Psychosomatik #19 Die letzten beiden Tage

Gestern.
Ich habe nochmal ein Gespräch mit meinem Bezugstherapeuten.
Es geht um das Thema Wut. Die Gruppe wollte mir klar machen, worauf ich wütend sein könnte und ich habe das nicht verstanden gehabt und deshalb darum gebeten, dass wir das nochmal auflösen können. Und dann war der gestrige Tag so ziemlich die letzte Gelegenheit.
„Sie wissen also nicht, worauf Sie wütend sein sollen?“, fragt Herr Therapeut, als ich ihm gegenüber im Büro sitze. „Vielleicht noch auf mich selbst, weil ich es einfach nicht gebacken kriege…“, sage ich.
„Also wir fassen das mal ganz kurz zusammen, okay?“, sagt Herr Therapeut. „Als Sie ein Kind waren, sind Sie in einer Familie aufgewachsen, die Ihnen vermittelt hat nur ein wertvoller Mensch zu sein, wenn Sie etwas leisten. Sie durften keine Gefühle zeigen, Sie durften nicht weinen und schon mal gar nicht anderer Meinung sein. Dann sind Sie zu Hause ausgezogen und haben einen Menschen kennen gelernt, der Sie – und das glaube ich wirklich – bedingungslos geliebt hat. Und das war eine ganz schwierige Beziehung, weil Sie das nur schwer akzeptieren und ihm nur schwer glauben konnten, dass es so ist. Und eigentlich war das auch eine verbotene Beziehung, weil Sie sollten ja Leistung bringen – und was macht eigentlich die Doktorarbeit? Und dann – nachdem Sie diesem Menschen vielleicht minimal glauben konnten, ihm einen Platz in Ihrem Leben eingeräumt haben, zugestimmt haben, dass er zu Ihnen zieht und ich kann mir vorstellen, wie viel sich da auch in Ihnen gesträubt hat – nimmt sich dieser Mensch das Leben. Vor Ihnen, weil Sie hatten das ja eigentlich auch vor. Und jetzt hängen Sie in einem Job fest, in man Sie auch ausbeutet. [Der alte Bezugstherapeut] hat mir von Ihrem Gespräch, das Sie da mit dem Chef kurz vor der Klinik hatten erzählt – das ist ja sehr fürsorglich.“        
Wir schauen uns an. „Und jetzt dürfen Sie mir erklären, worauf man wütend sein kann“, sagte er. Es ist ein ganz schwieriges Gespräch, weil ich spüre, dass sich da irgendetwas regt und ich gleichzeitig Angst spüre. Nicht am Abend vor der Entlassung. Wo soll ich denn da hin mit der Wut? Und was macht die mit mir?

Anschließend geht es nochmal um die berufliche Situation. „Ich verstehe es wirklich nicht – das müssen Sie mir erklären – was dagegen sprechen sollte, am Montag wieder arbeiten zu gehen. Das Ziel sollte ja sein, dass es besser wird und das ist es doch jetzt. Mein Kopf funktioniert wieder“, sage ich. „Muss ich jetzt einer Ärztin ernsthaft einen Vortrag darüber halten?“, fragt er. „Sie sind also nicht minimal depressiv und machen sich nicht ab und an Gedanken darüber sich das Leben zu nehmen? Und das ist nicht auch ein bisschen gefährlich?“, fragt er. „Naja… - manchmal weiß ich nicht, ob ich mich da so ernst nehmen kann. Vielleicht soll ich mich einfach nur mal ein bisschen zusammen reißen. Irgendwie kann ich ja beides sein. Ich kann arbeiten. Und trotzdem depressiv sein, das Eine schließt das andere nicht unbedingt aus.“ „Wann fangen Sie an, sich ernst zu nehmen?“, fragt er. „Naja und was sollte ich machen?“, frage ich. „Ich habe mir schon überlegt – und mit meiner Schwester sogar schon drüber gesprochen – ob ich erstmal zu ihr fahre. Aber ich kann doch nicht die Kollegen weiterhin für mich arbeiten lassen und erstmal zu meiner Schwester fahren. Das ist nicht der Sinn von Krankschreibung.“ „Für depressive Menschen macht das also gar keinen Sinn mal ein bisschen unter Leute zu gehen, Abstand zu gewinnen und nicht sofort wieder ins alte Hamsterrad zu gehen?“, fragt er. „Die sollen sich lieber den ganzen Tag unter der Decke verkriechen und alleine sein“, schiebt er hinterher. „Nein, die können auch einfach arbeiten gehen. Arbeit schafft auch eine Art von Struktur, Sinn und Zugehörigkeit.“ „Frau Mondkind – wenn Sie Ihre eigene Ärztin wären…“ „Ich habe wirklich keine Ahnung, Herr [Therapeut].“ „Sie hätten ein schlechtes Gewissen gegenüber Ihren Kollegen“, legt er nochmal los. „Ja“, antworte ich. „Und was ist ein schlechtes Gewissen?“, fragt er. „Ist das nicht am Ende wieder Schuld?“, fragt er. „Vielleicht habe ich auch einfach nur keine Lust zum Arbeiten“, werfe ich ein. „Sie arbeiten eher zu viel als alles andere“, sagt er.

