Von einem Dienst und einem Wochenende
„Bist Du jetzt wieder verwirrt,
wenn ich fahre?“, fragt mein Freund.
„Wahrscheinlich, ja“, entgegne ich.
Wir stehen auf dem Bahnhof. Sonntagfrüh. Sein Zug hat ein bisschen Verspätung, deshalb
bleiben uns ein paar Minuten mehr, als wir dachten. Und da wir ohnehin so wenig
Zeit miteinander verbringen können, ist jede Minute wertvoll.
Bahnhöfe. Die Orte, an denen Abschied und Wiedersehensfreude
unmittelbar nebeneinander liegen. Eigentlich hochemotionale Orte. Ich hätte
nicht gedacht, dass Bahnhöfe in meinem Leben noch mal so eine große Rolle
spielen werden.
Und während ich so da stehe spüre ich, dass diese Momente die Mondkind
von jetzt und die Mondkind von früher ein Stück näher zusammen bringen.
***
Freitag.
Die Dienstplanung ist ziemlich dämlich. Letzten Sonntag saß ich bis
tief in die Nacht in meinem Dienst, weil so viel los war und nach einer
anstrengenden Woche habe ich von Freitag auf Samstag nochmal 24 – Stunden –
Dienst.
Ich bin schon am Nachmittag müde. Pünktlich um 16:15 Uhr stehe ich –
nach dem Tag schon emotional erledigt von der Intensivstation – in der
Notaufnahme. „Also Mondkind, ich habe drei Patienten für Dich“, legt der
Kollege los. „Ist das Dein Ernst jetzt?“, frage ich. Den Dienstarzt erstmal mit
drei Patienten zu überschütten, wobei eine Patientin davon schon seit einer
Stunde da ist, ist schon ein bisschen… - unkollegial. Es nützt nichts. Ich habe
kaum Zeit, meine Dokumente auszudrucken, ehe ich mich auf die Socken um ersten
Konsil machen muss.
Die Nacht wird unruhig. Ständig klingelt das Telefon, die umliegenden
Krankenhäuser sind abgemeldet. Es gibt Verlegungen von neurologischen Patienten
mit der Leitstelle zu organisieren, die hunderte Kilometer weit weg liegen.
„Die Zeiten, in denen man ins nächste Krankenhaus gebracht wurde, sind lange
vorbei. Wenn man Pech hat, wacht man morgens fünf Landkreise weiter auf“,
erklärt der Typ von der Leitstelle.
Aber das Drama des Dienstes kommt dann in den frühen Morgenstunden.
Der zweite Dienst ruft mich von unserem Haupthaus an. „Mondkind, ich habe hier
einen Patienten, der hat erst erbrochen und wird jetzt langsam komatös.“ „Mach
mal CT und CT – Angio“, sage ich. Wenig später ruft mich meine Oberärztin an,
wegen desselben Patienten. „Ich glaube ich fahre jetzt mal rein, ich melde mich
noch. Mir ist nicht ganz klar, was da drüben läuft.“ Im nativen CT sieht man
nichts, eine Angiographie machen sie erstmal nicht. Meine Oberärztin ruft
nochmal an. „Mondkind ich verlege den Patienten zu Dir“, sagt sie. Wenig später
sehe ich den Patienten in der Notaufnahme. Er reagiert noch auf Aufforderungen,
aber stark verzögert. Neben der bekannten Halbseitenschwäche rechts lässt sich
jetzt auch eine Halbseitenschwäche links vermuten. Ganz klar ist mir das auch
nicht. Ich rufe den Radiologen an. „Wir brauchen eine Angio“, sage ich. „Ich
habe doch gerade schon ein natives CT bei Euch drüben gefahren“, sagt er. „Ja,
aber jetzt brauchen wir eine Angio“, sage ich. „Mondkind, der ist sicher nur exsikkiert.
Es ist warm draußen.“ „Kann sein. Für ne Basilaristhrombose ist er eigentlich
zu gut. Aber wenn er eine hat und wir es nicht merken, ist Holland in Not.“
„Wenn Du sagst Mondkind…“, seufzt der Radiologe.
