Nachtgedanken

Es ist mitten in der Nacht.
Ich weiß nicht mehr, wie ich liegen soll.
Mir tut ungefähr alles weh, das irgendetwas mit dem Rumpf zu tun hat. Bauch, Rücken, das Atmen schmerzt.
Das mit dem Schlafen hat keinen Sinn.

Ich setze mir die Kopfhörer auf die Ohren und schalte ein bisschen Musik an.
Das Hirn ist irgendwo in sich selbst gefangen, bekommt den ein oder anderen Song mit, andere rauschen nur so halb im Bewusstsein vorbei.

Es gibt Lieder, die haben Geschichten. Lassen mich hochschrecken, wann immer sie an meine Ohren dringen.

Wenn du gehst
Dann lass 'n bisschen was von dir
Hier bei mir, hier bei mir
Weil ich eigentlich schon weiß
Du fehlst mir
(Johannes Oerding – Wenn Du gehst)

Und plötzlich bin ich wieder dort. Anfang Juli 2020. Wenige Tage nach dem schrecklichsten Ereignis meines Lebens.
Geschlossene Station. Ich habe den Laptop mitgenommen, was auf einer solchen Station ein hochriskantes Unterfangen ist. Neben mir steht eine Teetasse, meine Finger schweben über die Tastatur, versuchen irgendwie den Schmerz von der Seele zu schreiben. Auf den Ohren läuft dieses Lied. Auf Dauerschleife. Ich habe es vor mir, wie einen zwei Sekunden dauernden Film, der immer in derselben Schleife rennt. Absolute Trostlosigkeit. Ganz alleine.
Er hatte nichts da gelassen. Gar nichts. Keinen Abschiedsbrief, nichts in meiner Wohnung, an dem ich mich festhalten kann, jetzt wo er nicht mehr da war. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass ich die Studienstadt das nächste Mal besuchen werde, ohne ihn zu sehen. Auf der geschützten Station sitze, weil er nicht mehr da ist. Und, weil ich gerne mitsterben würde. Nicht, weil ich grundsätzlich der Meinung bin, ohne ihn absolut nicht mehr leben zu können. Aber, weil ich mich so schuldig gemacht habe, weil ich nicht auf ihn aufpassen konnte, weil ich so viele Patienten durch ihre Verzweiflung bringen konnte, so viele Nächte an Betten gesessen habe und die Menschen begleitet habe, bis es hell wurde – nur bei meinem eigenen Freund hatte ich das nicht geschafft.

Mut ist es zu sagen, dass es für dich Liebe ist
Nicht zu wissen, ob du für den anderen auch schon Liebe bist
Mut sind keine Worte, die auch jeder andere denkt
Kein perfekter Moment, den der Zufall dir schenkt
(Alexa Feser – Mut)

Dort komme ich auch vorbei.
Der Song meines Frühlings.
Vielleicht sollte ich mutig sein, dachte ich mir damals. Wie soll mein Gegenüber wissen, dass ich ihn so gern in meinem Leben hätte, wenn ich das nicht sage?
Und dann ist Mut nicht nur einfach Mut. Nichts, das einfach nur ein bisschen heldenhaft ist. Mut heißt zu registrieren, dass da ganz viel Angst und Unsicherheit ist. Die erste Beziehung nach diesem Tod wird nicht einfach. Soviel war klar. Mut ist, es trotzdem zu riskieren. Das Risiko endet aber nicht mit der Entscheidung. Sondern mit allem, was dran hängt. Bis die Geschichte zu Ende ist.

Es ist nicht lange her, dass ich die beiden einander vorgestellt habe.
Letztes Wochenende hat der lebende Freund das erste Mal ein Foto vom verstorbenen Freund gesehen. Für ihn war das wahrscheinlich nichts Großes, für mich war das irgendwie seltsam. 

Wanderung von gestern. Da sind so tolle Fotos entstanden. Da ging es noch einigermaßen...

„Das merkt man nicht so, aber eigentlich bin ich ein ziemlicher Hasenfuß“, habe ich letztens gesagt.
Schließlich hatte ich auch schon viele Jahre Zeit um zu üben, den Hasenfuß zu verstecken. Aber er ist immer noch da.