Wir reden über mögliche Änderungen. „Das ist ja nicht so, als hätte ich noch nie drüber nachgedacht“, sage ich. „Was denken Sie denn so?“, fragt er. Ich berichte davon, dass ich mir schon überlegt habe, nochmal so zu tun, als wäre ich 18, hätte gerade Abi gemacht und vielleicht soll ich nochmal überlegen, was ich vom Leben will und etwas anderes studieren. Psychologie zum Beispiel. Oder wenigstens mal die Fachrichtung wechseln in Richtung Psychosomatik oder Psychiatrie, wenn man keine ganz radikalen Umbrüche will.
„Und ganz im Ernst – warum machen Sie das nicht?“, fragt er. „Weil ich Angst habe“, entgegne ich. „Wovor?“, fragt er. „Dass das an irgendeiner Stelle mal nicht mehr funktioniert und dann fährt irgendetwas vor den Baum. Wenn ich das mache, bin ich komplett alleine. Da geht niemand mit. Und vielleicht lande ich dann unter der Brücke. Und lachen Sie nicht – ich meine das ernst… die Angst ist schon sehr alt.“ „Ich nehme Sie ernst“, entgegnet er. „Aber ich denke Sie sind Ärztin und Sie sind schlau genug, um das zu vermeiden. Am Ende können Sie das auch hinkriegen, dass Sie in der Psychiatrie landen, bevor Sie unter der Brücke landen.“ „Was ein Ausnutzen des Systems wäre“, entgegne ich. „Wenn’s Ihnen hilft“, sagt er. „Außerdem soll doch die Psychiatrie – Karriere jetzt echt mal vorbei sein“, sage ich. „Sagt wer? Wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht. Aber dann haben Sie es zumindest mal versucht. Weil so wie es jetzt läuft, werden Sie auch zum Drehtürpatient, das sage ich Ihnen jetzt schon.“
„Frau Mondkind – ich kann Sie auch morgen in die Psychiatrie einweisen, dann gehen Sie auch nicht arbeiten. Dann haben wir das Problem erstmal geklärt und Sie können noch eine Weile fernab von zu Hause drüber nachdenken, wie es weiter gehen soll.“ Ich weiß nicht, wie entsetzt ich ihn ansehe. „Das war ein Spaß. Wirklich“, sagt er. „Wenn Sie wüssten, was mir so durch den Kopf geht, wäre das gar nicht so viel Spaß“ – das denke ich mir aber nur. Keine Eskalation; wir können hier alle gerade nicht mehr sehr viel machen.

 

Hier standen wir Silvester und haben die Altlasten des letzten Jahres am Ufer verbrannt

Heute.
Der Wecker klingelt schon früh.
Das Zimmer muss schon direkt nach dem Frühstück geräumt sein, also muss ich davor alles gepackt und die Koffer schon ins Foyer gebracht haben.

Nach dem Frühstück kann ich noch kurz die Schlüssel abgeben und einigen anderen organisatorischen Kram erledigen; danach habe ich noch einen kurzen Termin von wenigen Minuten bei der leitenden Psychologin. Sie spricht mit mir darüber, dass selbst sie – obwohl es Arbeitserleichterung für sie ist – traurig ist, dass die Abschlussveranstaltung aktuell Covid – bedingt ausfallen muss und ich pflichte ihr bei. Ich hätte sehr gern noch eine kleine Rede über meinen Aufenthalt halten können, bedanke mich dann aber trotzdem noch bei ihr, auch dafür, dass das Team die Situation, die zwischendurch so schwierig war, mitgetragen hat. Es geht noch kurz um meinen Freund und auch darum, dass das Schreiben eines solchen Briefes wie dem 19 – Monate – Brief vor acht Wochen wahrscheinlich noch nicht möglich gewesen wäre. Ich hätte zwar vielleicht schon über diese Worte nachdenken können, aber ich hätte sie nicht zu Papier bringen und in meiner Gruppe vorlesen können; das wäre ein zu klares Statement gewesen; da hätte ich auch zu viel von meiner eigenen Sicherheit, die das Schuldprinzip auch ist, abgeben müssen.

Danach husche ich einen Raum weiter zu meinem Bezugstherapeuten. Ich bin immer noch ganz verwirrt von diesem Gespräch von gestern Abend. Und ich weiß, dass wir nichts davon jetzt zwei Stunden bevor ich gehen werde, lösen können. Ich weiß, wohin der Weg mich führt, auf den ich jetzt wieder gehe. Aber ich kann es nicht anders machen. Die Angst sitzt zu tief und es geht niemand den Weg mit mir. In zwei Stunden bin ich nicht mehr die Patientin meines Therapeuten, es ist, als hätten wir uns nie gekannt und ich muss alles was passiert, mit mir selbst regeln. Ich habe niemanden, der an meiner Seite geht, wenn ich hier gehe.
Und irgendwie kann ich es dann nicht mehr in mir halten. Und dann rollen die Tränen. Ich kann einfach nicht mehr.
„Ich möchte wissen, was Sie machen“, sagt er irgendwann. „Sollen wir telefonieren?“, fragt er. Als Antwort darauf weine ich noch ein bisschen mehr. Und dann schreibt er mir einen Telefontermin in etwas zweieinhalb Wochen auf. Und damit entlässt er mich dann.
Ich bin so unglaublich dankbar für diesen Anker, den er mir da gesetzt hat. Ich muss nur überleben bis dahin, aber das soll doch möglich sein.

