Hinter dem Wir
Es ist ein Rauschen durch die Zeit.
Von Moment zu Moment.
So einfach. Sieht es aus. So schwierig, fühlt es sich an.
Gestern.
Ich bin auf dem Weg zu meinem Freund. Dass ich an diesem Abend mit dem
Auto über die kurvigen Landstraßen dorthin fahren darf, war ein paar Stunden
vorher noch nicht klar. Zwar war ich für einen Spätdienst am heutigen Tag
eingetragen und hatte damit morgens theoretisch genug Zeit, um mit ihm zu
frühstücken und wieder zurück zu fahren, aber kurz vor Dienstschluss hat der
Oberarzt festgestellt, dass wir schlecht besetzt sind. Also war es ein zähes
Ringen um Kompromisse. Ich komme um 10 Uhr; das schaffe ich mit viel Beeilung
und kann dafür doch fahren.
Ich komme an und wir nehmen uns erstmal lange in den Arm. „Ich habe
nochmal eine Mail von der Institutsleitung bekommen“, sind so ziemlich die
ersten Worte, die er danach sagt. Und immer wenn ich irgendetwas von diesem
Institut höre, dann zieht sich mir seltsam der Magen zusammen. Es ist so
ungerecht, dass da so sehr in das Berufsleben eines Menschen eingegriffen wird,
nur weil wir uns verliebt haben und beide damit einverstanden waren. Ich bin
erwachsen, ich weiß was ich tue und dennoch traut man uns nicht zu, eine
ehrliche Entscheidung füreinander zu treffen. „Die Approbation rückt gerade in
sehr weite Ferne, wo sie doch schon mal fast greifbar war“, sagt er. Es tut mir
so leid, dass er seine wirklich hübsche Praxis verlieren wird, die Patienten,
die er schon lange begleiten darf und es eben gar nicht klar ist, wie und ob es
mit seiner Ausbildung irgendwann weiter geht. Ich hoffe es sehr, dass es eine
Lösung für seine Approbation gibt – auch wenn ich seine Frustration und die
Idee, das an den Nagel zu hängen, nachvollziehen kann.
An dem Abend reden wir auch noch über die Dienstplanung. Mir schwant
Böses. Da kommt ein langes Wochenende und es sind zu viele Dienste nicht
besetzt. Ursprünglich hatte ich einen Dienst von Freitag auf Samstag und damit
hätte ich eigentlich ab Samstagmittag ein „langes“ Wochenende haben sollen, das
wir gemeinsam verbringen könnten. Ich bereite ihn schon mal darauf vor, dass
das sein kann, dass es nichts wird.
Irgendwann an diesem Abend liegen wir im Bett, ich spüre ihn ganz nah
neben mir und das ist ein kurzer Augenblick von Frieden, bevor ich erschöpft
einschlafe.
Nächster Morgen.
Mit einer Punktlandung stehe ich um 10 Uhr auf der Arbeit, nachdem die
kurvigen Landstraßen von Lastwagen überfüllt waren und ich nur mit halber
Geschwindigkeit fahren konnte.
Nach der Visite planen wir die Dienste. „Es kommt eigentlich niemand
mehr in Frage, außer die Frau Mondkind“, sagt der Oberarzt irgendwann.
Abgesehen von meiner Urlaubswoche arbeite ich also auch in diesem Monat wieder
jedes Wochenende und unser langes Wochenende hat sich mit dem Dienst am Sonntag
soeben drastisch verkürzt auf nicht mal 24 Stunden.
Und dann fällt mir auch noch auf, dass in meinen November – Urlaub
auch zwei Dienste rein geplant wurden, die ich auch noch irgendwie weg tauschen
muss, wenn ich nicht im Urlaub arbeiten möchte.
Ich bin froh, dass ich dieses Jahr bisher fast keinen Urlaub hatte und somit noch ein paar Tage haben werde. Tage, in denen mein Freund und ich sich sicher sehen. Sonst würde ich hier wirklich ziemlich doll verzweifeln. Für ein Privatleben ist dieser Job irgendwie nicht ausgelegt.