Ich bin gerade auf dem Rückweg vom CT und bringe den Patienten in
unseren Überwachungsraum, als das Telefon läutet. Der Radiologe. „Mondkind, zu
meiner Überraschung, er hat wirklich eine Basilaristhrombose und die Posterior
links ist auch zu.“ „Wirklich?“, frage ich. „Ja“, entgegnet er. „Du willst mich
nicht veräppeln?“ „Nein.“ „Okay, dann brauchen wir wahrscheinlich eine
Thrombektomie.“
Es ist schon ewig her, dass ich meine letzte Thrombektomie organisiert
habe. Meine Oberärztin telefoniert mit den Angehörigen, klärt die Bevollmächtigte
auf und fragt, ob sie die Intervention wollen. Ich rufe indes den
Neuroradiologen an, organisiere die Anästhesie und die MTAs für die DSA.
Tatsächlich bin ich ziemlich begeistert. Wir schaffen es im
vorgegebenen Zeitfenster zu starten und eine Stunde nach der Punktion sind die
verschlossenen Gefäße offen. Es gelingt uns sogar, den Patienten zu extubieren
und wir bringen ihn dann auf die Überwachungsstation. Er macht sich ganz gut.
Großes Wunder bei einer Basilaristhrombose. Meine zweite Basilaristhrombose und
mein erster Überlebender und wahrscheinlich sogar mit einem recht guten
Outcome. Vielleicht war ich heute Nacht zur Abwechslung mal daran beteiligt ein
Leben zu retten.
(Amüsant war dann allerdings das Kommentar meiner Oberärztin. Sie habe
am Nachmittag noch mit dem Oberarzt telefoniert, mit dem ich meine erste
Basilaristhrombose hatte. Und dann sagte der oberärztliche Kollege wohl zu ihr:
„Sie hatte schon ihre Basilaristhrombose. Sie kriegt keine mehr; mach Dir keine
Sorgen…“ ;) )
Die Notaufnahme bleibt allerdings nicht leer, weil es eine
Thrombektomie gibt. Ich arbeite mich weiter durch die Patienten, als der
nächste Anruf von den Kardiologen kommt, dass da ein Patient komatös sei –
allerdings habe er gestern Abend auch Schlafmedikamente bekommen. Ich rase hoch
und untersuche ihn, stelle bei dem nur auf Schmerzreize erweckbaren Patienten
eine Hemiparese, eine Anisokorie und zumindest formal eine globale Aphasie
fest. „Es nützt nichts – wenn wir das klären wollen, brauchen wir eine CT und
eine CT – Angio“, erkläre ich dem Kardiologen. „Meinst Du wirklich – er hat
Schlafmedikamente bekommen“, gibt der zu bedenken. „Ja, das kann auch eine
Erklärung sein und ist mutmaßlich die Erklärung, wenn wir nichts finden. Aber
ich weiß es nicht und er ist schon neurologisch auffällig. Zumindest hat vorher
niemand eine Anisokorie dokumentiert und die lügt nicht; mit der Hemi ist das
bei halbkomatösen Patienten immer schwer und einen Babinski hat er
zugegebenermaßen nicht.“ Ich melde für den Kardiologen noch die Untersuchung
an, dränge die Radiologen zur Eile und rase wieder los in die Notaufnahme „Ruf
mich an, wenn es fertig ist“, rufe ich dem Kardiologen noch zu, bevor ich gehe.
Und dann wenig später: Basilaristhomse mit Verschluss der ACP und
Vorhofthrombus. Echt jetzt? Die zweite Basilaristhrombose innerhalb weniger
Stunden? Also auch die zweite Thrombektomie. Die fällt dann aber in die
Übergabezeit.
Pünktlich nach Hause gehe ich natürlich bei Weitem nicht. Es gibt noch
viel zu dokumentieren. Allerdings drängt die Zeit etwas im Nacken. Mein Freund
ist nur bis zum nächsten Morgen da und wenn wir noch irgendetwas voneinander
haben wollen, sollte ich da nicht zu spät ankommen.
Irgendwann 10 Minuten vor 1 am Mittag verlasse ich die Klinik, knapp
drei Stunden später als geplant. Zu Hause dusche ich schnell, packe meine
Sachen und düse los in die Nachbarstadt. Nach knapp 30 Stunden ohne eine Minute
Schlaf fallen mir auf dem Weg zu ihm fast die Augen zu. Ich kann einfach nicht
mehr.
Als ich da bin, ziehe ich nur schnell meinen Schlafanzug an, und lege
mich in sein Bett. Er kriecht noch mit zu mir unter die Decke und nach zwei
Minuten bin ich auch schon eingeschlafen.