Kerngruppe. Auch hier geht es nochmal um Verabschiedung. Ich habe zwar noch keinen Klinikrückblick geschrieben, habe mir aber schon ein paar Gedanken gemacht und formuliere daraus spontan ein paar Worte.

Der alte Bezugstherapeut ist aktuell übrigens nicht im Haus, weshalb ich ihm noch eine Karte in den Briefkasten schmeiße.

Nach dem Mittagessen ist eine Mitpatientin so freundlich, mich nach Hause zu bringen. Es sind nur 25 Kilometer mit dem Auto und sie meinte, dass sie das Auto ohnehin bewegen muss. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, aber es ist so eine unglaubliche Erleichterung, da ich jetzt eine Tasche mehr dabei habe und mein Kopf so schmerzt, dass er schon fast zerpringt.
Und dann stehe ich wieder in meiner Wohnung. In der Wohnung, die ich vor Weihnachten das letzte Mal gesehen habe. Alles sieht noch so aus, wie ich es drei Tage vor Weihnachten – damals auch mit Tränen in den Augen – hinterlassen habe. Und fast kann ich mich selbst sehen, wie ich mit den letzten Kräften versucht habe, ein bisschen Ordnung zu machen, damit es nicht ganz so schlimm aussieht, wenn ich wieder komme.

Es ist, als würde die Realität ihre Klauen um mich herum schwingen. Die Mitpatientin und ich sitzen noch kurz zusammen. Mit ihr kann ich eigentlich relativ ehrlich sein: „Ich habe am Anfang jedes Klinikaufenthaltes die Idee, dass es noch um Heilung gehen kann. Und irgendwann komme ich immer zu dem Schluss, dass ich daran nicht mehr glaube. Es ist das vierte Mal seit 2017. Ich gehe den Weg immer, bis ich wirklich keinen Zentimeter mehr gehen kann. Bis der letzte Funken Energie aufgebraucht ist. Und dann ist die Klinik so ein kurzer Augenblick, um mal wieder atmen zu können. Um zu spüren, wie Leben sein könnte, wenn es etwas anders wäre. Wenn es ein soziales System gäbe, in dem man eingebettet ist. Man kann es mal kurz erspüren, mit vertikalen Beziehungen. Das ist schon schräg. Da gibt es Menschen, denen man das Innere seiner Seele anvertraut. Und ein paar Wochen später geht man und sieht diese Menschen mutmaßlich nie wieder. Aber stell Dir vor, das wären echte, horizontale Beziehungen.“
Menschen mit denen ich so ehrlich sein konnte, wie in der Klinik hatte ich nicht mehr seitdem Thomas gestorben ist. Und eher als alles andere hat es mir in den letzten Wochen klar gemacht, wie sehr mir das fehlt.
Und trotzdem sind die Akkus dieses Mal vielleicht höchstens 30 % aufgeladen. Ein paar Wochen raus und dann zurück ist irgendwie kein Konzept mehr, das sehr gut trägt. Die lebensmüden Gedanken sind laut und irgendwie wünschte ich wirklich, Herr Bezugstherapeut hätte heute noch ein Mal danach gefragt. Ich habe natürlich nichts gesagt.

Später muss ich noch einkaufen gehen. Weiter als bis zum Supermarkt um die Ecke schaffe ich es nicht. Das war doch schon vor der Klinik so?
Etwas wie Energie ist Lichtjahre entfernt…

Morgen muss ich erstmal zum Hausarzt, der schreibt mich hoffentlich noch zwei Tage krank und dann sehe ich morgen Abend noch meine Therapeutin. Eigentlich wollte ich die Termine bei ihr jetzt etwas drosseln, damit mehr Kapazitäten übrig bleiben, wenn das hoffentlich mit dem alten Bezugstherapeuten im ambulanten Setting klappt. Ich weiß auch nicht richtig, was ich ihr morgen erzählen soll. Ich kann ja schlecht aus der Klinik kommen, wo ihr Mann beim privaten Ableger der Klinik Chef ist und sagen, dass ich genauso müde bin wie vorher. Dass ich nur mal kurz zwischendurch das Leben gesehen habe. Unglaublich dankbar dafür bin. Aber irgendwie bringt es mich halt auch nicht richtig weiter…Manchmal befürchte ich, ich war durchgehend so müde, dass ich gar nicht alles mitbekommen habe. Sonst habe ich bei Klinikaufenthalten immer irgendwann soziale Kontakte gesucht, habe ein paar Ausflüge ins Umland gemacht, fand die Klinikstrukturen irgendwann alle mal nur noch nervig. Das war irgendwie diesmal gar nicht so. Ich war einfach nur dankbar in Sicherheit zu sein. So lange, wie es eben ging.

Mondkind

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