Minuten später wird aber klar, dass das nicht als Angebot gemeint ist. „Wir verlegen Sie erstmal zurück auf die geschlossene Station.“ Und auf meinen Einwand hin, dass ich gerne nach Hause möchte, heißt es: „Sie können das freiwillig unterschreiben, oder wir müssen den Richter anrufen“ und ganz demonstrativ nimmt die Stationsärztin ihr Telefon in die Hand.
Das ist der Moment, in dem die müde Mondkind aufschreckt. In der das Herz plötzlich anfängt zu rasen, in dem ich das Gefühl habe, dass mein Brustkorb zu eng für dieses Herz ist. In dem ich plötzlich begreife, warum neben mir eigentlich jemand vom Pflegepersonal sitzt.
Tatsächlich werde ich ein bisschen mutiger, als ich das von mir gewohnt bin. Ich kann nicht begreifen, dass man scheinbar all die Wochen schon wahrgenommen hatte, dass ich noch Unterstützung brauche, man das aber jetzt so löst. Ich erwähne, dass davon gestern nicht die Rede gewesen sei, dass man – wenn man in irgendeinem Gespräch gestern eine kritische Aussage hätte herausfischen können – gestern hätte handeln müssen und nicht mit 24 Stunden Verspätung. Ich frage nach der Begründung warum ich jetzt auf die geschlossene Station soll, warum man mich ausgerechnet jetzt für suizidgefährdet hält, wo ich doch gestern nichts gemacht habe außer brav meinen Koffer zu packen. Und dann erkläre ich, dass ich – eben weil ich es jetzt alles nicht verstehe – gern noch ein Gespräch mit der Oberärztin hätte, weil eine solche Entscheidung – insbesondere, wo es formal freiwillig, aber faktisch gegen meinen Willen läuft – eine oberärztliche Entscheidung ist.
Ich wundere mich über mich selbst. Darüber, dass die „erwachsene Mondkind“ innerhalb von Sekunden aufgewacht ist, die inneren Kinder das Feld räumen mussten und ich versuche, irgendetwas zu retten.

Ich werde raus geschickt, man müsse sich nochmal beraten mit viel Widerstand hat man scheinbar nicht gerechnet. Am Ende heißt es: Die Oberärztin habe keine Zeit, aber man habe nochmal mit ihr telefoniert (wer’s glaubt wird selig), aber ich müsse jetzt eben einfach erstmal auf die Geschlossene, den Rest könne man später klären und wenn ich das jetzt nicht tue, müsse man den Richter anrufen und dann würde es dauern.
Die Begründung ist sehr spannend: „Ja Frau Mondkind es kann ja sein, dass Sie nur ein paar Stunden auf der Station bleiben müssen, bis man das geklärt hat und dann können Sie ja auch gehen.“ Wie soll ich etwas klären, wenn ich nicht mal weiß, was mir vorgeworfen wird? Und abgesehen davon bin ich ja – was Krankenhauspolitik angeht – nicht ganz dumm. (Zwischendurch kam mir schon der Gedanke, dass die sich ganz schön was trauen mit einer ärztlichen Kollegin). Die komplette Verantwortung für meine Entlassung hängt dann auf einer anderen Station. Und dass die mich dann innerhalb von ein paar Stunden gehen lassen – never.
Aber merke: Das hat keinen Sinn. Die Psychiatrie kann halt auch mit Zwang arbeiten und in diese Fänge war ich geraten. Das muss der Freund auch erlebt haben. Wir sitzen in einem Boot. Nur in getrennten Welten. „Es kann sein, dass Sie das schon wieder als Vertrauensbruch wahrnehmen“, war die „beste“ und unpassendste Aussage der Pflege in diesem Gespräch. Ja, tue ich. Und gerade, innerhalb weniger Minuten, zerbricht wochenlange Arbeit von Herrn Kliniktherapeuten. Vertraue niemandem. Vertraue in keine sicheren Orte. Glaube nicht, dass irgendwer an Deiner Seite kämpft. Das „wir“ zwischen dem Freund und mir gibt es nicht mehr und ein anderes „wir“ kann es auch nicht geben. Es ist der Job der Menschen, ich spiele darin auf zwischenmenschlicher Ebene keine Rolle. Ich bin eine Fallnummer, die gerade Probleme macht.

