im Innen
Was ist dieser Urlaub?
Irgendwie so anders.
So anders, als das gedacht war.
Die Welt, das Leben.
Vor ein paar Tagen noch so sehr geliebt und jetzt plötzlich zu laut,
zu schnell, zu bunt.
Zu viel.
Entschleunigung. Und Beschleunigung.
Mein Schwesterchen, das nicht still sitzen kann. Heute hier, morgen
dort. Berge, Landschaft, Natur. Vorbei an Orten, die doch Bedeutung tragen.
Dieser Berg, der der Lieblingsberg geworden ist. Weil ich hier war, an Deinem
offiziellen Todestag. Weil ich in den Himmel geschaut habe, nicht wusste, was
ich machen sollte, weil ich schon so lange nichts mehr von Dir gehört hatte.
Sorge hatte und gehofft habe, dass mich diese Wanderung auf den Berg nicht
gerade ein Stück näher zu Dir gebracht hat.
Eine Geschichte, die für das Außen zu Ende ist. Die für mich nie zu
Ende sein wird. Die eigentlich Innehalten, Stehen bleiben erfordert. Für das
meine quirlige Schwester natürlich keine Augen, keine Zeit, keine Nerven hat.
Und dennoch mag ich diese Wanderungen durch die Sonne, den Regen, den Nebel. Wir hatten alles; die heißen Tage des Sommers sind vorbei, machen einem Herbst Platz, der im Ungewissen endet.
Gestern.
Das erste Mal den Freund wieder gesehen, seitdem das so eskaliert ist.
Im Vorhinein noch immer ziemlich wütend gewesen, ziemlich enttäuscht, ein
bisschen auf Krawall gebürstet. Solange, bis er da anspaziert kam. Durch den
Park. Mit den obligatorischen wenigen Minuten Verspätung. Mit seiner grünen
Fleece – Jacke. In dem Moment habe ich plötzlich wieder mein Herzchen gespürt.
Ewiges Hin und Her. Zwischen der Frage was werden kann, wenn die
Prinzipien, die wir haben so unterschiedlich sind. Und dem Herz, das nun mal
einfach liebt ungeachtet dessen, was sonst so passiert.
Und jetzt wäre ein neuer Streit auch schon wieder eine neue
Katastrophe. Die ziemlich sicher nächste Woche kommen wird.
Unterwegs... |
Ich dachte, ich wäre schon mal durch damit. Mit dieser Endlosschleife.
Um den Freund.
Aber ich merke, ich brauche eigentlich ein paar Ohren.
Die nun mal de facto gerade einfach nicht so richtig da sind.
Während meine Schwester im Zimmer nebenan schläft, spielt mein Kopf
wieder und wieder diese Tage durch. Hört die Lieder dieser Zeit auf
Dauerschleife.
Die letzten Tage altes Leben. Und die ersten Tage neues Leben.
Die Nächte sind kurz. Zu kurz. Und ich bin dauerhaft zu müde.
Ich spüre so viel Traurigkeit in mir.
Über all das, was wir nicht mehr teilen konnten.
Wie wäre das Leben gewesen, wenn da die Voraussetzungen gewesen wären,
die da heute sind?
Wenn ich mit meinem Auto einfach mal so in die Studienstadt hätte
fahren können? Wenn wir uns öfter hätten sehen können, nachdem ich in der Ferne
war?
Wie wäre das eigentlich gewesen, wären wir beide zusammen wirklich in
die Geburtsstadt gefahren? Was hätten wir erlebt? Wie hätte es Dir gefallen?
Würden wir immer noch so viele unserer Diskussionen über das
Gesundheitssystem führen, wie damals?
Wie wäre das, wenn Du heute wirklich bei mir leben würdest? Wie hätten
wir die Wohnung eingerichtet?
Ich vermisse all die Erinnerungen, die wir nie gemacht haben.
Und so schön dieser Sommer auch war, aber manchmal tut es einfach
immer noch so sehr weh.
Und das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht unfassbar dankbar für
diesen Sommer wäre. Ich wünsche mir, dass der lebende Freund bleibt, auch wenn
ich es nicht weiß und er wahrscheinlich auch nicht. Da ist ganz viel Liebe in
meinem Herz für ihn und ein Leben ohne ihn möchte ich mir nicht vorstellen
müssen.
