Zwei Jahre

„Du wirst immer mein Freund sein
Du wirst immer Lust haben, mit mir zu lachen“

Der kleine Prinz

 

Hallo mein lieber Freund,
zwei Jahre. Vor zwei Jahren saß ich morgens kurz nach sechs auf dem Sofa, als mich die Nachricht erreicht hat, dass Du nicht mehr lebst. Ich hatte so etwas Ähnliches geahnt, aber wollte bis dahin nicht darüber nachdenken. Nicht, bis das irgendwer offiziell sagt. Solange hast Du für mich gelebt. Etwas anderes konnte ich mir auch nicht vorstellen. Ein Leben ohne Dich gab es für mich nicht.

Ich hatte damals keine Ahnung, was das für mich bedeutet. Bisher hatte ich alles irgendwie geschafft, ich würde doch spätestens eine Woche danach wieder arbeiten gehen können dachte ich mir, nachdem mich meine Oberärzte erstmal aus dem Verkehr gezogen hatten. „Bis nächste Woche“, habe ich den Kollegen in die Übergabe meiner Patienten geschrieben – nicht wissend, dass daraus zwei Monate werden würden.

Und was danach begann war ein Weg, den ich mir nicht nur nicht für mich, sondern auch für sonst niemand anderen gewünscht hätte. Der nicht nur mein Leben, sondern auch mich selbst für immer verändert hat. Der mit so vielen Schatten und Steinen versehen war, wie ich sie nicht mal in meinen kühnsten Vorstellungen erwartet hätte. Ich bin da einfach rein gelaufen – etwas anderes blieb mir ja auch nicht übrig – und musste irgendwie lernen damit umzugehen.
Und zwei Jahre später lebe ich immer noch und trage Dich auf meinen Schultern – obwohl es so oft Momente gab, in denen ich nicht mehr geglaubt habe, dass ich diesen Schmerz überleben kann.

Heute hat das Leben die Farben wieder. Eine ganz andere Mischung als damals, aber es ist wieder bunt - zeitweise zumindest. Der Schmerz ist nicht weniger, aber es lohnt sich, ihn auszuhalten. Und – das habe ich auch schon gehört – ich glaube nicht daran, dass Du mir von irgendwo aus zuschaust, befunden hast, dass ich jetzt genug gelitten habe und mal an ein paar Schräubchen gedreht hast. So einfach kann man die Verantwortung jetzt auch nicht abgeben.
Es war – nach wochenlanger reiflicher Überlegung – eine Entscheidung wieder ein männliches Wesen im Sinn eines – je nachdem wie sich das entwickelt – potentiellen Partners in mein Leben zu lassen.
Und dadurch, dass ich wieder Dinge erleben durfte, die so viele Jahre „normal“ waren und dann plötzlich so unendlich gefehlt haben, hat es auch viele Erinnerungen und viel Sehnsucht hoch geholt. Und dennoch spüre ich auch immer mehr, dass die weitere Isolation von einer Partnerschaft nur aus dem Solidaritätsgedanken heraus, über die Zeit vermutlich auch mein Untergang gewesen wäre. So leid es mir tut, das zu sagen – für uns beide.

Ich tue mich sehr schwer mit meinem Gedankensalat aktuell. Mit meiner Traurigkeit, der Erschütterung, der Sehnsucht und gleichzeitig der Dankbarkeit Dir, dem lebenden Freund und dem Leben an sich gegenüber. Ich lerne zu akzeptieren, dass das Leben ständig fließt. Dass nichts selbstverständlich ist, dass es das Morgen ohne das Gestern nicht gibt, dass vielleicht auch in Katastrophen ein Funken Licht liegt, die nicht wegen des Funkens an Licht in irgendeiner Weise gebraucht sind, aber die man vielleicht doch nutzen soll, wenn es schon passieren muss.
Ich kann mittlerweile nicht mehr sagen, dass ich alle und alles verfluche das passiert ist, seitdem Du gestorben bist. Und ich glaube, ich kann trotzdem parallel nebeneinander stellen, dass ich mir für Dich und mich wünschen würde, dass das nie hätte passieren müssen mit Deinem Sterben und gleichzeitig dankbar dafür bin, dass ich knapp zwei Jahre später den lebenden Freund in meinem Leben habe. Ich weiß auch, dass das Leben jetzt eben ein anderes wäre, wenn Du nicht gestorben wärst. Ob das besser oder schlechter wäre, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass ich aktuell sehr glücklich damit bin und aber trotzdem akzeptieren muss, dass es aus dieser Katastrophe erwachsen ist, was manchmal sehr, sehr schwer ist.
Ich hoffe, Du nimmst es nicht persönlich. Wenn der gemeinsame Weg aufhört, muss man halt irgendwie anders weiter machen – das ist einfach so und trotzdem kann man dankbar für die Zeit sein und wehmütig zurück blicken auf das, was war.