Wenig später. Es regnet immer noch. Ich bin mit einer Pflegerin, die mich mit unter ihren großen Schirm genommen hat, auf dem Weg quer über das Gelände zur geschlossenen Station. Komisches Gefühl. Zu wissen, dass ich gerade noch frei bin (und für einen kurzen Moment kommt mir der Gedanke einfach los zu rennen – sie bräuchte sicher ein paar Sekunden um das zu realisieren, weil ich nie Randale gemacht habe), aber in wenigen Minuten die Türen hinter mir abgeschlossen sind. Aber das hätte auch keinen Sinn, dann hetzen sie mir die Polizei auf den Hals und dann wird es noch schlimmer.
Aufnahme. Genau so, wie vor acht Wochen. Alle spitzen Gegenstände oder Dinge von denen man meint, dass ich mir damit etwas antun könnte werden eingesammelt, dabei wird mal mein ordentlich gepackter Koffer durchwühlt. „Man hat Ihnen hoffentlich gesagt, dass Sie ein Flurbett bekommen“, merkt die Pflege irgendwann nebenbei an. Nein, hatte man nicht. Hätte aber auch nichts geändert.

Wenig später sitze ich auf einem Bett im Flur, um das man notdürftig ein paar Wände herum gestellt hat. Da aber niemand von dieser Station runter darf, geht es trotzdem zu, wie im Taubenschlag. Man bekommt alles mit. Auch Dinge, die man nicht mitbekommen möchte.
Spät am Nachmittag wird dann doch noch jemand entlassen, sodass ich in ein Zweibettzimmer komme. Die Mitpatientin kenne ich. Wenige Tage zuvor hatte sie versucht auf unserer offenen Station von der Dachterrasse zu hüpfen, jetzt hat sie schon zwei weitere Suizidversuche hinter sich, ist von oben bis unten mit Verbänden eingepackt und ich schaue in Augen, in denen sich so viel Schmerz spiegelt, dass es mir weh tut.

Auf dieser Station ist man andauernd mit Suizidalität konfrontiert. Es hält sich niemand an irgendwelche Regeln – weder an die Auflage mit Masken herum zu laufen, noch an Gesprächsregeln. Menschen erzählen, wie sie versucht haben sich umzubringen, Menschen versuchen sich umzubringen, Kaffeetassen fliegen durch die Gegend, Scherben kann man immer gebrauchen. Das Personal wirkt zwischen den Patienten teilweise komplett deplatziert, auffangen können sie das Wenigste. Sie rennen immer hinterher, die Katastrophen werden in meiner Zeit dort bemerkt, aber immer spät. Kühlpäckchen futternde Patienten sind da noch etwas harmloser, aber ich glaube dem Rettungsdienst ist diese Station bestens vertraut.
Und ich irgendwo dazwischen. Und mir ist klar: Ich muss hier weg. So schnell es geht. Hier werde ich exponentiell schnell kaputt gehen. Hier ist kein Ort zum Heilen. Hier werde ich brutal mit den seelischen Abgründen konfrontiert, die der Freund kurz vor seinem Tod erlebt haben muss.

Ich telefoniere mit einer Kollegin. Berichte, dass die Entlassung maximal schief gegangen ist. Sie ist Psychiaterin, versucht gerade den neurologischen Facharzt dazu zu machen. „Mondkind, wir machen jetzt mal einen Plan, wie wir Dich von dieser Station bekommen, da kannst Du nicht bleiben, da bist Du falsch. Also, es gibt Dinge, die musst Du Psychiatern sagen können und dann haben die keinen Grund mehr, Dich gegen Deinen Willen dort festzuhalten.“ Ich habs mitgeschrieben und würde es wohl auswendig lernen für die Visite.
„Und Mondkind, ich finde das ja total spannend, das mal aus Deiner Perspektive mitzubekommen. Was ist das überhaupt für eine Station? Bei Euch sind Kopfhörer und Schnürsenkel erlaubt…?“, fragt sie irgendwann entgeistert. Und irgendwie überlege ich mir kurzzeitig, ob ich die Kopfhörer zweckentfremden soll. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr hierfür. Ich muss doch seit dem Tod des Freundes so viel kämpfen, aber sich innerhalb von ein paar Stunden von einer geschlossenen Station zu kämpfen, ist wirklich ein schwerer Kampf. Und die Kollegin betont, dass man mich Montag auf der Arbeit braucht. „Sonst hätten wir Freitag einen Krisenstab mit dem Chef einberufen und einige Patienten für nächste Woche abbestellen müssen.“

