Vom Verlorensein und Reiseplanung

Die Fälle im Dienst in der Nacht waren sehr schwierig. „Du hast nichts falsch gemacht“, sagt der Chef in der Frühbesprechung. „Mondkind, was haben wir zum Thema Lyse unter Marcumar gelernt? Du hättest die Lyse nicht abbrechen sollen“, sagt mein Oberarzt eine Stunde später, als wir die Patienten vor der Visite besprechen. Und wenn man noch drei Leute hört, wird man noch drei Meinungen bekommen. Ich weine viel in der Nacht, weil mir da schon klar ist, dass der Fall am Morgen Wellen schlagen wird. Aber ich weiß auch nicht, wie ich es besser hätte machen können.

Nachts um Zwei habe ich mich irgendwann kurz aufs Bett gelegt. Eigentlich musste ich noch Briefe schreiben. Aber ich konnte nicht mehr. Mein Hirn ist fast zersprungen, mein Herz ist gerast und ich habe nur noch Panik in mir gespürt. Und manchmal… - manchmal glaube ich der Freund sitzt irgendwo weit über mir und passt auf. Hält manchmal die Hand schützend über mich und erklärt dem Schicksal, dass es auch mal irgendwann reicht. Das Telefon klingelte bis halb sieben nicht mehr. Und ich wache bis dahin nicht mehr auf. Zwar fühle ich mich immer noch nicht ausgeruht, aber mein Herz schlägt nicht mehr ganz so schnell und die Kopfschmerzen sind etwas besser.

Am Morgen kommt noch ein Wake – Up – Stroke. Ein Mensch, der auch einen Shunt im Kopf hat und die Radiologen von einem Missmatch – MRT – zu überzeugen, ist schwierig. Ich sollte schon in der Frühbesprechung sitzen, als ich gerade mal über die Station gerast bin und noch einmal quer über den Campus musste. Zwischendurch hat mich mein Oberarzt angerufen. „Mondkind wo bleibst Du?“ „Ich bin unterwegs“, habe ich entgegnet, kam ein paar Sekunden später völlig außer Atem in der Frühbesprechung an und durfte dann auch noch berichten. Mit der Maske reichte die Luft nach dem Sprint kaum zum Atmen, geschweige denn zum Reden. Aber der Chef hat mich nicht verbal geköpft nach der Nacht und das ist schonmal viel wert.

Am Dienstag werden es acht Dienste innerhalb von 21 Tagen gewesen sein. Zusätzlich habe ich die halbe Stroke Unit an den Hacken gehabt, teilweise eher sozialmedizinische Fälle oder so dekompensierte Parkinson – Patienten, dass sie auf einer IC – Station betreut werden müssen. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Ich versuche immer nett und höflich zu sein, aber gestern ist mir das – als die Pflege fünf Minuten vor meinem Dienstbeginn noch drei Anmerkungen hatte und der Oberarzt mit mir noch einen Patienten visitieren wollte – mal kurzzeitig nicht mehr gelungen. „Mondkind, Du musst dienstfähig bleiben“, ist alles, was mein Oberarzt dazu zu sagen hat. Ja Herr Oberarzt, das ist aktuell die einzige Priorität in meinem Leben seit vielen Monaten, falls das noch nicht aufgefallen sein sollte.

Später Vormittag. Zu Hause. Endlich. Und endlich dürfen die Tränen ungesehen geweint werden. Ich weiß nicht, ob ich alles gemacht habe. Wirklich nicht. Aber ein Kollege hat jetzt alle Patienten von mir, außerdem ist Oberarztvisite. Die Patienten sind versorgt. Es wird höchstens bei jedem zweiten Patienten heißen: „Warum hat sie nicht…?“
Das Leben um mich herum erscheint weit weg. Meine Fahrradreifen drehen sich durch das erste Herbstlaub des Jahres. Der Sommer ist vorbei. Der stillste Sommer. Selbst das winzige bisschen Leben, das ich irgendwann mal hatte, ist längst Geschichte. Die Zeiten des Pendelns zwischen den Welten, zwischen der Studienstadt und dem Ort in der Ferne hat es lange nicht gegeben. Es gibt keine Pläne mehr für ein Wiedersehen, weil dieser Mensch, der das Herz mal gewärmt hat, nicht mehr da ist. Es gibt nur noch die Frage: „Besteht man in diesem Job…?“

