Ein Brief ans jüngere Ich

Hey mein jüngeres Ich,
ich fand es wäre an der Zeit, wenn wir versuchen mal ein bisschen zueinander zu finden.

Ich lese die alten Tagebuch- und Blogeinträge und verstehe wenig. Eigentlich verstehe ich das Meiste nicht, wenn ich ehrlich bin.

Und ich bin ziemlich traurig. Und wütend. Darüber, dass Du so unglaublich leiden musstest. Dass die wenigsten Menschen das mal ernst genommen haben – obwohl doch so Vieles davon der Ausdruck von Verzweiflung, Einsamkeit und einer ganz tiefen Hoffnungslosigkeit war. Von einem Menschen, der das Vertrauen ins Leben verloren hat, bevor er das vielleicht je gehabt hat.
Und, dass ich das dadurch auch nicht ernst nehmen konnte. Dich nicht. Mich selbst nicht. Dass ich immer das Gefühl hatte, dass mit mir irgendetwas falsch ist und dass ich mich doch einfach mal nur ein bisschen zusammen reißen müsste.

Ich beginne langsam zu begreifen, warum jahrelange Therapie so wenig genützt hat – außer, dass ich das überlebt habe.
Es gab keinen Status Quo wiederherzustellen. Ich hatte wenig Erfahrung aus besseren Zeiten, auf die ich zurück schauen und von denen ich sagen konnte: Ich wünsche mir, dass ich vielleicht ein ähnliches Lebensgefühl wie damals entwickeln kann.
Jeder Schritt nach vorne war ein unendlicher Kampf, weil ich nicht sehen konnte, was mir das bringen soll. Erstmal schien es nur anstrengend zu sein und mein Energiehaushalt und ich – wir waren noch nie beste Freunde.

Therapeutische Beziehungen waren Stützen im Chaos, in dem ich gelebt habe. Eine Art zwischenmenschliches zu Hause, das ich nie so richtig erlebt habe. Ich werde der ehemaligen Therapeutin auf ewig dankbar sein, dass sie mich durch dieses Studium begleitet hat, in den Examenszeiten für mich und die Ängste, die ich hatte, da war.
„Das was wir hier für Sie tun, sollte eigentlich Ihre Familie auffangen. Aber weil das bei Ihnen nicht geht, machen wir das eben.“ Es war einer der schmerzhaftesten und ehrlichsten Sätze, den sie je gesagt hat.

Du hast mir manchmal Angst gemacht. In Zeiten, in denen ich in der Psychiatrie hing. Denn ehrlich gesagt – ich hätte mich dran gewöhnen können. Und dabei brauchte ich niemanden, der die Organisation eines Tagesablaufes für mich übernommen hätte – aber was ich brauchte war ein Ort, an dem ich sicher sein konnte. Und das konnte die Psychiatrie bieten – für eine begrenzte Zeit.
Und heute finde ich das so hochdramatisch, dass Du so einen institutionalisierten Raum dafür brauchtest. Dass es das in Deinem privaten Umfeld einfach nicht gab. Ich glaube, das war Dir nicht so klar damals.
Natürlich, Du warst schon auch krank, deswegen gehörtest Du da auch hin – aber es hatte schon noch ein paar Seiteneffekte. Entlassungen waren immer ein Drama. Weil Du zurück musstest in Deine eigene Halt- und Trostlosigkeit. 

Mein Freund ist auf Seminar und ich war heute - wie früher - im Ort spazieren mit einer Freundin in der Leitung...