Viel passiert nicht mehr an diesem Abend. Wir lümmeln ein wenig auf dem Sofa herum, nachdem ich drei Stunden später völlig gerädert wieder aufwache. Später machen wir uns ein paar Gedanken über die Urlaubsplanung. Er fragt mich, ob ich Lust hätte, mit ihm im nächsten Sommer eine Woche zum Trommeln zu fahren und dann noch eine Woche in der Toskana zu bleiben. Und ja, natürlich hätte ich Lust. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich mich genauso für das Trommeln begeistern kann wie er, aber das kann man ja ausprobieren. Und ich war nicht mehr länger als ein paar Stunden im Ausland (mit meiner Schwester dieses Jahr), seitdem ich 21 Jahre alt bin. „Dann können wir gemeinsam mit unserem Auto dahin fahren. Dann hast Du nicht so viel Stress wie dieses Jahr“, sage ich. „Ach so, jetzt ist es also schon unser Auto…“, sagt er. Upsi ja… - ich schlafe halt so halb…
Später Essen wir gemeinsam und gehen dann für unsere Verhältnisse wenn
ich da bin, echt früh ins Bett, weil ich immer noch so müde bin, dass ich nicht
lange stehen kann ohne meinen Kreislauf zu merken.
Wir haben zu wenig Zeit füreinander. So viel ist klar.
Der nächste Morgen artet wieder in ein bisschen Stress aus. Er ist eher immer überall eine Minute zu spät, ich bin immer überall viel zu früh. Das stresst mich so morgens… Eigentlich muss er ja heute den Zug kriegen und ich könnte mich entspannt zurück lehnen, aber irgendwie habe ich die ganze Zeit Angst, dass er den Zug verpasst.
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Kurpark in der Nachbarstadt... |
***
Der Bahnhof ist voll an diesem Morgen.
„Und wenn Du dann nächste Woche nach Hause kommst…“, sagt mein Freund
irgendwann. „Zu Dir nach Hause oder wohin?“, frage ich. „Ja, genau.“ „So so,
jetzt ist es also schon mein zu Hause geworden“, sage ich. Und dann lachen wir
beide.
„Und pass gut auf unser Auto auf, wenn ich nicht da bin“, sagt er
wenig später mit einem Augenzwinkern.
Irgendwie vertauscht zwar jeder von uns ständig die Worte, weil er sie
ein wenig unbedacht wählt, aber vielleicht formiert sich da doch langsam ein „wir“.
Ich denke an den Dezember. Es war kalt und ich glaube, es lag sogar ein winziges bisschen Schnee. Ich hatte nie so viel Angst vor einer Klinik. In mir hat sich einfach alles gesträubt. Ich wollte es einfach nicht, obwohl ich einsehen musste, dass es nicht mehr so viele Alternativen gab. Ich hatte keine Ahnung, dass ich wenige Stunden später den Menschen treffe, mit dem ich an diesem Morgen auf dem Bahnhof stehe und mit einem letzten Kuss in die Woche verabschiede.
Auf dem Heimweg drehe ich Alexa Feser auf. „Wunderfinder“.
„Wenn man den Blick auf's Ganze lenkt
Ist jeder Tag wie ein Geschenk
Denn aus dem Nichts das vor uns war
Wurde mit uns ein Wunder wahr“
„Bist Du jetzt wieder verwirrt?“
Ja, ich bin verwirrt. Nicht, weil ich es nicht verstehe. Aber weil ich
es so schwer begreifen kann. Mein Freund war bisher so selten hier, dass ich
hier in meiner Stadt noch nicht so viel Verbindung zu der neuen Situation habe.
Ich bin es nicht gewohnt, dass er durch meine Wohnung schleicht, ich war nie
mit ihm gemeinsam in meiner Stadt. Wir sind die Wege hier noch nicht zusammen
gelaufen.
Wenn wir uns sehen, bin ich fast immer in der Nachbarstadt. Dorthin zu
fahren ist, als würde ich eine andere Welt und eine andere Mondkind besuchen.
Und dennoch; auch diese Stadt ist ein Paradoxon. Es betrifft nicht unbedingt
den Ort, an dem er wohnt, weil ich den nicht kannte, bevor ich ihn privat
getroffen habe. Aber die Klinikumgebung, der Bahnhof, die Innenstadt ist mit
einem Lebensgefühl verknüpft, das sich noch so vertraut anfühlt, aber heute
auch seltsam deplatziert ist. Als ich ein paar Wochen in diesem Ort gelebt habe
und den quasi kennen gelernt habe (mal abgesehen von ein paar Ausflügen, die
ich vorher mit meiner Schwester dorthin unternommen hatte), habe ich immer noch
nicht geglaubt, eines Tages nochmal glücklich zu werden. Da hängen sehr viele
negative Emotionen zwischen diesen Straßen, die eben heute nicht mehr aktuell
sind. Das zu überschreiben ist eine seltsam verwirrende Angelegenheit.