Es ist nicht so, dass ein neuer Freund alle Probleme, die da vorher waren, beseitigt. Die Frage ist, ob ich nicht noch mehr Sorgen an den Hacken habe, als früher.
Das Ding ist nur – wenn man mit einem Psychologen zusammen ist, kann man nicht ständig irgendwelche Krisen schieben.
Es war der stabilste Sommer seit Jahren. Ich eigentlich durchgängig auf Achse. Wenige Wochenenden nur zu Hause. Ich glaube, mir war das schon sehr bewusst. Dieses Leben auf der hohen Kante. Das Wissen, dass das hellste Licht das tiefste Fallen nach sich ziehen kann.
Der Körper zeigt seit Wochen die Grenzen. So viele Schmerzen wie in den letzten Monaten, hatte ich mein ganzes Leben davor zusammen genommen nicht. Vielleicht kanalisiert mein Körper jetzt anders, will Grenzen zeigen, die ich nicht richtig ernst nehme.
Und an diesem Morgen siegt dann doch mal die Lethergie. Der Kreislauf spinnt sobald ich aufstehe und quittiert das mit Schwindel, Herzrasen und Schweißausbrüchen. Der Magen kann sich nicht beruhigen. Ein Kaffee weckt mich nicht auf.
Der Tag war ruhig geplant, aber nicht so.

Ich lege mich vom Bett aufs Sofa und schicke meine Schwester alleine in die Stadt, die meine Startschwierigkeiten in den Tag mit „Mondkind, wir können hier doch nicht den ganzen Tag rumliegen“, quittiert. Eigentlich hatte ich mitkommen wollen. Eigentlich brauche ich nämlich ein paar Pullover für die kälteren Tage, die sicher bald kommen.

Nichts von dem, was da irgendwann mal war, ist gelöst.
Vielleicht löst die Zeit die Dinge nicht. Das war schon letztens mal Thema.
Vielleicht konnte ich das einfach nur gut verdrängen, hinter allem was diesen Sommer passiert ist. Und hinter der Tatsache, dass ich kaum Zeit hatte, mich mit irgendetwas zu beschäftigen.
Und vielleicht wird mir das gerade klar, in dieser Ruhe an diesem Morgen, die ich so sehr brauche.

Nächste Woche wollen der lebende Freund und ich vielleicht nach Dresden fahren. Noch ist das nicht klar. Das war schon mal der Plan. Zwischen dem verstorbenen Freund und mir. Und dann war wieder irgendetwas mit der Arbeit glaube ich und wir haben es nie gemacht.
Ich drehe die alten Revolverheld – Lieder wieder auf. Die Songs, die wir beide gehört haben und mitsingen konnten. Und dann spüre ich die Tränen wieder.
Es ist nicht okay. Ich wünschte so sehr, er wäre noch hier. An meiner Seite. Ich wünschte, ich könnte immer noch das Telefon in die Hand nehmen und seine Nummer wählen. Ich wünschte, ich könnte noch ein Mal diese Telefonate erleben. Die so viel Unbeschwertheit waren. Die selten schwer waren.
Und ich wünschte, er hätte etwas bei mir gelassen. Bevor er gegangen ist. Und wenn es nur ein T – shirt gewesen wäre. Oder auch, wenn es nur wäre mir sicher zu sein, mich an seine letzten Worte zu erinnern, die er mir gesagt hat.
Wir haben uns nicht getrennt, weil die Liebe nicht gereicht hat. So, wie das vielleicht bald mit dem lebenden Freund sein wird. Wir wurden getrennt durch den Tod. Die Sehnsucht nach dem anderen bleibt.