 

Ich mache mir viele Gedanken über das Thema Lebensmüdigkeit.
Ich meine mal ernsthaft – kennst Du ein Leben ohne Suizidalität? „Das ist bei Ihnen chronisch, damit müssen Sie leben“, habe ich mal in der Klinik gehört.
Du hast so wenig am Leben gehangen, dass jedes mittelschwere Problem, jede Herausforderung die nicht so leicht zu bewältigen war, sofort zu einem existentiellen Thema geworden ist. Es gab eben auch gefühlt für Dich nichts, für das es sich gelohnt hat. Warum solltest Du dann noch mehr Unannehmlichkeiten aushalten? Was für die umstehenden Menschen völlig abstrus war, war für Dich Alltag. Deshalb bist Du immer in diesen Zeiten besonders mit dem Helfersystem aneinander geraten. Weil das niemand verstanden hat. Weil so viele Menschen geglaubt haben, Du tust das nur für Aufmerksamkeit. Es war aber nicht so.
Und auch hier finde ich das ziemlich erschütternd, was das eigentlich bedeutet. Wie wenig Perspektive es gab, wie viel Trost- und Hoffnungslosigkeit, wie wenig Vertrauen in das Gute und das Leben da war.

Und manchmal möchte ich Dich gern fragen: Wo hast Du denn das Vertrauen so sehr verloren?

Und dennoch – wenn das jahrelang eine der wichtigsten Problemlösungsstrategien zumindest im Kopf war – das verliere ich nicht einfach so. Ich denke immer noch viel drüber nach. Aktuell eher in der Hinsicht, dass ich andere Lösungen finden muss. Und dass ich mit dieser ständigen Bedrohung nicht mehr leben will. Dass ich es auch dem lebenden Freund nicht antun möchte, sich in irgendeiner Weise damit beschäftigen zu müssen oder sich Sorgen machen zu müssen. Und dennoch könnte ich Dir nicht sagen was morgen ist, wenn mir heute jemand auf dem CT – Tisch sterben würde. Das ist einfach so
Ich werde mich damit anfreunden müssen, dass der Weg in eine Normalität noch weit ist.

Ich weiß nicht, was ich mit all den alten Tagebucheinträgen machen soll. Und damit meine ich auch die ganz Alten. Die Zeit, in der Du zusehen musstest, dass sich die Beziehung zu Papa mehr oder weniger aufgelöst hat, weil Du ihn auch einfach nicht mehr sehen durftest. Die Zeit, in der Du gespürt hast, dass Du Dich von der Welt so sehr zurückgezogen hast, aber gefühlt nichts dagegen machen konntest.
Was soll aus der Zeit werden, die die Beste in all dem Drama war? Kurz nach dem ersten Klinikaufenthalt, als Du in die Studienstadt umgezogen bist, der verstorbene Freund und Du sich jedes Wochenende getroffen haben, Du Deine Studienstadt kennen gelernt hast, das Leben erstmals gespürt hast? Es sind die besten Erinnerungen bis zu diesem Sommer hier, aber auch diejenigen, die heute am meisten Angst machen. An dem Punkt, an dem ich heute bin, war ich schon mal so fast. Die Leute hatten gepredigt, dass es mit finanzieller Unabhängigkeit und weit weg vom Elternhaus schon besser werden wird. Und es war nicht durchgestanden, die ersten Dienste lagen noch vor Dir und Du hattest keine Ahnung, wie Du die bewältigen wolltest. Wir konnten hier an die besten Zeiten in der Studienstadt – was das erklärte Ziel war – aber nicht mehr anknüpfen. Bevor das passieren konnte, ist der Freund gestorben. Die Studienstadt wird jetzt auf ewig wie ein Marmeladenglas bleiben. Der Fluss in der Altstadt wird sich vielleicht für immer wie eine Konservendose anfühlen.
Und was ist, wenn die Zeit hier und heute irgendwann eine Erinnerung in einer Konservendose wird?
Und das macht mir heute so viel Angst. Ich habe gesehen, wie Du so schnell gefallen bist, dass außen rum niemand mehr hinterher kam; am wenigsten Du selbst. Ich möchte nie wieder auf einer geschlossenen Psychiatrie sitzen, weil es gerade einfach nicht mehr geht.

 

Das war auf der geschlossenen Psychiatrie. Ich finde diese Bilder heute so schrecklich. Dass so etwas dennoch Halt sein konnte, weil es sonst einfach gerade gar nichts gab, ist irgendwie zutiefst verstörend.


