Reisetagebuch 1 #Hallo Studienstadt

Ich sitze in der Medizinerbibliothek der Universität. Wie in alten Zeiten.
Die ersten Minuten Ruhe seit Tagen.
Und die nutze ich, um endlich mal mit dem Reisetagebuch zu beginnen.

Die letzten Dienste waren herausfordernd. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch gab es eine Verlegung von der Stroke Unit auf die Intensivstation, was mich bestimmt drei Stunden Zeit gekostet hat. Ruhe kam erst rein, als endlich der Hintergrund von der neurologischen Intensivstation vor Ort war, den Patienten auf unsere Neuro  - Intensivstation begleitet und ihn dort intubiert hat. Daneben haben sich noch die Patienten in der Notaufnahme gestapelt und bis zum Morgengrauen habe ich noch 10 Patienten aufnehmen müssen.

Nach exakt Null Minuten Schlaf bin ich dann in den Mittwoch gestartet, der noch mit dem Geburtstag einer Kollegin endete – und natürlich war ich auch dort spät zu Hause. In dem Wissen, dass die Nacht auf Donnerstag auch nicht mehr länger als vier Stunden sein wird.

 

***
Donnerstagmorgen.
Halb vier. Der Wecker klingelt – das Packen habe ich auf heute früh verschoben. Während ich schnell einen Kaffee schlürfe, packe ich meine Sachen und mache die Wohnung abflugsbereit. Bis um 5 ist alles im Auto verstaut und dann wird der Motor gestartet.

Es ist das erste Mal, dass ich die Strecke in die alte Heimat selbstständig mit dem Auto fahre. Und es ist… - entspannt. Ich kann los fahren, wenn ich zu Hause in Ruhe alles fertig gemacht habe und der Plan sieht vor, direkt in die Studienstadt zu fahren und dort einen Kumpel zu treffen. Ich muss mich nicht darum kümmern, wo ich vorher mein Gepäck ablade.

Noch in der Dunkelheit passiere ich auf dem Weg zur rund 60 Kilometer entfernten Autobahn alle möglichen Dörfer. Und in jedem Dorf stehen mindestens zwei Blitzkisten. Ich bin eine sehr vorbildliche Autofahrerin und bin früh genug los gefahren, um nicht hetzen zu müssen und dennoch – da ich die Strecke nicht kenne – habe ich Angst irgendwo ein Schild zu übersehen und in einen Blitzer zu fahren.
Ob mir das wirklich gelungen ist, werde ich erst in ein paar Wochen wissen.

Auf der Autobahn merke ich dann doch, dass ich ganz schön müde bin von den letzten Tagen und bei der ersten Pipi – Pause vertrete ich mir gleich mal ein wenig die Füße.

Es ist gegen 9, als ich in die Ballungsgebiete komme, der erste Stau auf den Autobahnen ist. Ich lese Ortsnamen, die seltsam vertraut sind und viel in mir bewegen. Viele Erinnerungen; Gute und weniger Gute und gerade kann ich mich noch nicht entscheiden, wie ich mich fühle, wieder hier zu sein.

Um 10 Uhr parke ich das Auto auf einem recht zentralen Parkplatz in der Innenstadt der Studienstadt, direkt am Fluss. Und das ist auch das Erste, das ich mache. Zum Fluss laufen, den Blick über den Fluss, samt der Altstadt und dem Fernsehturm streifen lassen und in mich hinein spüren.

 

Und ich merke: Ich freue mich sehr, wieder hier zu sein. Diese Verbindung zu dieser Stadt, dem ersten Ort, an dem ich gelebt habe, spüren zu dürfen. Dieser Ort hier wird immer etwas ganz Besonderes bleiben. Und viele gute Erinnerungen tragen. Mich an viele Nachmittage voller Unbeschwertheit in all meinem Chaos erinnern. Und gleichzeitig spüre ich die Traurigkeit. Es ist unfair, dass ich heute hier stehen darf, dass ich es einfach noch sehen und spüren darf, während der verstorbene Freund das nicht mehr kann. Ich würde so unendlich viel darum geben, mit ihm zusammen hier nochmal zu stehen, ihm ein letztes Mal in die Augen zu sehen und zu wissen, dass dieser Moment für immer reichen muss.
Und gleichzeitig spüre ich noch etwas. Es bewegt mich und ich spüre die Tränen in meinen Augen. Aber ich spüre auch, dass ich heute auf einem sicheren Standpunkt stehe. Das letzte Mal als ich hier war im letzten Oktober, schien alles verloren und ich war überzeugt, dass es immer so bleiben muss. Heute stehe ich hier und bin traurig über diese Tragik, die sich abgespielt hat und dass der Freund nicht mehr lebt.
Und gleichzeitig ist heute nicht mehr alles verloren. Heute bin ich sicher. Heute weiß ich: Ein Leben danach ist möglich. Es ist fragil. Aber möglich.