Ich schaue in meine Mails. Ich habe der Frau Therapeutin mal vor einiger Zeit geschrieben. Einfach so ins Blaue. Mal schauen, ob sie es überhaupt noch liest. Ich habe sie gefragt, ob ich nicht vorbei kommen kann, wenn ich das nächste Mal in die Studienstadt fahre. Damit ich irgendwie das Gefühl habe mitten in all diesem Chaos, das es vielleicht werden wird, wenn ich die Plätze besuche, an denen es noch ein „wir“ gab, einen Anker zu haben. Ein kurzes „Stehen Sie einigermaßen sicher?“, bevor ich zurück reise. Und wenn ich Glück habe, wird allein das Wissen, dass es diese Frage geben wird, für ausreichend Sicherheit sorgen.
Ich darf vorbei kommen, wenn ich in der Nähe bin, schreibt sie. Wir müssen halt nur schauen, wie es dann terminlich passt. Eigentlich habe ich gehofft, dass ich im Oktober eine Woche Urlaub bekomme. Und die war auch schon längst beantragt, aber irgendwie steht jetzt für zwei Tage doch ein anderer Kollege drin. Selbst der dienstplanverantwortliche Oberarzt hat schon festgestellt, dass ich eigentlich eher drin stand und wer mich raus gestrichen hat, weiß keiner, aber der andere Kollege behauptet schon eine Reise geplant zu haben. Dafür soll ich dann Anfang November noch ein paar Tage bekommen, was aber weniger Tage werden als es aussieht, da ich Sonntagnacht noch Dienst habe. Da kann man frühestens Dienstag fahren.
Jetzt kann ich also sowohl der Mutter des Freundes als auch der Therapeutin mal beide Termine vorschlagen und dann müssen wir uns koordinieren. Aktuell würde ich lieber im Oktober in die Studienstadt und im November den Freund besuchen. 

Coming soon...

Der Gedanke daran überfordert mich schon jetzt. Es ist irgendwie eine Mischung aus Sehnsucht, fast ein bisschen Vorfreude, Traurigkeit und irgendwo die im Hintergrund schwelende Vorahnung, dass mir noch nicht klar ist, was das dann alles bedeutet. Ich werde zurückkommen in die Stadt. Nach anderthalb Jahren. Die Orte besuchen, an denen wir gemeinsam waren. Und wieder meiner Therapeutin gegenüber sitzen, die ich seit 2015 kenne und seit dem Drama um den Freund nicht mehr gesehen habe. Als ich ihr das letzte Mal gegenüber saß wusste ich nicht, dass ich ein Stück weit ein anderer Mensch war, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und dass ich mir in meinen allerschlimmsten Alpträumen nicht hätte ausmalen können, was alles passiert. Das war weniger als eine Woche bevor der Freund gestorben ist. Und ich sehne mich auch sehr danach, noch ein Mal die Sicherheit der Ambulanz zu spüren.
Wenn ich das nächste Mal in die Studienstadt fahre, werden viele Kreise sich schließen. Vielleicht wird es ein Abschied von diesem alten Leben, der längst überfällig ist. Mit dem Leben danach habe ich mich noch nicht angefreundet, aber das alte Leben noch mal zu besuchen stelle ich mir neben der Traurigkeit, die ich schon jetzt spüre, auch sehr friedlich vor. Noch ein Mal nachspüren was es war.

Wir haben Dienstpläne gemacht. Gestern. Oder eher… - die anderen haben Dienstpläne gemacht, ich kam gestern erst zum Dienst und die anderen haben es direkt nach der Frühbesprechung gemacht. Ich habe wieder zwei Sonntagnacht – Dienste abgestaubt… Fair ist das nicht. Und einen Mittwochsdienst. Nächste Woche helfe ich auf einer anderen Station aus; da ist Mittwochnachmittags Chefarztvisite. Die aufmerksamen Leser und Euch werden wissen, dass mittwochs irgendwann mal Therapie war. Man vergisst das langsam. Meine Mittwochs – Atempausen. Ich glaube auch nicht, dass die nochmal zurück kommen. Selbst wenn die Frau wieder gesund wird, wird es wieder ein langer Kampf werden um etwas, das nach viel Diskussion doch schon etabliert war. Und ich kann nicht mehr gerade. Also geht es mit der Therapie nächsten Mittwoch nicht von meiner Seite und was die Woche danach wird…

Ich weine schon den ganzen Nachmittag hier. Mich überfordert das alles so sehr. Die einzige hier vor Ort noch verfügbare Person – die potentielle Bezugsperson – ist sicher gerade nicht gut auf mich zu sprechen nach meinem Eiertanz mit der Patientin heute Nacht. Ich muss ihn in Ruhe lassen. Es wird irgendwann Gras drüber wachsen, aber das dauert jetzt. Außerdem haben wir ja gehört: „Mondkind, Du musst dienstfähig bleiben.“
Ich hoffe, ich schaffe es, mich heute und morgen ein bisschen auszuruhen. Sonntag ist „nur“ Visitendienst, Montag der nächste 24 – Stunden – Dienst.
Ich kann einfach nicht mehr.

