19 Monate: Von Schuld und Vergebung

Mein lieber Freund,
Heute sind es 19 Monate. Seit diesem schrecklichen Tag. Es ist der zweite Monatstag in Folge, den ich in einem geschützten Rahmen verbringen darf, fernab von Notfallalarmen und klingelnden Telefonen und dafür bin ich dankbar.

Es war ein heftiger Monat. Die Klinikzeit war anstrengend und ich hätte Dich so oft hier an meiner Seite gebraucht. Ich habe Dich oft vermisst auf den Spaziergängen durch den Kurpark. Deine Stimme im Ohr. Dein Verständnis. Deinen Rat. Und manchmal auch nur irgendwelche Erzählungen aus dem Leben in der Studienstadt, die mich ablenken.
Ich muss mir Gedanken um die Jobsituation machen. Die ersten kleineren oder  größeren Änderungen seit anderthalb Jahren. Entschieden haben wir immer alleine. Aber wir haben uns beim anderen nochmal rückversichert. Sind alle Argumente nochmal durchgegangen. Das fehlt mir sehr.

Ich möchte heute gerne mal etwas Wichtiges mit Dir klären. Kennst Du Kevin Hines? Das ist ein Mensch, der heute in der Suizidprävention tätig ist und einst von der Golden Gate Bridge gesprungen ist. Das überleben ungefähr ein Prozent der Menschen; er war einer davon. Es gibt einen Film über diese Geschichte und viele Interviews.
Das Interessante ist, dass er von Dingen erzählen kann, die er eigentlich nicht mehr hätte kommunizieren können sollen. So zum Beispiel, dass er eine sofortige Reue gespürt hat, als seine Hände das Geländer losgelassen haben. Dass ihm bewusst geworden ist, dass er eigentlich nicht habe sterben wollen. Das wirft viele Fragen auf; auch hinsichtlich Dir. Er bezeichnet diesen Fall dort hinab ins Wasser als den Moment des Aufwachens. „Ich dachte, niemand interessiert sich für mich. Die Wahrheit ist: Die Menschen haben sich für mich interessiert, sie haben sich gesorgt, ich konnte es nur lange nicht sehen.“
Etwas, das ich mir Dir aber heute besprechen möchte, ist eine andere Szene. Er berichtet über das erste Zusammentreffen mit seinem Vater im Krankenhaus: „Die ersten Worte, die ich gesagt habe, als mein Vater einen Fuß in das Krankenzimmer gesetzt hat waren: „Es tut mir leid“. Und mein Vater hat erwidert: „Nein, mir tut es leid.“ Zwischen uns stand also vom ersten Moment an eine Schuld. Eine Schuld, die dort nicht hingehörte.“
Schuld ist die Antwort auf Ohnmacht und Hilflosigkeit. Weil sie Kontrolle suggeriert, wo nichts kontrollierbar ist. Menschen sterben, manchmal auch aus eigenem Willen und wir können nichts tun, um das zu verhindern.
Ich trage das Schuldgefühl seit anderthalb Jahren mit mir herum und es behindert den Trauerprozess massiv. Und lass uns mal etwas vorstellen: Du und ich, wir treffen uns. Du in Deiner Welt, ich in meiner Welt. Ich würde Dir leise sagen: „Es tut mir leid, dass ich nicht auf Dich aufpassen konnte. Dass ich all Deinen Schmerz, in dem Du warst, nicht genug abfangen konnte.“ Ich hatte oft Angst, dass Du böse auf mich bist, aber nachdem ich Kevin Hines gehört habe, glaube ich langsam  Du könntest sagen: „Es tut mir leid, dass ich den Weg nicht weiter mit Dir gehen konnte. Ich habe das nicht getan, um Dich zu verletzen, oder Dein Leben zu zerstören, ich konnte mit diesem großen emotionalen Schmerz in mir nur einfach nicht mehr umgehen.“ Ich weiß, wir würden uns in die Augen sehen und dann in den Arm nehmen, ich auf Zehenspitzen und ein bisschen in Sorge das Gleichgewicht zu verlieren, weil Du mich so fest zu Dir ran ziehst. Und dann würden wir einfach weinen, bis die Tränen leer sind, egal was die Menschen um uns herum davon halten. Nur Du und ich.
Und vielleicht ist das der Anfang von etwas, das man irgendwann Vergebung nennt. 