Was ich allerdings bis heute nicht verstehe, ist die Beziehung zum verstorbenen Freund. Ich kann nicht verstehen, warum das damals im Gesamten nicht so gelaufen ist, wie wir uns beide das gewünscht hätten. Meinst Du, Du warst auch ein bisschen „jung“, als wir uns kennen gelernt haben? Das war mitten im größten Chaos, Du hattest nichts im Griff, am Wenigsten Dich selbst. Vielleicht hat das einfach schlecht gestartet und war dann zu verfahren? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, ich finde darauf irgendwann für mich noch eine Antwort, denn es beschäftigt mich sehr. Eigentlich hätte das doch genauso laufen können, wie jetzt mit dem lebenden Freund.

Am liebsten würde ich manchmal die Vergangenheit von mir abschneiden, weil sie so viel Leid war und heute nichts als Angst hinterlässt. Aber das wäre nicht gut. Denn sie hat mich auch geprägt und lässt mich heute viel demütiger und dankbarer auf das Leben schauen. Obwohl ich eben wahnsinnige Angst habe.

Ich wünschte, Du hättest damals daran glauben können. Dass die Zeit, in der Du damals gesteckt hast, für immer tiefe Narben hinterlassen wird. Aber, dass sich Kämpfen manchmal lohnt. Dass es nicht so verloren ist, wie es sich angefühlt hat. Dass der ehemalige Herr Psychiater Recht hatte, als er gesagt hat: „Frau Mondkind, es wäre zu früh“, als Du mal wieder suizidal vor ihm saßt und ihn hättest für diesen Satz an die Wand klatschen können. Für Dich war es viel zu spät.

Und dennoch – obwohl Du so zickig warst, obwohl es damals viel Unverständnis gab für Deine Sicht auf die Welt und das Leben – bin ich Dir aufrichtig dankbar, dass Du irgendwie durchgehalten hast. Und ich verspreche Dir – ich werde Dich an die Hand nehmen und Dir die Farben des Lebens zeigen. Und Dir jeden Tag vermitteln, dass Du mich auch ein Stück weit gerettet hast.

Ich glaube, es wird noch ein langer und schwieriger Weg. Die letzten Wochen und Monate waren wie ein Rausch durch die Zeit mit wenig Zeit für Reflexion. Und dennoch ist alles was davor passiert ist, inklusive Dir, ein Teil von mir. Ich glaube, dass es ein schwieriger Weg wird, das alles anzunehmen. Zurück zu blicken und sich auch darüber klar zu werden, wie viel ich auch versäumt habe auf meinem Weg. Nicht nur in Bezug auf den verstorbenen Freund, sondern auch, was das Leben an sich angeht. Jetzt, wo ich so viel mehr Lebensfreude, mehr  Initiative, mehr Facetten vom Leben wahrnehme wird mir erst bewusst, was so lange gefehlt hat. Das kann sehr weh tun.

Ich möchte Dir sagen, mein jüngeres Ich, ich möchte all das, was wir erlebt haben, wertschätzen. Indem ich heute das Leben genieße, bewusst dankbar bin, dass ich das überlebt habe und mehr Perspektiven sehen kann, außer den von außen aufoktroyierten Leistungsgedanken. Dass ich heute auch über Privatleben, Freizeitgestaltung, Urlaubsplanung und – oh je, ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber vielleicht irgendwann Familienplanung – nachdenken darf.
Und ich möchte versuchen – selbst wenn etwas schief gehen sollte – den Glauben an das Leben und daran, dass es immer wieder Licht geben kann, so dunkel wie es auch gerade zu sein scheint, nicht mehr zu verlieren. Und ja, das sind große Worte. Aber ich möchte mich trotzdem immer wieder erinnern, es zu versuchen.

Fühl Dich ganz fest umarmt. Du bist eine ganz Tolle.
Deine größere Mondkind

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen