Reisetagebuch #2 Von alten Freunden und Therapie

Freitagmorgen.
Ich habe endlich mal wieder zumindest sieben Stunden geschlafen.
Und trotzdem spüre ich die Müdigkeit und die Erschöpfung der letzten Tage in den Knochen. Es braucht eine Weile, bis ich wach bin.

Ein altes Flattern. Termin bei der alten, bei der ersten Therapeutin. Es ist so viel passiert die letzten Wochen; obwohl ich ein Konzept mit den wichtigsten Themen habe, wird es unmöglich sein, das alles anzusprechen.

Ich schlürfe einen Kaffee, esse einen Joghurt dazu, mache mich fertig und setze mich ins Auto.
Ich fahre die ganz alte Strecke. Die Strecke, die ich bis nach dem Physikum jeden Morgen mit meiner Schwester zusammen zur Uni gefahren bin. Und in den acht Jahren hat sich nicht mal die Baustelle auf der Autobahn geändert. Die ist immer noch genau dort, wo sie immer war. Wie viele Nerven wir auf dieser Autobahn, die am Morgen eher zum Parkplatz tendiert, gelassen haben…
Hier entlang zu fahren, schafft ein seltsames Beklemmungsgefühl. Es war nicht mehr schön, damals. Ich wusste, ich kann nicht mehr lange zu Hause bleiben, wenn sich dort nichts ändert und das war nicht absehbar. Aber ich wusste auch nicht, ob ich den Mut haben würde, zu gehen. Damals wusste ich noch nicht, was ich alles schaffen kann, wenn es sein muss. Aber dieses Beklemmungsgefühl zeigt auch: Es war richtig. Trotz aller Zweifel. Trotz all dem, dass die Familiensituation spätestens danach nicht mehr rettbar war. Und auch hier spüre ich wieder: Ich möchte um keinen Preis der Welt zurück.

Ich parke das Auto an der Uni und bringe den PC vor dem Termin noch in die Bibliothek. Zwei Jahre Corona haben aus dieser sonst so belebten Bibliothek einen ziemlich verwaisten Ort gemacht. Wahrscheinlich haben die Meisten alternative Lernräume gefunden. Früher war es schwierig, hier einen Platz zum Sitzen zu finden. Heute läuft kaum noch jemand durch diese Räume.
Ich habe ganze Tage hier versessen in diesen im Sommer völlig überklimatisierten Räumen. Und auch an diesem Ort spüre ich noch die Verzweiflung, die ich oft hatte. 

Unibibliothek

Im Anschluss mache ich mich auf den Weg in Richtung Tagesklinik.
Wartebereich. Ein Mal bewusst die Augen schließen. Sich klar machen, dass das die Momente von Frieden von früher waren. Wenn ich es wieder eine Woche geschafft hatte; wieder bei meiner Therapeutin sitzen durfte, für den Moment sicher war und wir in diesem sicheren Rahmen meinen Kopf sortieren konnten.
Und fast schmilzt die Zeit zusammen, als sie mich herein bittet und noch bevor ich sitze fragt, wie es mir geht. „Vordergründig geht es mir gut“, sage ich. „Na Sie hatten mir ja eine Mail geschrieben, dann schauen wir mal, was wir heute für Sie tun können“, entgegnet sie.

Wartezimmer...


