Vom Job und der Stille
Es ist schon dunkel, als ich den Berg hinter der Klinik hinab zum Kurpark zu meinem Fahrrad laufe. Und mir Gedanken mache. Über ein seltsames Phänomen.
Gestern war es ein Jahr her, dass ich nach dem Tod des Freundes wieder
angefangen habe zu arbeiten. Und ich weiß noch, wie ich damals im weißen Kittel
– die erste Zeit war es mir wichtig ihn zu tragen, mittlerweile mache ich es
schon länger nicht mehr – über den vierten Stock der alten Neurologie gefegt
bin und mir in den Sinn kam, wie privilegiert ich bin, dass ich einfach so
wieder die Seiten wechseln kann. Von der – zuletzt unmündigen Patientin –
zurück in die Rolle der Ärztin.
Ich bin damals zurück gestolpert in den Job. Das war alles nicht so
wirklich geplant gewesen. Irgendwann in der Therapie hatten wir mal besprochen,
dass das mein letzter Versuch wird. Wenn ich nochmal an der Medizin scheitere,
dann mache ich etwas anderes.
Manchmal frage ich mich, ob ich glücklich oder verzweifelt gewesen wäre, hätte ich damals eine Glaskugel gehabt in die ich hätte schauen und sehen können, was sich in einem Jahr bewegt. Und wie groß die Gegensätze auf einer beruflichen und privaten Ebene sein werden. Das Problem der ersten Dienste war damals immer noch nicht gelöst. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, die in allzu ferner Zukunft zu machen. 12 Monate später stehe ich hier, habe ein halbes Jahr lang Tag für Tag in der Notaufnahme gearbeitet und mache mittlerweile im neunten Monat Dienste. Ich bin immer noch sehr gestresst und manchmal ist mir einfach nach Weinen zu Mute, weil ich mich so überfordert fühle, aber bisher ist nach jeder Nacht irgendwie wieder Tag geworden.
Heute hatte einer unserer Oberärzte Geburtstag. Ich bin als mittags
rüber auf die Nachbarstation gelaufen, damit ich ihm zusammen mit den anderen
Kollegen die sich beteiligt haben, ein kleines Geschenk überreichen konnte. „Mondkind,
Dein Oberarzt gibt Dich nicht mehr her“, sagte er dann irgendwann. „Ich habe
versucht Dich in die Notaufnahme zu holen nächste Woche, das wollte er nicht.
Und auf die Normalstation wollte er Dich auch nicht abgeben. Also musst Du Dich
noch ein bisschen von ihm stressen lassen.“ Heute ist es eine Katastrophe auf
der Stroke Unit. Der Dienstplan weist mittlerweile einige Lücken auf, die man
irgendwie im Lauf des Monats noch spontan füllen muss und das spiegelt genau
unsere desaströse Personalsituation wieder. „Mondkind Du hattest keine
Mittagspause heute; komm mit und hol Dir mal ein Stück Kuchen, ich habe welchen
mitgebracht.“ Er schnappt mich und noch eine andere Kollegin, die in der
Ambulanz arbeitet und zusammen tigern wir zum Pausenraum der Oberärzte, Chefs
und unserer MTA aus dem Ultraschall. Und natürlich sind wir beide höflich und
bleiben noch kurz sitzen, bis die Kollegin sagt: „Ich glaube wir müssen mal
Briefe schreiben.“ Und das war noch nicht mal gelogen.
Unlängst später bin ich mit einer Patientin im Haus unterwegs, die ich
mit Hilfe eines auch notärztlich tätigen Kollegen sediert habe. Nur so lässt
sie sich irgendwie händeln und deswegen klappere ich gerade mit einem Kollegen
aus der Pflege in Rekordgeschwindigkeit und der schlafenden Patientin die ganze
Diagnostik ab, die wir noch machen müssen. Irgendwann kommen wir im Ultraschall
an. „Mondkind, die Oberärzte und Chefs haben vorhin, als Ihr beide schon weg
wart, noch ein bisschen weiter geredet. Und da haben sie Dich wirklich sehr
gelobt und gesagt, dass Du mittlerweile mit eine der besten Assistentinnen
bist. Scheinbar sagt Dir das nur Keiner.“ Ich bedanke mich, dass sie es mir
sagt. Bewusst war es mir nicht.