Bildchen aus der Geburtsstadt |
***
Ein Rauschen durch die Zeit.
Kaum Zeit, um stehen zu bleiben, sich umzuschauen, im Moment zu
bleiben.
Ich schaue mir die Bilder an, die ich im Urlaub gemacht habe. Wie ich
mit meiner Schwester auf dem Lieblingsberg oder mit dem Freund in Dresden war.
War das wirklich ich? Habe ich das erlebt? Gab es mal eine Woche „Wir“
am Stück? Haben wir uns zwischendurch wirklich so heftig gestritten?
Es ist nicht so, dass ich mich nicht erinnere, aber es verschwindet
alles ein bisschen Nebel.
Und wenn man nur die Oberfläche betrachtet, dann bin ich immer noch
der Meinung, dass man doch bitte kurz die Zeit anhalten könnte. Ich habe mir so
lange gewünscht, mich nochmal verlieben zu können, mein Leben teilen zu dürfen,
einen Menschen an meiner Seite zu haben, in den ich irgendwann vertrauen kann,
dass er bleibt. Das was ich gerade erleben darf war der größte Wunsch den ich
hatte und alleine nicht erfüllbar. Am liebsten würde ich jeden Moment in meinem
Herzen speichern, falls ich irgendwann nochmal so verloren bin, aber irgendwie
habe ich das Gefühl, passiert genau das Gegenteil.
Es ist alles so okay und dennoch ist da so viel dahinter. Seine
berufliche Situation und dass es eben von Außen wie ein Verbrechen behandelt
wird, dass wir uns lieben. Meine berufliche Situation mit dem aktuellen
Dienstchaos und eigentlich wissen wir nie so genau, wann wir uns wieder sehen und
wenn ich komme, bin ich meistens auf dem Sprung. Und ehrlich gesagt habe ich
schon Angst, dass die Beziehung die Distanz, die vielen „es tut mir leid, ich
kann doch nicht kommen, weil ich spontan einen Dienst geerbt habe“ nicht
aushält, obwohl es immer ehrlich, immer echt ist. Was auch bleibt sind
die vielen Schuldgefühle gegenüber dem verstorbenen Freund und die in der aktuellen Intensität sicher auch der Tatsache geschuldet
sind, dass ich bald seine Mutter besuche. Und auch, wenn uns sicher beiden klar
ist, dass es okay ist, sich nochmal zu verlieben, gibt es kaum etwas, das
brutaler zeigen könnte, dass die Welt sich weiter dreht und dass diejenigen die
bleiben weiter leben müssen, auch wenn er bis zum Zeitpunkt seines Todes der
Mensch war, den ich am Meisten geliebt habe und für den ich das Meiste gegeben
hätte.
Im Moment ist da ein Knoten in meinem Kopf. Der irgendwie ganz viel beinhaltet. Ganz viel Dankbarkeit für die jetzige Situation, ganz viel Liebe, aber auch viel Sehnsucht an all den Abenden, an denen wir uns nicht sehen. Und eben ganz viele Sorgen, Schuldgefühle, Traurigkeit.
Und irgendwie fehlt vor allen Dingen Zeit. Nicht nur die Zeit für das
Gegenüber, oder mal die Wohnung in Ordnung zu bringen, womit ich kaum noch
hinterher komme, weil ich so selten zu Hause bin. Sondern vor allen Dingen die
Zeit und auch die Ruhe dafür, innerlich mal kurz anzuhalten.
Es gibt ja noch eine Woche Urlaub im Oktober, die wahrscheinlich der
Freund und ich zusammen verbringen – vielleicht kommt auch meine Schwester
nochmal vorbei – das muss man noch sehen. Und vielleicht ist es gut, dass er
darauf bestanden hat, dass wir wenig bis nichts planen.
Es ist so viel passiert in den letzten Monaten, das ich niemals
nochmal für möglich gehalten hätte. Leider nicht unter den allerbesten
Umständen. Da braucht es vielleicht einfach mal die Gelegenheit, das alles ein
bisschen zu verdauen.
Mondkind
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