Was allerdings immer bleiben wird, ist die Frage, wie Du gestorben bist. Und dass ich mir sehr für Dich gewünscht hätte, dass es nicht still, leise und unbeobachtet passiert wäre. Ich wünschte, Du hättest in Deinen letzten Momenten nicht alleine sein müssen. Ich wünschte, da wäre irgendwer gewesen, der Dir hätte die Hand halten könnten, der Dich hätte in den Arm nehmen können, der seine Hand auf Dein Herz hätte legen können, als es die letzten Schläge getan hat und sich der Brustkorb mit dem letzten Atemzug das letzte Mal gehoben hat. Und ich wünschte – obwohl es wahrscheinlich für immer eine offene Wunde geblieben wäre – dass ich diejenige hätte sein dürfen, die in dem Moment hätte bei Dir sein dürfen.

Es hat sich Vieles verändert, seitdem Du gestorben bist. Nicht nur, dass ich die Leute in meinem Leben fast komplett austauschen musste – auch mein Verhältnis zum Leben und zum Sterben. Erst letztens hatte ich eine Diskussion mit dem lebenden Freund darüber, dass ich kein Vertrauen mehr darin habe, dass das Licht im Leben bleiben kann. Dass die eigene Suizidalität ein riesiges Problem ist, weil ich mittlerweile finde, dass jeder doch auch eine gewisse moralische Verantwortung für seine Mitmenschen hat und mir in meiner letzten richtig heftigen suizidalen Krise in der Klinik bewusst geworden ist, dass ich diese Verantwortung und diesen Schmerz eigentlich nicht einfach auf die Schultern des nächsten Menschen stellen soll – so hart wie das auch alles ist. Ich hoffe, dieses Bewusstsein bleibt immer bestehen, auch wenn es die Dinge für mich schwerer macht in Zeiten, die sowieso schwer sind. 

Und so schwer es auch ist zwischen all der Traurigkeit - wenn ich an Dich denke - ein bisschen Licht zu finden, möchte ich auch nie vergessen Danke zu sagen. Für die Jahre, die wir miteinander teilen durften. Für die Erlebnisse, die Wertschätzung, das Vertrauen. Für die Farbe, die Du in mein Leben gebracht hast. Ohne Dich wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Das ist ganz sicher. 

Ich hoffe Du bist okay, wo immer Du auch bist.
Ganz viel Liebe in Richtung Universum

Mondkind


 

***

Zwei Jahre.
Sind vielleicht ein geeigneter Zeitpunkt für eine kleine Reflexion. Wie sehe ich die Dinge jetzt – zwei Jahre später? Und auch die jetzige Sicht der Dinge wird bestimmt noch nicht das Ende sein.

Vor zwei Jahren haben sich alle Hoffnungen auf ein gutes Ende zerschlagen. Es würde kein gutes Ende geben. Ich war bis dahin noch nie mit dem Tod in Berührung gekommen und jetzt hatte es ausgerechnet den wichtigsten Menschen meines Lebens getroffen und denjenigen, den ich für solche Lebenssituationen am meisten gebraucht hätte. Ich hatte nicht nur meinen Freund verloren, sondern auch die wichtigste zwischenmenschliche Säule die ich hatte.

Und obwohl ich von Anfang an wusste, dass das eine komplette Katastrophe ist, war mich nicht klar, wie groß die Katastrophe wirklich ist. Ich kann mich erinnern, wie mein Oberarzt zu mir nur wenige Tage danach sagte: „Mondkind ich befürchte, das wird jetzt etwas Längeres“. Wie die Hausärztin, die eine Kollegin über drei Ecken organisiert hatte mich gleich mal zwei Wochen krank schreiben wollte und ich protestiert habe und gesagt habe, dass ich doch spätestens in einer Woche wieder arbeiten gehen werde. Ich hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen würde, aber zu Beginn hatte ich doch noch das Vertrauen, dass ich auch das rocken werde.

Und doch habe ich einige Tage später bemerkt, dass ich es einfach nicht schaffe. Es war, als sei das Gehirn aus meinem Kopf verschwunden gewesen, alles was ich noch machen konnte waren bekannte Automatismen. Ich hatte nächtelang nicht geschlafen, Reden war mir zu anstrengend, sodass ich entweder ganz still war, oder nur noch geflüstert habe.
Ich hätte nicht mal sagen können, dass ich traurig war. Es war einfach, als wäre eine Betonwand auf mich drauf gefallen und während alles in und an mir gestorben ist, hat das Herz ganz stupide weiterhin Blut durch meinen Körper gepumpt.