Und gleichzeitig habe ich vielleicht ein bisschen gehofft, dass das
Pulsieren des neuen Lebens die alten Wunden ein bisschen heilen kann. Und ich
glaube, das Umfeld geht auch stillschweigend davon aus, dass es so ist.
Aber wenn es ruhiger wird dann merke ich, dass es nicht so ist. Dass
es vielleicht nie so sein wird. Und, dass das auch verdammt okay so ist. Auch,
wenn es sehr weh tut.
Und so oft sind da nicht mal Worte. So oft ist da nur stilles Fühlen
und immer noch das Gefühl, dass das Herz daran ein Stück weit zerbricht.
Und vielleicht sind wir doch wieder an diesem viel zitierten Satz: „Es
sind nie die schweren Momente, in denen das Fehlen groß wird. Sondern die
kleinen Augenblicke, die man nicht mehr teilen kann.“
Ich würde so vieles – so vieles – gern noch teilen können. Dich so oft
um Deine Meinung fragen. Und manchmal einfach nur Dein Lachen hören, wenn ich
wieder irgendetwas ziemlich Blödes gesagt habe.
Und so oft in diesen Tagen würde ich mir wünschen, dass diese
Traurigkeit akzeptiert wird, dass die Worte in mir Ohren finden würden, dass
die Tränen, die ich in mir spüre gesehen werden dürften. Dass es nicht ständig
heißt, „aber Mondkind wir müssen uns beeilen und wir haben doch noch etwas vor.“
Ja, wir haben noch etwas vor. Aber ich spüre auch, dass da etwas bewegt werden
möchte in mir.
Und ich spüre, dass ich manchmal mitten im größten Kopfchaos
eigentlich ganz still sein und hinhören möchte. Für das im Urlaub eigentlich
Zeit sein sollte, die aber irgendwie doch nicht da ist.
Und manchmal denke ich mir: Vielleicht gehört es alles irgendwie dazu.
Einzusehen, dass mein Leben weiter gehen darf, während seins für immer Stehen
geblieben ist.
Und so brutal und gemein wie es sich auch anfühlt – fast wie ein
Verrat – vielleicht ist das immer noch okay, die alten Ideen und Werte zu
vertreten. Immer noch der Meinung zu sein, dass es für mich Sinn macht, Leben
und Erleben zu teilen, Lieben und geliebt zu werden. Dass es mir im tiefsten
Herzen so viel wichtiger war, als so vieles andere.
Mit dem verstorbenen Freund geht das alles nicht mehr. Aber vielleicht
sollte das für mich nicht heißen, dass ich mich immer schuldig fühlen muss,
wenn ich mich dabei ertappe, dass ich es genieße, das nochmal erleben zu
dürfen.
Ich muss nur mal irgendwann vielleicht lernen, dass ich nicht so viel
Schuld trage, wie ich glaube, dass ich ihn nicht gebeten habe, das zu tun, was er
getan hat. Dass ich auch mich selbst sehen darf, die für immer mit dem was
passiert ist, weiter leben muss. Und das so gut tun sollte, wie es eben geht.
Morgen fahren wir erstmal mit dem lebenden Freund auf Trommelkurs –
ich bin ja so gespannt, was ich berichten werde – und ab Sonntag habe ich ihn
dann ein paar Tage für mich alleine, worüber ich sehr glücklich bin. Nicht,
dass ich ihn jetzt so wirklich teilen müsste, aber wenn ständig Dritte um uns
herum springen, finde ich das irgendwie anstrengend. Und deshalb – es stimmt ja
nicht ganz; wir sind ja dazwischen noch in der Geburtsstadt und treffen einen
Teil der Familie wieder. Ich frage mich auch schon, ob die Idee so gut war.
Noch vor ein paar Tagen war ich da deutlich unternehmungslustiger.
Aber vielleicht wird es auch wieder ruhiger in mir. Er ist sehr ruhig
und stresst eigentlich nie rum, das wird mir sicher helfen. Und vielleicht
sollen wir uns für den nächsten Urlaub, der im Oktober schon auf dem Fuße
folgt, einfach mal nicht viel vornehmen.
Mondkind
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