Psychosomatik #18 Noch

Die Zeit hier neigt sich dem Ende.
Sehr eindeutig.
Fast kann man schon die Stunden zählen. Bis zur Abreise.
Heute ist einer der wenigen Tage, in denen ich beim Schreiben mal aus dem Fenster schaue und der Himmel blau ist.

Ich denke daran, wie sehr ich wochenlang gehofft habe, dass ich es bis zur Klinik überlebe. Dass ich diese Erfahrung noch mitnehmen darf. Dass ich nochmal ein bisschen atmen darf. Dass ich mich nochmal spüren darf, bevor ich wieder nicht mehr weiß, wie es weiter geht.
Ob ich das Versprechen halten kann, jeden guten Moment für meinen Freund mitzuerleben, weiß ich nicht. Es geht auch immer ein bisschen darum, das Repertoire von Erfahrungen nochmal etwas auszubauen. Damit ich am Ende das Gefühl bekommen könnte, dass es sich zumindest ein bisschen gelohnt hat. Das lange Durchhalten.

Ich genieße am Morgen ganz bewusst meine letzte Kerngruppe. In der ich den 19 – Monate – Brief für meinen Freund vorlesen darf. Ich bin bewegt und berührt, als hinterher einige Menschen die Taschentücher zücken. Und davon sprechen, dass man die Liebe zwischen den Zeilen spürt.
Unangenehm und auf gleiche Weise berührend ist es auch, als die Cotherapeutin mich in die Mitte des Raumes stellt und alle anderen Gruppenmitglieder drum herum gruppiert. Ich soll nochmal Zugehörigkeit spüren. Ohne Leistung erbringen zu müssen. Es gibt Menschen, die sind in Systemen aufgehoben – sei das in der Familie oder bei Freunden und ich höre solchen Menschen echt gern zu beim Reden. Ich bin das nicht und das wird sich auch so schnell nicht ändern, vermute ich.
Und am Ende wollen sie noch, dass ich ein bisschen wütend auf meine Arbeitssituation werde, aber das gelingt nicht.  

 

Letztens auf einem Spaziergang...

Ich schreibe bestimmt nochmal einen Klinikrückblick. Wenn ich wieder zu Hause bin und bevor ich wieder arbeiten gehe – also am Ende der Woche mutmaßlich. Aber ich habe hier tolle Menschen kennen gelernt. Die ich gern noch ein wenig behalten würde, aber es geht natürlich nicht.
Und langsam wird mir auch klar – was ich hier natürlich nicht laut aussprechen darf – dass das sichere Überleben vorbei ist. Ab März warten wieder Dienste auf mich, dann kann jeder Dienst in dem etwas falsch läuft, ein potentielles Ende sein.

De facto weiß ich nicht, ob ich das dieses Jahr erleben kann, dass die Bäume wieder grün werden. Ich spüre langsam schon wieder diesen Schmerz dahinter. Dass ich gern ein anderes Leben hätte und irgendwie immer noch keine Ahnung habe, wie ich das anstellen soll. Ich versuche mir gerade zu sagen, dass mich die Situation doch erst ab Mittwochnachmittag überfährt. Wenn ich wieder zu Hause bin. Vielleicht schonmal überlegen sollte, ob ich die Mails abarbeite. Wenn es kein soziales Netz mehr gibt, das trägt, von jetzt auf gleich keine Menschen mehr die das Herz berühren und die Arbeit die einzige Idee ist, die bleibt.

„Wo Erinnerungen bleiben, doch die Zukunft stirbt“, singt Johannes Oerding in einem seiner Lieder. Ich versuche immer wieder, ein paar Erinnerungen zu generieren, damit ich es irgendwie schaffe, in die Zukunft zu gehen. Ich hoffe, das trägt eine kleine Weile.

Ich bin noch hier. Es ist okay. Noch.
Und morgen darf ich auch nochmal kurz bei meinem alten Therapeuten vorbei hüpfen. Manchmal hat er einen Spaziergang vorgeschlagen. Morgen könnte er das eigentlich mal machen. Würde ich mir wünschen, wenn ich etwas aussuchen dürfte. Mal sehen. Ich werde mal meine Turnschuhe statt meiner Hausschuhe anziehen.

Mondkind

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