Mein damaliger Therapeut hat mich durch halb Deutschland gelotst und war mein Rettungsanker in dieser Zeit. Ich war überzeugt, dass es besser werden würde, wenn ich es einmal geschafft hatte in der Studienstadt anzukommen. Zwar hatte ich einige notfallmäßige Aufnahmen in die Psychiatrie hinter mir, aber nie habe ich die Hilfe so sehr gebraucht wie in dieser Zeit.
Und dann, ganz plötzlich, habe ich mich auf der geschlossenen Psychiatrie wieder gefunden. Und fand das zu Beginn sogar erleichternd. Die Welt war nur noch zwei Flurlängen groß und die Überforderung nahm erstmal ein bisschen ab. Ich war so durch mit allem, dass es mich nicht gestört hat fast 24/7 im Qualm zu sitzen, der vom Raucherraum gegenüber permanent in unser Zimmer gezogen ist. Dass in den Abflüssen das Wasser stand. Dass es vielleicht – wenn man schnell genug war – einen halben Kaffee pro Tag gab, wenn man Pech hatte, eben keinen. Dass wir – alle Patienten auf der Station – eher aussahen wie Leichen auf zwei Beinen.

Auf dem Boden der Tatsachen angekommen bin ich erst wieder auf der offenen Station. Dort begannen dann die Welten aufeinander zu prallen. Meine zerbrochene Welt und das Bild der anderen. Ich kam irgendwie mit der Vorstellung dahin, dass jeder verstehen muss, was mir passiert ist. Mir war klar, dass niemand mir abnehmen kann, was ich getan oder auch nicht getan hatte und wie das alles geendet hat, aber ich wollte gehört und verstanden werden und das hat überhaupt nicht funktioniert.
Ich habe wochenlang versucht zu reden und bin irgendwann – die letzten drei Wochen des Aufenthaltes – ganz still geworden. Selbst auf Nachfragen habe ich manchmal einfach nichts gesagt.
Ich habe vieles selbst nicht verstanden. Ich habe mich nicht verstanden, die anderen nicht, ich wusste nicht, warum es zwischen meiner Welt und derjenigen der anderen eine so spürbare, unsichtbare Wand gab, die ich vorher noch nie wahrgenommen hatte. Ich war wütend ohne dass so richtig zu merken, habe viele Kontakte auch von meiner Seite abgebrochen, weil ich nicht über die Belanglosigkeiten des Alltags sprechen konnte, solange wie ich nicht das Gefühl hatte, gehört zu werden.

Hätte mich jemand gefragt, was eines der gravierendsten Probleme nach dem Suizid eines nahe stehenden Menschen ist, hätte ich wohl vor dieser Katastrophe gesagt: Die Trauer. Und das ist wahrscheinlich das, was die meisten Menschen denken. Aber es war nicht die Trauer. Es war die soziale Isolation, das Unverständnis, die vielen (gut gemeinten) Ratschläge, die völlig daneben waren.

Die größten zwischenmenschlichen Enttäuschungen waren eigentlich die potentielle Bezugsperson und der ehemalige Herr Kliniktherapeut. Die potentielle Bezugsperson kannte doch mein halbes Leben in und auswendig und der Herr Kliniktherapeut forscht doch zum Thema Suizidalität – er muss doch ein bisschen wissen, was gerade bei mir los ist.
Ich konnte nicht sehen, dass diese Menschen einfach nicht verstehen konnten – selbst, wenn sie gewollt hätten.
(Meine Familie lasse ich jetzt mal außen vor – mir gleich mal eine Kündigung für den Ort in der Ferne zu schreiben, damit ich das Letzt hätte verlieren können, das mir geblieben ist, war schon ultra daneben und das habe ich denen auch bis heute nicht verziehen, aber von der Front erwarte ich ja generell nicht viel).