Kurz nach 18 Uhr lege ich mich auf mein Bett. Ich habe so starke Kopfschmerzen, dass ich den Kopf nicht mehr aus dem Kissen heben kann, ohne dass mir schlecht wird. Die Augen brennen, ich kann kaum noch etwas sehen. Und irgendwann schlafe ich vor Erschöpfung ein. 


 

4. September
Freitag. Aufstehen darf man eigentlich, wann man will. Ich beschließe, noch kurz liegen zu bleiben. Wer weiß, was der Tag so bringt.
Der Morgen startet dann im Pflegezimmer. Blutdruck messen, Medikamente abholen. Mein Blick fällt auf die Ausgangsliste. „Kein Ausgang!!!“ lese sich hinter meinem Namen. Nicht mal in den Garten der geschlossenen Station. Als ich das Pflegezimmer wieder verlassen möchte, drückt mir die Pflege den Essensplan für die nächste Woche in die Hand, auf dem ich meine Wünsche ankreuzen soll. Meine Hoffnung heute gehen zu dürfen, schwindet etwas.

Und dann beginnt das Warten. Auf das Arztgespräch, das man mir am Morgen versprochen hatte. Der Oberarzt wollte eigentlich vorbei kommen – in dieser Woche hatte der sehr geschätzte Herr Psychiater die Station vertretungsweise – und in den wenigen Minuten würde alles sitzen müssen.
Zwischendurch telefoniere ich noch mit einer Freundin, die mich ermutigt, vielleicht doch nochmal die Gedanken zu Suizidalität zu teilen und irgendwie wusste ich ja zu dem Zeitpunkt auch nicht, wie das mit meiner Rückkehr in den Ort in der Ferne sein würde. Aber eigentlich bin ich dafür in einer denkbar ungünstigen Position auf der geschlossenen Station.

Ich habe den ganzen Tag latentes Herzrasen. Ich muss heute runter von dieser Station. Sonst klappt der Plan nicht, ab Montag wieder zu arbeiten.
Der Nachmittag schreitet immer weiter voran und ich tue etwas, das ich sonst eigentlich nicht mache – die Pflege dezent nerven. Aber es ist Freitag und wenn wir es heute nicht klären, bleibe ich das Wochenende hier. Unterdessen gibt es noch ein Gespräch mit dem Ergotherapeuten der Station von dem ich immer finde, dass er da nicht ganz hingehört. Und das ist eines der interessantesten Gespräche des ganzen Aufenthaltes. Er teilt mir mit, dass – seitdem wir uns das letzte Mal vor acht Wochen gesehen haben bei meinem ersten Aufenthalt auf der Station – seine Oma verstorben ist und er jetzt auch mit Trauer beschäftigt ist. Ich fühle mich so sehr gesehen und verstanden und irgendwie weicht das gerade die Grenze zwischen Personal und Patient auf und da sind einfach zwei Menschen, die sich über ihre Trauer austauschen und über eine gesellschaftliche Randposition.