Und dann denke ich nochmal zurück an die Zeit vor einem Jahr. Auch
damals habe ich schon in der Therapie besprochen, dass ich – um persönlich
weiter zu kommen – mal zurück in die Innenstadt der Studienstadt müsste, die
Plätze sehen müsste, die wir einst zusammen besucht haben. Ich müsste auch mal
bei seiner Mutter vorbei fahren, das erste Mal mit ihr zum Grab des Freundes
gehen.
Während alles, zu dem ich mich gezwungen gefühlt habe in den letzten
12 Monaten gut funktioniert zu haben scheint, bin ich selbst mal wieder auf der
Strecke geblieben. Ist das „wir“, das wir einst hatten, auf der Strecke
geblieben. Irgendwie hangle ich mich von Tag zu Tag, denke jeden Tag, dass ich
auch noch morgen darüber nachdenken kann, wie man das organisieren müsste.
Diese Orte zu besuchen würde ein Ende bedeuten von etwas, das nicht enden soll.
Aber viel mehr als das, habe ich Angst davor. Ich bereue es sehr, dass ich es
letztes Jahr in der Klinik so lange aufgeschoben habe. Dass die Entlassung so
desaströs wird und ein Besuch „unserer“ Plätze in der Stadt so ziemlich das
Letzte ist, an das ich dann noch denken werde und was organisatorisch noch
machbar sein wird, konnte ich nicht wissen. Aber ich hätte es schon Wochen eher
machen können, als ich noch therapeutische Unterstützung und die Klinik im
Hintergrund hatte. Ich bin nie so sehr zusammen gebrochen wie an dem Morgen, an
dem ich erfahren habe, dass er gestorben ist. Und vor die Endgültigkeit
gestellt zu werden, dass wir nicht mehr Hand in Hand die Orte von Damals
besuchen können, stelle ich mir genauso schlimm vor. Ich weiß nicht, wie ich das
überleben soll, wenn mich niemand halten kann. Und es ist nicht so, als hätten
nicht ehemalige Mitpatienten, die mittlerweile doch etwas wie vorsichtige
Freundschaften in einer neuen Welt geworden sind, ihre Hilfe angeboten. Aber
ich traue denen und mir die Situation einfach nicht zu.
Es ist so dieses alte „Mondkind – Leben“. Was gehen muss, das geht schon irgendwie. Aber mehr… - mehr auch nicht. Und am meisten bleibe ich dabei selbst auf der Strecke. Ich bin dankbar, dass der Job so gut klappt. Aber ich würde mir so sehr wünschen, dass ich einmal so viel für mich selbst schaffe.
„Mondkind“, hält mein Oberarzt mich heute Abend auf, „ich wüsste nicht
was ich gemacht hätte, wenn Du heute noch zur Therapie gegangen wärst.“ Ich lächle
nur müde. Ich weiß nicht was ich mache, weil die Frau scheinbar langfristig
nicht da ist. Auch wenn das natürlich die Wenigsten interessiert.