Es hat Monate – bestimmt mehr als ein Jahr gedauert – bis ich langsam verstanden habe.
Dieser Tod ist wie ein Meteorit in mein Leben eingeschlagen. Bis dahin hatte ich selbst keine Ahnung, was ein Suizid im Leben eines Angehörigen bedeutet. Dass Suizidtrauer so viel mehr als Traurigkeit ist und die Trauer eigentlich erst ganz zum Schluss kommt. An Suizidalität zu forschen oder das selbst zu erleben, ist ein himmelweiter Unterschied.
Ich habe gelernt zu verstehen, dass wir uns alle nicht mehr verstehen konnten. Dieser verhängnisvolle Tag hat nichts als emotionale Zerstörung in mir hinterlassen. Sortiert hat sich das erst langsam. Ich konnte nicht mehr der Mensch bleiben, der ich war. Ich setze Prioritäten heute anders. Versuche bewusster zu leben. Bin nicht mehr so naiv. Habe viel Vertrauen verloren. Versuche die Wunder des Lebens zu sehen. Aber damals wusste ich selbst nicht, wer ich jetzt bin und wie ich jetzt leben werde. Und die anderen wussten das erst recht nicht.
Wir haben alles komplett aneinander vorbei geredet und gearbeitet, ohne das so richtig zu merken. Ich konnte nicht kommunizieren, was ich brauchte, weil ich das auch einfach nicht wusste. Ich hatte nie so wenig Ahnung, wer ich eigentlich bin und die anderen hatten keine Ahnung, dass da mehr als ein bisschen Traurigkeit war.

Es gab nur ganz, ganz wenige Menschen, die bleiben konnten. Die akzeptieren konnten, dass es eine Mondkind vor und eine Mondkind nach der Katastrophe gibt. Und selbst diese Beziehungen haben sich natürlich geändert. Mit manchen Menschen nähere ich mich auch jetzt erst wieder an.

Ich glaube heute, dass die meisten zwischenmenschlichen Schwierigkeiten danach aus Nichtwissen und Überforderung auf beiden Seiten resultiert sind. Und Therapeuten sind schließlich auch nur Menschen – auch ein Herr Kliniktherapeut konnte mich nicht „retten“, so sehr ich mir das gewünscht hätte. Die potentielle Bezugsperson hat sich unendlich viele Sorgen gemacht und hatte selbst als ich auf der Geschlossenen Station war Angst, dass ich das nicht überlebe. 

Ich bin heute okay damit, dass in den Tagen und Wochen danach viele Bänder gerissen sind, die nie mehr reparierbar sind. Und von einigen möchte ich das auch heute nicht mehr. Und ich bin froh und ein bisschen stolz diesen Frieden gefunden zu haben. Mit den Menschen, die heute noch geblieben sind - ich glaube da hat zu großen Teilen ein gegenseitiges Verzeihen statt gefunden. 

Und dennoch – ich hatte nicht den Funken einer Ahnung, dass ein so langer, schwerer Weg vor mir liegt, der die nächsten anderthalb bis zwei Jahre in erster Linie von Sehnsucht, Vermissen, Schuldgefühlen, vielen Fragen und langen Nächten bestehen wird. Das habe ich erst nach und nach begriffen und irgendwann nicht mehr glauben können, dass es nochmal okay wird.
Und selbst, wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass es zwei Jahre dauert, wäre mir das zu lang gewesen.

Ich habe mal in der Selbsthilfegruppe gehört, dass man die Geschichte um den Suizid so oft erzählt haben muss, bis man subjektiv das Gefühl hat einmal gehört worden zu sein. Ich hatte so viel Druck und Mitteilungsbedürfnis – ich habe die Geschichte oft erzählt. Und immer wieder endete das in Relativierungen des Gegenübers – und das waren eher noch die positiven Reaktionen. Heute weiß ich, dass viele Menschen vielleicht mit eigenen Themen in Berührung kamen und deshalb so reagiert haben. Damals wusste ich das nicht. Und erst Ende des letzten Jahres bin ich einem Menschen begegnet, der wirklich zugehört hat. Der mit seiner Aufmerksamkeit bei mir war, der wirklich gar nicht viel dazu sagen musste. Niemand kann diesen Schmerz für mich auflösen, aber man kann es zusammen tragen. Ich habe das Gefühl, diese Geschichte ist jetzt mal nicht nur mehr bei mir verstaut. Und seitdem ist dieses Mitteilungsbedürfnis auch schon signifikant weniger geworden.

Ich werde nie okay damit sein. Aber ich lerne Schritt für Schritt weiter zu leben. Zu sehen, dass Leben auch ganz viel Wunder sein kann. Und, dass es sich trotz allem noch lohnt. Es ist nicht einfach, die guten Zeiten neben diese Katastrophe zu stellen. Die permanente Angst auszuhalten, dass Dinge dann, wenn man es am wenigsten erwartet, so enden können. Die Angst auszuhalten, die gute Zeiten heute auch sind. Und auch weiterhin zu wissen, dass ich nicht unschuldig bin, dass wir nicht nur unsere Beziehung nicht auf die Reihe bekommen haben, sondern dabei sogar wer gestorben ist. 

Aber es lohnt sich. Glaube ich zumindest aktuell mal. Ich hoffe, das kann ein bisschen bleiben. Das Leben, die Liebe und die Farben. Und nebenbei eben auch der Weg, der es war und der mich geprägt hat. 


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