Ich spüre die Angst in mir.
Die Angst, dass die Beziehung mit dem lebenden Freund nicht halten kann. Weil wir beide unsere Prinzipien haben und einer von uns die aufweichen muss. Und das werde ich sein, wenn wir eine Chance haben wollen. Das nützt mir nichts, wenn ich Menschen im Rücken habe, die in manchen Punkten meiner Meinung sind, wenn er die eben nicht vertreten kann.
Ich habe Angst, dass diese Beziehung weiter geht und ich mich selbst ein Stück weit verrate. Und ich habe genauso viel Angst davor, ihn gehen zu lassen. Ich habe Angst, mir wieder das Herz zu brechen. Ich weiß, das letzte Ende meiner Beziehung war schlimmer, aber ich weiß auch, dass sich dieser Schmerz nicht abkürzen lässt.
Ich habe Angst mit diesem Job. Ich glaube, der Zenit ist schon wieder überschritten. In den letzten Wochen war ich eigentlich nur noch gereizt von den Patienten, was immer ein deutliches Zeichen dafür war, dass es zu viel war. Ich versuche, zu jonglieren. Mich nicht damit zu stressen, dass Termine – seien es nun eigene Arzttermine, oder Termine wegen des Autos oder all solche Dinge – eigentlich unmöglich zu vereinbaren sind, weil da zu viele Überstunden auf der Arbeit zu leisten sind. Ich habe Angst, dass die mich doch noch in die Intensivdienste tun. Ich habe Angst zu wenig für die Arbeit zu tun, nicht kompetent genug zu sein.

Ich habe Angst, dass es zu viel wird mit allem, was da gerade ist. Chaos in allen Bereichen des Lebens.
Ich kenne mich, ich spüre das.
Ich habe Angst vor dem Fallen und davor, wie hart der Boden sein wird.

***
Am Nachmittag telefoniere ich mit meinem Papa.
Ich weiß nicht mehr, wann wir das letzte Mal so ein Telefonat hatten.
Er wollte mich nochmal sprechen nach dem Wochenende. „Mondkind, Du hast nicht so ganz glücklich gewirkt am Wochenende. Nach drei Monaten Beziehung erwartet man eigentlich etwas anderes…“ „Es ist schwierig mit uns“, sage ich und denke nebenbei, dass ich doch dachte, wir hätten da recht harmonisch gewirkt. „Das habe ich mir gedacht, deshalb rufe ich Dich an.“ Und dann packe ich mit vielen Tränen einfach mal alles aus. Es geht um all die Grundsätze. Um die Frage nach der Polygamie, Sexualität, Verhütung, Kinderwunsch. Um die Sache mit den Kompromissen und darum, dass ich das Gefühl habe, dass mir da ständig die Pistole auf die Brust gesetzt wird, dass ich ständig zumindest mal potentiell von ihm verlassen werde und mir eigentlich niemals sicher sein kann. Auch, wenn es gerade okay zwischen uns ist. Um die Müdigkeit von dieser Beziehung.
„Aber Mondkind, Du hast doch da ganz andere Vorstellungen als er“, sagt mein Papa irgendwann. „Irgendwie schon“, entgegne ich. „Hätte ich das von Anfang an gewusst, würden wir auch heute ganz sicher keine Beziehung führen, aber es ist jetzt eben so. Ich liebe ihn halt. Trotz allem“
Und dann kommt ein Papa – Tochter - ins – Gewissen – Reden. Aktuell bitte kein Kind mit ungefähr 24/7 auf der Arbeit und allen Verwandten ganz weit weg und dann, wenn es keine sichere Familie für das Kind gibt. Keine Drogen nehmen. Auf mich selbst und meine Prinzipien hören. Und gut nachdenken. Und am Ende weine ich schon wieder. Weil es mich so berührt zu spüren, dass er sich ernsthafte Sorgen macht. Und weil ich weiß, dass Papas oft auch ein bisschen Recht haben.

Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt.
Ganz anders.
Aber jetzt ist es so.
Und bisher habe ich alles irgendwie immer gerockt.
Wenn ich schon sonst nicht viel weiß, weiß ich zumindest das.

Mondkind


Kommentare

  1. Das ist das erste Mal, dass du über die Themen schreibst, die euch so auseinanderzerren - das macht das Lesen und Nachfühlen ein bisschen einfacher, von daher danke ich dir für deine Offenheit. Ich glaube dir, dass es unendlich schwierig ist, solche Grundprinzipien andauernd ausdiskutieren zu müssen. Deine Bedürfnisse in diesen Themen sind ebenso wichtig wie die deines Freundes.