Irgendwann kommt der Stationsarzt. Sagt, dass der Oberarzt nicht mehr kommt und wir nochmal reden müssen. Und dann ist auch mal endlich jemand so nett mir zu sagen, was man mir eigentlich vorwirft. „Ich habe Ihre Stationsärztin von der anderen Station heute Morgen auf einer Besprechung zufällig getroffen und da hat sie mir gesagt, dass Sie während des Aufenthaltes Tabletten gesammelt haben.“ Das ist ja interessant – warum hat man mich damit nicht konfrontiert? Wahrscheinlich weil man wusste, dass man einfach nur irgendeinen fadenscheinigen Grund brauchte, um mich auf die geschlossene Station legen zu können. Ich führe erstmal aus, dass das natürlich nicht stimmt. Bringe dann die Punkte an, die ich mit der Kollegin besprochen habe und verleihe meinen Aussagen punktuell Nachdruck. Ich habe einen Plan, wenn ich zurück komme, ich bin nicht alleine, ich gehe wieder arbeiten, bin in einem festen sozialen Gefüge aufgehoben, es gibt Menschen, die ein Auge auf mich haben. Es besteht keine Möglichkeit, dass ich ungesehen verschwinde und überhaupt habe ich ein hohes Verantwortungsbewusstsein meinen Kollegen und meinem Job gegenüber. Und natürlich bin ich nicht suizidal, weil ich gerade erst gespürt habe, was ein Suizid mit dem Umfeld macht, weil ich den Freund auf meinen Schultern tragen muss. Aber ich werde wahnsinnig, wenn ich hier noch länger bleiben muss und mir die Geschichten von den Suizidversuchen der anderen Menschen weiter anhören muss.
Er telefoniert nochmal mit dem Oberarzt. Und dann, nach knapp zwei Tagen auf dieser Station die erlösenden Worte: „Wir lassen Sie nach Hause gehen. Gegen ärztlichen Rat.“

Das Verlassen dieses Gebäudes und dieses Geländes, das so lange ein sicherer Ort war und ein Ort, an dem ich mich auch verbunden mit dem verstorbenen Freund gefühlt habe, weil wir hier viel Zeit verbracht haben, fühlt sich fast an wie eine Flucht. Schnell weg, ehe irgendwem noch etwas anderes einfällt. In dem Moment wird mir klar, dass ich mein Backup verliere. Ich werde diese Klinik als Patientin nie wieder betreten. Mit dem sehr geschätzten Herrn Psychiater habe ich seitdem nie wieder geredet, den Herrn Kliniktherapeuten nie wieder gesehen.
Ich schreibe erstmal meinem Oberarzt, dass ich wieder ein freier Mensch bin. „Hy [Mondkind], gratuliere“, ist die Antwort.
Eigentlich war der Plan immer bevor ich zurück fahre, nochmal die Innenstadt zu sehen. An die Orte zu gehen, an denen der Freund und ich waren. Ich habe mich eigentlich durchgehend nicht dafür bereit gefühlt, aber ich würde irgendwann müssen. Daran war aber natürlich nicht mehr zu denken. Ich musste los, weg von diesem Ort.
Mitten in der Nacht sind wir über leere Autobahnen gebrettert. Zurück in die Ferne. In die Ungewissheit. Von dem Plan, dem ich den Stationsarzt erklärt hatte, stimmte nicht mal die Hälfte. Ja, ich hatte einen Job. Aber das war es auch schon. Kein sicheres Umfeld. Eine leere Wohnung. Viel Alleinsein. Eine potentielle Bezugsperson, zu der die Beziehung nach dem Tod des Freundes sehr gelitten hatte. Das war die Realität.

Seitdem brennt jeden Morgen und jeden Abend eine Kerze auf diesem Tisch. „Teelichte“ ist ein sich immer wiederholender Punkt auf meiner Einkaufsliste. Und ich bin schon öfter vom Weg auf die Arbeit umgedreht und habe kontrolliert, ob ich wirklich die Kerze ausgepustet habe.
Ich versuche immer noch zu verstehen, was mit dem Freund passiert ist, rechtfertige mich ständig für uns, trage ihn auf meinen Schultern durch mein Leben.

Während wir vor einem Jahr über die leere Straßen gefegt sind in Richtung des Ortes in der Ferne, fege ich heute Nacht durch den Campus. Nachtdienst. 