Das Helfersystem ist ziemlich in sich zusammen gefallen. Was mit der Therapeutin
wird, weiß keiner. Die potentielle Bezugsperson ist eben die potentielle
Bezugsperson. So tendentiell Sinuskurve. Und der Seelsorger. Eigentlich hätten
wir nächste Woche einen Termin, aber weil wir unseren lückenhaften Dienstplan
irgendwie füllen müssen, musste ich da spontan Spätdienste übernehmen. Also
habe ich ihn schon Montag gefragt, ob wir den Termin verschieben können – zum Beispiel
auf vor dem Spätdienst. Er hat es gelesen, aber eine Antwort habe ich nicht. Er
ist immer sehr pikiert, wenn er den Eindruck bekommt, dass er eben nicht die
oberste Priorität ist. Eigentlich ist mir mein Helfersystem schon wichtig, aber
leider gibt es auch den Job. Ich befürchte, das wird also auch nichts. Und mehr
bleibt nicht mehr so richtig. Die alte Therapeutin in der Studienstadt könnte
ich nochmal fragen.
Überhaupt… - Therapie. Letztens war mal Thema, dass Therapie immer den
Status quo aufrecht erhalten hat. Das waren nie echte Fortschritte und Therapeuten
waren immer ein bisschen Elternersatz für mich. Stimmt. Kann ich nicht in
Abrede stellen. Weil das so sehr gefehlt hat, dass man erstmal die drängendsten
Grundbedürfnisse irgendwie ein bisschen flicken musste, damit ich überhaupt
lebensfähig bin. Wahrscheinlich würde ich ohne die jahrelange Unterstützung
nicht mehr leben. Aber gereicht um langfristig glücklich zu werden, hat es
nicht.
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Der Campus in den Abendstunden |
Mittlerweile bin ich zu Hause angekommen. Schließe die Tür auf. Schaue
in die Dunkelheit. Ich schalte das Licht im Flur ein und sehe, wie eine Spinne
an der Decke sich gestört fühlt. Die Schlüssel hänge ich an den Haken, die
Tasche stelle ich vor der mittlerweile geschlossenen Wohnungstür ab, wo sie bis
morgen früh stehen bleiben wird.
Gelegentlich denke ich schon mal nach, welche Momente ich in diesem
sehr stillen Sommer am Ende des Jahres als die leuchtenden Erinnerungen im
Jahresabschlussblogpost erwähnen werde. Und jeden Abend, wenn ich nach Hause
komme, dann kommt mir ein Moment in den Sinn. Es war ein Abend bei der
potentiellen Bezugsperson. Ganz am Anfang des Sommers. Ende Mai oder Anfang
Juni. Ich bin samstags rüber geradelt, wir haben uns ein bisschen um die
Tomaten gekümmert und anschließend draußen gesessen und zu Abend gegessen. Und
während am Horizont über den Feldern die Sonne unter gegangen ist und die
Flugzeuge weiße Streifen in den orange – roten Himmel gemalt haben, saßen wir dort
nach dem Essen noch kurz. Weil es kalt wurde hat jeder eine Decke bekommen in
die er sich einwickeln konnte und es war ein unglaublicher Frieden in mir. So
geborgen in einer zwischenmenschlichen Mitte bei einem so wunderschönen
Sonnenuntergang. Eigentlich ist das Glück einer Mondkind so einfach.
Und während ich an die Momente von damals denke und schon fast auf dem
Weg zur Dusche bin, spüre ich heute, dass die Seele weh tut. Wie die meisten
Abende.
Und wie so oft in letzter Zeit frage ich mich, wofür es sich lohnt.
Ein Durchhalten für die wenigen guten Momente bringt so unglaublich viel
Anstrengung und Schmerz mit sich. Einen Zukunftsplan gibt es nicht mehr. Nach
allem. Und nachdem ich mich innerhalb eines Jahres auf privater Ebene nicht
einen Zentimeter bewegt habe. Was bringt es nützlich für ein Krankenhaus zu
sein, wenn einem selbst nichts mehr geblieben ist? Was bringt es für die
wenigen hellen Augenblicke all den Schmerz im Herzen auszuhalten? Und manchmal
muss ich mich sehr doll daran erinnern, dass ich doch die Erinnerungen zwischen
dem Freund und mir noch in die Welt hinuas tragen wollte. Und dass die
wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass ich überlebe.
Mondkind
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