Und dann ist es, als würde ich zwei verschiedene Leben leben. Die
Wochenenden bei ihm, die immer noch so ungewohnt sind, die Situation, in die
ich so wenig Vertrauen habe, dass sie wirklich bleiben kann, dass ich mich
manchmal frage, ob das alles echt ist. Selbst wenn wir jetzt schon bei der
Urlaubsplanung für 2023 sind. Und es ist nicht mehr so, dass ich ihm nicht
traue. Ich traue dem Leben nicht. Ich kann nicht glauben, dass es jetzt echt
okay werden soll.
Bei ihm ist immer eine Zeit, in der ich jede Minute, die wir zusammen
verbringen dürfen, genießen kann.
Und wenn ich zurück fahre, dann wird mir immer bewusst, dass ich mein
altes Leben und die Arbeitssituation eben auch noch im Nacken habe und dass das
– trotz aller guten Momente dazwischen, für die ich auch sehr dankbar bin – der
Hauptteil des Tages ist. Die Angst auf der Intensivstation. Der Schlafmangel
zwischen den Diensten. Die Geschichte mit dem verstorbenen Freund, die mich in
meinen Wänden nicht los lässt.
Seine Mum schreibt mir oft und ich müsste (und würde gerne) sie mal
wieder besuchen. Das kann ich nicht überschreiben. Das bleibt für immer.
All das ist immer noch da und es ist nicht weniger schlimm, es ist nur
so, dass ich jetzt etwas habe, das ich in die andere Waagschale werfen kann.
Und es ist nach ganz langer Zeit so, dass es Hoffnung gibt. Dass es eines Tages
ein gutes Ende gibt.
Und dieses Wunder, das in der Nachbarstadt entstanden ist – alle
wesentlichen Entscheidungen in Bezug auf das, was wir jetzt sind – haben wir
dort getroffen, kann manchmal ganz schön verwirrend sein. Und die Tatsache,
dass ich mich manchmal frage, ob ich nicht irgendwann aufwache und feststelle,
dass das alles nur eine große Sehnsucht war, aus der mein Hirn mal einen langen
Traum gebastelt hat.
So viel Wunder, so viel Glück kann kaum ein Mensch haben.
Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass meine Tage
in der Nachbarstadt anfangen und enden dürften. Dass das keine
Wochenendgeschichte bleibt. Dass die guten Momente Teil eines Lebens werden.
Ich sehe die Straße kaum noch vor Tränen. Und manchmal weiß ich nicht
mehr, ob die gerade fließen, weil es mich so unglaublich traurig macht daran zu
denken, wie schwer der Weg bis hierher war und mir die Mondkind von früher so
unendlich leid tut. Weil es immer noch weh tut. Weil der Verlust weh tut, der
es auch heute noch ist. Oder, weil ich so gerührt bin, so überwältigt von
diesem Wunder, das es heute ist. Weil ich das Leben dazwischen fühle und es
manchmal einfach nur schön ist.
Und manchmal denke ich mir: Vielleicht wird die Mondkind – Idee von
früher doch noch wahr. Bevor man mich auf diese Leistungsschiene gezwungen hat.
Bevor der Freund verstorben ist. Es war immer so einfach. Wir sollten in der
Schule mal unser Leben in 20 Jahren uns vorstellen. Und während das Umfeld
große Pläne schmiedete, habe ich gesagt: Ich möchte einen Job haben, eine
hübsche Wohnung, einen Freund, Kinder und vielleicht einen Hund. Okay, das mit
dem Hund wird nichts, für Tiere ist der lebende Freund nicht zu haben, aber der
Rest…
So – ich ruhe mich noch etwas aus; der nächste Dienst wartet am
Dienstag und dann wartet ein Reisetagebuch auf Euch. Wahrscheinlich fahre ich Mittwochnacht los... Wird eine stressige Tour....
Ich freue mich auch sehr, nächsten Freitag - wenn alles klappt - meine alte Therapeutin mal wieder zu sehen. Ich glaube, ich muss das alles mal irgendwo ansprechen und reflektieren.
Mondkind
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