 


Ich möchte glauben, dass das so sein könnte. Denn dieses ständige Grübeln darüber zermürbt mich. Und ich möchte mir diesen Brief irgendwo in die Wohnung hängen und bei Zweifeln darauf schauen können. Denn ich glaube, ein liebevolles im Herzen tragen ist das Einzige, das wir tun können. Es ist die Voraussetzung für alles, was dann kommt.
Ich habe Dir versprochen, jeden guten Moment für Dich mitzuerleben. Ich möchte versuchen, ein Stoppschild gegen dieses Leid zu sein. Ich kann es nicht ändern, dass Du diesen Weg gewählt hast, dass das mein Leben stark beeinflusst hat, dass ich wünschte, dass mir Vieles davon erspart geblieben wäre. Aber ich möchte das nicht weiter verteilen. Ich möchte es tragen. Ich möchte Dich tragen. Weil Du mich so sehr geprägt hast, lebt ein Teil von Dir in mir weiter, solange ich lebe. Ich möchte glauben, dass – und sicher war das einer der wertvollsten Sätze, den ich in dieser Klinik hören durfte – die Antwort auf das Leid, die dadurch ausgelöste Starre im Herzen, die Liebe ist. Nicht unbedingt für einen neuen Partner, so weit bin ich nicht. Aber die Liebe für uns selbst, für unsere Mitmenschen, für das Leben; das kann das Herz vielleicht wieder ein Stück öffnen.

Ich möchte Dir sagen: Ich will bereit sein. Wieder. Ich möchte den Blick heben und sehen, dass nicht alles verloren ist. Ich verspreche Dir, ich werde wieder mit dem Funk durch die Nacht rennen und wenn ich raus in den Himmel schaue, dann weiß ich, dass Du irgendwo dort sitzt, vielleicht ein bisschen schmunzelst, auf mich herunter schaust und vielleicht ein bisschen stolz bist, auf Deine Lieblingsärztin.

Ich trage Dich in meinem Herzen bis ans Ende meiner Zeit. Und in diesem Herz darf immer eine Lücke sein. Die, die Du dort hinterlassen hast. Die Trauer darf – wenn auch kontrollierbarer – bleiben. Denn sie zeigt nur, dass da jemand war, den ich sehr geliebt habe.
Ich möchte darauf vertrauen, dass die Seele vielleicht dennoch ein bisschen heilen kann. Ich möchte darauf vertrauen, dass ich wieder glücklich werden kann. Und ich möchte darauf vertrauen, dass ich mich eigentlich nicht sorgen soll. Denn wenn ich auch nicht mehr hier bin, dann möchte ich glauben, Dir bei einem unendlich langen Cafe – Date alles erzählen zu können, was seitdem passiert ist. Wir werden uns nicht verlieren.

Und wenn ich das alles schreibe, dann heißt das nicht, dass ich keine Angst habe. Denn wie sagt Kevin Hines auch so schön: „Es ist okay, nicht okay zu sein. Aber es ist nicht okay niemanden zu fragen, der Dich unterstützt.“ Der Mensch, auf den ich mich immer verlassen konnte, warst Du. Ich bin jetzt erstmal alleine. Es funktioniert nicht mehr wie früher.
Ich hoffe einfach, ich werde mich in den dunkelsten Stunden auch immer an die Worte erinnern können. Ich hoffe, dass die Erinnerungen reichen. Daran, dass es Dich gab, dass es einen Ort gab, an dem auch ich gehalten, gesehen und gestützt wurde. Ich hoffe, ein imaginäres Backup reicht erstmal.
Denn es wird nicht einfach. Die kommenden Wochen und Monate. Intensivstation – und Du weißt, was ich davon halte. Dienste; ITS- und erste Dienste. Wenig bis kein sozialer Rückhalt, viel Alleinsein. Aber wir rocken das schon; Du und ich. Hoffe ich.

Ganz viel Liebe in Richtung Universum
Mondkind

 

***

Ganz viel Inspiration für diesen Brief kommt aus dem Buch: "Suizid und diejenigen, die zurückbleiben" von Stephanie Mauer. 

Bildquelle: Pixabay

 

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