Mondkind

Kommentare

  1. Hey M., das oberste Ziel im Leben kann nicht die Dienstfähigkeit sein. Und 8 Tage innerhalb von 21 Tagen - schaut da mal der Marburger Bund drüber? Du stilisierst den Ort in der Ferne und deine Bezugsperson (aus persönlichen, nachvollziehbaren Gründen!) zu einem sicheren Hafen, aber, sorry, die Arbeitsbedingungen sind zu scheiße, als dass du unter ihnen die Zeit hättest, in deiner Freizeit zu heilen.

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    1. * Dienste statt Tage.

      Der Oberarzt kann nicht gleichzeitig deine emotionale Bezugsperson sein. Es war fahrlässig von ihm, eure Beziehung so zu gestalten, denn letzten Endes ist er dein Vorgesetzter in diesem Hamsterrad. Die Dienstplanung, die Belastung - es gibt auch in Neuro andere Orte. Die Möglichkeit, auf Teilzeit zu reduzieren. Einen Tag in der Woche nur für sich zu haben, ohne Wenn und Aber.

      Du musst es jedoch wollen. Du drehst dich seit Arbeitsbeginn in der gleichen Schlafe mit all deinen Traumata, die gehört und bearbeitet werden wollen; zuletzt noch verschlimmert durch den Tod deines Freundes. Und man sagt dir wieder und wieder, dass der Ort in der Ferne und auch der Oberarzt dir nicht das geben kann, was du brauchst. Jeder Eintrag, besonders im Z.n. Dienst, macht das deutlich, das musst du auch erkennen.

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    2. Guten Morgen,

      Danke erstmal für die Worte.

      Ich muss echt sagen, zwischendurch dachte ich mal, ich kriege das schon irgendwie hin. Eine zeitlang lief es mit dem Oberarzt ganz gut, die Dienste waren einigermaßen okay, in der Therapie lag vielleicht die kleine Hoffnung, dass mich das minimal stabilisiert. Aber irgendwann kam meine Basilaristhrombose (ein anderer OA meinte, dass das immer das ist, vor dem alle Angst haben und was man vielleicht in der Dramatik ein Mal in seiner Karriere erlebt...) und hat mir gezeigt, dass Dienste grundsätzlich komplett aus dem Ruder laufen können, dass aus dem Nichts Katastrophen passieren und Menschen halt auch einfach sterben. Seitdem ist jeder Dienst wieder ein Drama für mich. Dann wurde die Personalsituation immer katastrophaler, zuletzt war es mit dem Oberarzt auch nicht einfach und dann ist auch noch die Therapeutin krank geworden.

      Ich bilde mir immer ein, dass man das schon in den Griff bekommt, wenn sich zumindest an einer Stellschraube irgendetwas ändert. Wenn endlich die seit langem versprochenen, neuen Kollegen kommen und es weniger Dienste gibt. Wenn die Therapeutin vielleicht wieder gesund wird, sodass ich zumindest mal einen sicheren Ort in der Woche habe. Wenn der Oberarzt und ich das vielleicht wieder besser hinbekommen.

      Die Frage ist: Wird irgendetwas davon passieren? Und wenn nicht, wo soll ich dann hin? Zurück in die Studienstadt? Obwohl ich mich jetzt anderthalb Jahre nicht getraut habe, dorthin zu fahren? Ist das gut an einem Ort zu sein, auf dessen Straßen so viele Schatten liegen? Oder ganz woanders hin? Aber hier war das ja schon so, dass so ein bisschen ein Nest auf mich gewartet hat - das kann ich von anderen Orten in Deutschland jetzt nicht so unbedingt behaupten. Und wie kann ich einen der letzten Menschen, der nah an meinem Leben dran ist, her geben? Gut, das bringt in letzter Zeit alles nicht so viel, ist eher kontraproduktiv, aber das ist ja auch nicht immer so.

      Und dann braucht man für Veränderungen immmer eins: Kraft und Mut. Das ist wahrscheinlich nicht ohne Grund so, dass die größten Veränderungen aus der Psychiatrie heraus passiert sind. Nachdem ich ein paar Wochen Zeit hatte um Kraft zu sammeln und wusste, dass ich eine ganze Station hinter mir stehen habe. Für die ich zwar nur Patientin bin, aber das war das sicherste Netz, das ich bauen konnte. Mehr ging nicht in meiner Situation.

      Wo ich Dir aber Recht geben muss: Es geht so nicht mehr sehr lang weiter. Vielleicht sollte ich auch einfach mal irgendwann einsehen, dass die Medizin und ich keine Freunde mehr werden in diesem Leben.

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