Der Kumpel, den ich treffen wollte, wartet schon. Er weiß um die Bedeutung dieses Flussufers für mich und deshalb gehen wir dort erstmal eine Weile im herrlichsten Sonnenschein entlang. Irgendwann biegen wir in Richtung Altstadt ab und frühstücken dann in einem ganz fancy veganen Restaurant. So etwas gibt es in meinem Nest, in dem ich jetzt lebe, ja nicht. Ich entscheide mich für ein Müsli und einen Kaffee. 


Im Anschluss schlendern wir noch ein wenig durch die Stadt. Es hat sich viel getan hier. Als ich letzten Oktober da war, war die Innenstadt immer noch eine Baustelle und überhaupt nicht schön. Das hat sich geändert; heute ist es eine breite Fußgängerzone mit vielen Läden geworden.
Dieser Moment erinnert mich wieder daran, dass das Leben ein Fluss ist und das hat auch eine seltsame Tragik. Der verstorbene Freund kannte nur die Baustelle. Was daraus geworden ist, hat er nie gesehen. Heute gehe ich durch eine Stadt, die wir beide kennen, aber die sich verändert hat. Es sind über zwei Jahre vergangen seit seinem Tod und es verblasst nicht nur die Präsenz der Erinnerungen, auch die Orte verändern sich.
Irgendwann wird all das was wir hatten, wie eine Erinnerungen auf einem Polaroid – Foto sein. Und das macht mir unglaublich viel Angst. 

 

Mein Kumpel, der mich ja auch schon ein paar Jahre kennt, meldet mir zurück, dass ich über die letzten Monate an mir selbst gewachsen sei. Und dass er das sehr schön fände, mit anzusehen. Und ich – ich finde es auch sehr schön.
Es ist so wunderbar, dem Leben mit ein bisschen mehr Leichtigkeit zu begegnen. Sich nicht mehr überdimensional niedergedrückt von all den Schwierigkeiten zu fühlen. Sondern dazwischen ganz bewusst das Licht wahrzunehmen. Das ist ein ganz großes Geschenk. Und vielleicht ein bisschen etwas davon, was die Leute einst sagten. Irgendwann wird die Studienstadt nicht mehr nur schrecklich sein. Irgendwann werde ich die Erinnerungen zwischen den Straßen glänzen sehen. Ich glaube aber, dass die Voraussetzung dafür ist, fest in der aktuellen Situation zu stehen. 

 

Innenstadt

Am frühen Nachmittag verabschieden wir uns und ich fahre weiter zu einer Freundin. Ganz verrückt, dass das jetzt so einfach ist. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das ein riesiger Aufriss und auf die Art hätte ich diese beiden Menschis nicht in meinem Tag unter bekommen. Und das heißt nicht, dass ich ab jetzt nie wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre und ich bin mir dem Umweltaspekt auch sehr bewusst und nutze ja schließlich nicht durchgängig das Auto, nur weil ich es habe. Aber gerade, wenn die Zeit so begrenzt ist, dann ist es ein sehr bewusst eingesetzter Luxus.
Auch wir beide gehen erstmal einen Kaffee trinken und laufen danach mit ihrem Hund zu einem nahe gelegenen See. Hier waren wir oft mit unseren Eltern, als wir Kinder waren.
Und auch hier spüre ich wieder: Ich wünsche mir die Zeit absolut gar nicht zurück. Ich bin froh, dass ich so nicht mehr leben muss. Und ich möchte alles in meiner Macht stehende dafür tun, meinem Leben ab jetzt eine gute Wendung zu geben. 

Mal kurz unter die Hundebesitzer gegangen...

 

Erst spät am Abend fahre ich zu meinem Elternhaus.
Auch hier gibt es viel innere Arbeit. Ich verstehe langsam: Ich kann nicht ändern, was passiert ist. Ich kann meine Eltern nicht ändern. Es wird immer so sein, dass diese Beziehung sehr emotional kühl ist, dass es viele Dinge in meinem Leben gab, die für mich wichtig waren und die sie einfach nicht miterlebt haben. Entweder, weil ihnen die Offenheit dafür gefehlt hat oder weil wir einfach keine gemeinsame Zeit mehr verbringen konnten.
Das wird immer tragisch sein. Darum werde ich immer trauern. Und gleichzeitig wissen, dass heute die Zeit ist, um das Leben mit den Menschen zu teilen, die ich gern da hätte. Manche Dinge kann man sich nicht aussuchen; andere schon.

Ich bin sehr emotional überfordert an diesem Abend.
Aber im Gesamten froh, dass ich die Fahrt gewagt habe. Trotz Übermüdung schon vorher.
Ich spüre die „alte“ Mondkind. Und ich bin ihr so unendlich dankbar, dass sie bis hierher durchgehalten hat. Ich verspreche, ich werde auf dieses Leben hier aufpassen. Es hängt nicht nur an mir, aber ich verspreche zu tun, was ich tun kann.

 Mondkind

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