Erstmal geht es eine Weile um die Arbeitssituation. Dass die Arbeitsbelastung nicht weniger geworden ist, dass ich nächste Woche noch drei Dienste hintereinander habe und keine Ahnung habe, wie das funktionieren soll. Allein mit den Diensten komme auch auf knapp 60 Stunden, mit Überstunden und normalem Regeldienst werden es eher 80 werden. Aber ich bin ein bisschen entspannter geworden. Nach mittlerweile anderthalbjähriger Diensterfahrung, in denen am Ende das Meiste irgendwie funktioniert hat. Ich habe meine Emotionen mittlerweile von meinem Körper entkoppelt. Ich weiß, dass ich völlig handlungsunfähig werde, wenn ich Angst habe. Oft spüre ich noch das Herzrasen, das Zittern in mir, aber ich habe in den schlimmsten Momenten nicht mehr die Emotion Angst in mir. „Sie haben also Strategien entwickelt. Sie müssen nur aufpassen, dass sich das nicht auf das Privatleben überträgt“, ermahnt sie. Die Idee hatte ich allerdings auch schon und manchmal macht mir das ein bisschen Angst.Und dann berichte ich, dass ich ein bisschen die Monate zähle und etwas darauf baue, dass es im Psychiatriejahr besser wird, das ich plane nächstes Jahr zu machen. (Gut, der Chef weiß davon noch nichts). Ich habe gehört, dass die Arbeitsbelastung da nicht so immens hoch ist und ich verstehe das mal als großes Praktikum und freue mich auch darauf, weil es fachlich wahrscheinlich auch mehr dem entspricht, was mich interessiert. „Ich mache mir in letzter Zeit viele Gedanken darüber, wie ich mal leben möchte. Und ich kann das jetzt mehr sehen als früher, dass ich da massiv auf die Leistungsschiene gedrängt wurde. Das ging schon in der Schule los und ich lebe quasi seit der Oberstufe – also seit ich 16 bin – auf der Überholspur. Langsam mache ich mir Gedanken, ob ich damit glücklich bin, wenn ich mal 60 bin und zurück schaue. Ich glaube es nicht. Ich glaube auch, dass ich mich jetzt besser von den Erwartungen des Außen abkoppeln kann. Ich wüsste zum Beispiel, dass meine Eltern das ziemlich blöd fänden, wenn ich jetzt doch eher auf die Psychologie – Schiene gehen würde. Und ich habe immer noch schlechte Gefühle dabei, weil ich weiß, dass es nicht den Erwartungen entspricht. Aber ich weiß mittlerweile auch, dass es sich genau dann lohnt hinzuschauen, denn komischerweise fühle ich mich immer ein bisschen schlecht, wenn ich etwas mache, das ich persönlich möchte. Ist halt meistens nicht das, was die anderen wollen.“ Auch sie bekräftigt mich, in solchen Situationen hinzuschauen, sich auseinander zu setzen, jetzt die Weichen zu stellen.
Im Anschluss geht es um die Situation mit meinem Freund und ich erzähle kurz die wichtigsten Ereignisse der letzten Wochen.
Und dann geht es darum, was das jetzt alles mit sich bringt. Dass es viel von dem Frieden, den ich mit dem Tod des verstorbenen Freundes schon mal hatte, wieder auflöst. Dass es viele Ängste auslöst. Dass die Situation so wie sie jetzt ist, mir unglaublich fragil vorkommt. Dass ich Angst habe. Dass das wieder kippen könnte. Weil ich gerade zum ersten Mal seit so langer Zeit sagen kann, dass ich mein Leben doch ganz gern habe. „Wir haben letztens über Urlaubsplanung für nächstes Jahr geredet“, erkläre ich. „Und da ist mir auch bewusst geworden, was für ein Fortschritt das ist und wie tragisch das früher war. Ich konnte so oft nicht mal zwei Monate voraus denken, weil ich einfach nicht wusste, ob ich da noch lebe. Ich war ja ständig suizidal. Und jetzt hatte ich diesen Gedanken bei der Planung gar nicht. Wenn ich mich so umdrehe und zurück schaue – ich weiß nicht, wie ich das alle die Jahre überlebt habe. Ich habe das ja nicht gemacht, um die Leute zu ärgern, ich habe das ja wirklich alles so geglaubt.
„Ich finde das ist völlig normal, wie es Ihnen geht. Für Sie zumindest. Sie brauchen jetzt nur einen Rahmen, in dem Sie das alles besprechen können. Das wäre sehr wichtig. Ich sehe die Veränderungen bei Ihnen auch und ich bin wirklich froh, dass sich das alles so positiv entwickelt; Sie sind da ein sehr positives Beispiel geworden.  Aber ich sehe da – wie Sie – auch die Gefahr, dass das wirklich noch sehr instabil ist.“
„Wer hat viel hat, kann viel verlieren“, gebe ich zu bedenken. Sie nickt. „Und auch das macht viel Angst. Ich glaube es ist auch eine Entscheidung, all diese destruktiven Verhaltensmuster loszulassen. Weil die auch geschützt haben. Und manchmal sitze ich zu Hause und bin echt überfordert, weil es so schwer ist, andere Lösungen zu finden. Und es manchmal so ohnmächtig macht zu begreifen, dass dieses Schwere, die ja immer noch da ist, einfach auszuhalten ist. Sich für das Lebe zu entscheiden, ist wahrscheinlich schwieriger, als sich dagegen zu entscheiden.“ Sie nickt.
Und nach einer Weile. „Glauben Sie, Sie waren all die Jahre über therapiefähig…?“ Ich denke eine Weile nach. „Ich glaube manchmal nicht“, sage ich. „Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Ich glaube, die Zielsetzungen waren verschieden. Sie wollten, dass ich „gesund“ werde, ich wollte irgendetwas wie emotionalen Halt.“ Sie nickt. „Glauben Sie jetzt, dass Sie gesund sind…?“ „Schon manchmal, ja. Was denken Sie?“. „Ich glaube, Sie sind jetzt therapiefähig. Sie sind stabil genug, um die Dinge umzusetzen. Vorher ging es all die Jahre nur ums Überleben, wenn ich das mal so sagen darf.“
Die Zeit ist schon rum und eine Stunde reicht einfach nicht, um all den Stau der letzten Wochen zu bearbeiten. Ich darf mich melden, wenn etwas ist, sagt sie. Wofür ich ihr unglaublich dankbar bin. Denn die Zweifel sind hoch. Es ist wirklich fragil.