Ich war so glücklich in dieser Nacht den Ort in der Ferne wieder sehen zu dürfen

 

Es hat lange gebraucht, diese Erlebnisse irgendwie einzuordnen und zu verarbeiten. Erst wollte ich überhaupt keine Menschen mehr sehen, die irgendetwas mit Psychologie zu tun hatten. Irgendwann hat mich mein Oberarzt einfach zum Chef von der Psychosomatik hier im Ort geschickt. Er sollte sich das anhören und Vorschläge machen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viel Herzrasen ich gehabt habe auf dem Weg den Berg hinab in die Klinik bei uns am Kurpark. Ich habe bis heute Angst vor einer Wiederholung dieses Desasters. Dieser Termin war okay zum Wiedereinstieg, viel gebracht hat er allerdings auch nicht. Im Februar diesen Jahres durfte ich dann in einen Nachbarort, um mit einem anderen Chef zu reden. Diesem Menschen bin ich wirklich unendlich dankbar. Es hat sich ein bisschen angefühlt, als habe man einer zutiefst misstrauischen Mondkind die Hand ausgesteckt und ganz vorsichtig gewartet, bis die Mondkind bereit ist, sie zu nehmen. Um dann den Schmerz anzusprechen, den man auf dem Boden einer Mondkindseele sieht; unverblümt anzumerken, dass man das tiefe Misstrauen spürt, aber dass man bereit ist, mit einer Mondkind zusammen Lösungen zu finden. Dass das Psychotherapiesystem mal grundsätzlich für die Mondkind und nicht gegen sie kämpft. Und, dass das mit der Suizidalität, die man auch in einer Mondkind gespürt hat, zwar ein heißes Eisen ist, aber dass das Ansprechen dieses Themas nicht den sofortigen Kontrollverlust bedeutet. Er hat mir signalisiert, dass man grundsätzlich spürt, dass ich Hilfe brauche – und zwar zeitnah – und dass der Balanceakt der letzten Monate sicher mutig und kräftezehrend war, aber dass ich jetzt nicht mehr alleine damit sein muss.
Und so bin ich dann über Umwege bei seiner Frau gelandet, die nicht ganz so gut ist wie er. Jetzt, wo sie krank ist, fehlt mir mein wöchentlicher „Mittwochs – Ort“ aber doch. Und wahrscheinlich hatte ich genau davor Angst – wieder eine gewisse Abhängigkeit in diesem System zu spüren.

Auch hinsichtlich eines weiteren Klinikaufenthaltes gibt es Ideen. Mein Oberarzt und der Chef stehen – wie ich gehört habe – hinter mir. Mit dem Chef muss ich aber erst noch reden. Es sei wohl möglich, wenn die neuen, seit Monaten versprochenen Kollegen kommen und man somit die Lücke einer Mondkind geplant abfangen kann. Dazu muss aber erstmal die Therapeutin wieder gesund werden, damit sie das anbahnen kann und der Chef muss zurück aus dem Urlaub sein.
Diesmal soll es eine Psychosomatik hier in der Nähe werden mit einem ganz anderen Therapiekonzept. Ich fühle mich immer noch nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken an die Klinik – mir macht das sehr viel Angst. Aber gerade in den letzten Wochen höre ich wieder oft von meinem Oberarzt: „Mondkind, das ist alternativlos.“ Denn wenn ich ehrlich bin, waren sie anstrengend, die letzten Wochen. Ich habe wenig geschlafen und wenig gegessen, ich soll mich bemühen nicht noch schmaler zu werden, habe ich letztens vernommen. Und dabei ist es nicht mal so, dass ich nicht essen mag, aber mein Magen rebelliert einfach. Ich weine viel, bin viel zu müde, manchmal ist selbst normal laut zu sprechen anstrengend. Ich habe viel Angst, ich spüre viel Anspannung, es ist so etwas Undefinierbares. Dezember ist der veranschlagte Start unsererseits für die Klinik, dann wäre ich gleich sicher über Weihnachten und den Jahreswechsel.
Ich bin gespannt. Ob ich das wirklich nochmal machen werde. Aber ich spüre auch, dass es schwierig ist so und selbst der Dezember als der Zeitpunkt bis zu dem durchgehalten werden muss, sich sehr weit weg anfühlt.

Mondkind

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