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    1. Danke für die lieben Worte...
      Das wird uns wohl beide noch unendlich viele Nerven kosten... - wenn es überhaupt am Ende klappt. Ich bin da nicht mehr so zuversichtlich. Wie hat meine Schwester das gestern so niedlich formuliert: "Ihr müsst Euch einfach mal in den Arm nehmen." Leider ist es so einfach eben nicht.

      Mondkind

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  2. Auch ich danke dir sehr vielmal für deine Offenheit, denn auch mich, als sehr, sehr, sehr treue Leserin von dir, hat es mich wirklich Wunder genommen, worin die Probleme in etwa stehen in deiner Beziehung. Nun wird mir doch einiges klarer und ich bitte dich, dir treu zu bleiben und nichts zu machen, wozu du (noch) nicht bereit bist!!!!

    Mich berührt es auch ungemein für dich, dass sich dein Vater bei dir gemeldet hat und seine Sorgen mit dir teilte.

    Liebste Mondkind, bitte, bitte mach nichts um des lieben Friedens willen, denn genau das hast du dein gesamtes Leben lang gemacht; nämlich, es allen recht zu machen und bei solchen Themen bitte ich dich ganz fest, bei dir zu bleiben und NICHTS zu tun, wohinter du nicht stehen kannst.

    Was mich besorgt, ist der Satz worin du du Drogen ansprichst...Darf ich denn fragen, ob du welche nimmst? Geht es da um weiche oder harte Drogen? Und ist es bereits eine Abhängigleit? Das hat mich nun doch ziemlich fest besorgte Gedanken um dich ausgelöst... Vielleicht habe ich da was aber auch falsch verstanden..

    Ganz herzliche Grüsse Nicole (alias fechtkuenstlerin3 auf Instagram); falls du magst, darfst du mir auch dort schreiben, falls du etwas nicht öffentlich beantworten möchtest. Ich biete dir gerne an, dich bei mir auch sonst dort schreiben zu können, falls du ein offenes Ohr oder Augen brauchst. <3

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    1. Hallo liebe Nicole,
      Danke Dir erstmal für Dein langes Kommentar...

      Naja, ich hätte bis vor einem halben Jahr auch nicht gedacht, dass ich mal in eine Beziehung gerate, in der ich mich mit diesen Themen auseinander setzen muss und da für mich irgendwelche Kompromisse finden muss. Gerade was die Polygamie angeht - ich kannte mal einen Menschen, der sich sehr damit auseinander gesetzt hat und für mich war damals klar, dass das gar nichts für mich ist. Und jetzt... - da ich das am Anfang nicht von ihm wusste, war schon die Frage, ob das jetzt ein Trennungsgrund ist. Aktuell haben wir da eine Teillösung gefunden, wie wir beide damit umgehen, aber glücklich macht mich das nicht...

      Was den Hinweis angeht, nichts zu tun, was ich nicht möchte: Das ist halt auch eine schwer zu ziehende Grenze. Wie viel bin ich bereit meinem Partner zu geben und selbst zurück zu stecken, wenn er sich Dinge von mir unbedingt wünscht? Wie ist das, wenn ein Nichterfüllen der Wünsche dann wieder die Beziehung gefährdet? Und wo fange ich an, mich selbst zu verraten?
      Ehrlich gesagt, es ist so viel los hier mit Job und Beziehung, dazwischen noch aller möglicher anderer Kram, dass ich befürchte, da einige Dinge nicht so ausreichend reflektiert zu haben - obwohl ich jetzt auch aktuell heute nicht sagen könnte, dass es sich jetzt ganz blöd anfühlt.

      Was die Drogen anbelangt: Der Satz steht da - wie das Wenigste auf meinem Blog - natürlich nicht für umsonst und hat einen Hintergrund, allerdings hat das nicht viel mit mir zu tun; ich nehme keine Drogen und habe auch fest vor, das nicht zu tun. (Und bevor die Frage kommt - mein Freund auch nicht in dem üblich verstandenen Sinn... ich habe auch ein bisschen gebraucht um zu begreifen, was da Sache ist).

      Ganz herzlichen Dank Dir nochmal und auch für Dein Angebot mich melden zu dürfen; ich denke ich werde darauf zurück kommen.

      Liebe Grüße
      Mondkind

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