Danach sitze ich erstmal auf der Wiese auf den Steinen. Mein Kopf ist ein einziges Chaos und plötzlich ist da ganz viel Traurigkeit und ich weiß nicht mal, woher sie kommt.
Ich vermisse ein bisschen die Zeiten, in denen ich jede Woche bei der Therapeutin sitzen durfte. Ich spüre, dass ich die letzten Wochen vieles wahrgenommen, aber wenig davon sortiert bekommen habe.
Kurz hatten wir am Ende noch über das Thema Therapie geredet. „Naja… - früher hatte ich schon eine Art Helfernetzwerk, das gibt es ja so nicht mehr. Ich rede halt kaum noch mit Menschen darüber, was hier so los ist. Was soll ich auch sagen. Mir ist schon klar, was die Leute denken. Ich finde zwei Jahre sind immer noch zu wenig. Was soll ich denn einem Therapeuten erzählen? Mein Freund hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen und jetzt gibt es ach ziemlich genau zwei Jahren einen neuen Freund und irgendwie geht es seitdem echt bergauf mit dem Leben. Und wenn ich dann noch erzähle, wie wir uns kennen gelernt haben… Ich habe so Angst, dass die Menschen mich einfach sehr verurteilen.“ „Es sind zwei Jahre und nicht zwei Wochen oder Monate“, hat Frau Therapeutin zu bedenken gegeben.  Und fügt hinzu, dass die Einzige, die sich dafür verurteilt, wohl ich selbst bin.

Am Nachmittag treffe ich noch eine Freundin. Wir laufen durch die Altstadt nochmal nach vorne an den Fluss. „Das letzte Mal, als wir hier saßen war Mai 2020“, sage ich irgendwann. „Da sahst Du ungefähr genauso müde aus wie jetzt“, sagt sie. Ich bin wirklich müde. Die letzten Tage waren wirklich zu anstrengend. Körperlich und emotional. Aber im Mai 2020 habe ich geglaubt, dass dieses Treffen mit der Freundin das Letzte sein würde und dieser Moment am Fluss auch der Letzte sein würde. Das war wenige Tage bevor der Freund gestorben ist und wo ich schon wusste, dass ich erste Dienste machen werde – oder eben nicht machen werde.
Es ist schwer, das alles auszuhalten.
Weil ich so unfassbar müde bin, bleiben wir nicht lange. Aber heute verabschieden wir uns bis demnächst. Vielleicht komme ich im Oktober nochmal, da gibt es noch eine Woche Urlaub. 

Tschüss Studienstadt... - ich komme wieder; versprochen

 

Am Abend bin ich ziemlich platt.
Vielleicht hätte ich das alles doch etwas dosierter angehen sollen.
Da kommt die nächsten Tage bestimmt noch etwas…- das muss ich alles erstmal verarbeiten.
Manchmal denke ich mir, dass die Frau Therapeutin doch Recht hat. Auch, wenn es langsam ruhiger werden sollte und auch wenn die Situation wirklich stabil werden sollte - aber die letzten 20 Jahre liefen anders. Das muss man verarbeiten.

Erstmal bin ich aber schon wieder auf dem Sprung. Auf dem Weg zu meinem lebenden Freund. 

Mondkind

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