Vom Urlaub und der Stille

Ich glaube, wenn ich über die letzten Tage schreiben müsste, dann würde ich sagen: Wir haben viel entspannt, wir waren auf dem Lieblingsberg, wir sind still durch den Regen gelaufen, haben den Kerzen beim Brennen zugeschaut, in der Badewanne gelegen und uns gegenseitig ein Buch vorgelesen.
Und wenn mich jemand fragen würde, ob es gut war, dann wüsste ich es nicht. Weil die Resonanz fehlt. Weil es kein gut und kein schlecht gibt, kein wollen oder nicht – wollen. Weil es einfach nur unendliche Leere und sehr viel Traurigkeit gibt. Sehr viel Anlehnen an das was war, sehr viel Angst vor dem, was kommen wird. Das Gefühl von ganz tiefer Einsamkeit, obwohl ich sehr offensichtlich nicht alleine bin.

Die Atempause von Urlaub hat sich eher weniger wie Urlaub angefühlt. Sondern viel eher wie Überleben.
Vier Tage hat es gedauert, bis ich dem Freund davon irgendetwas erzählen konnte. Oder… - erzählt habe ich es gar nicht. Es war eher so, dass ich gemerkt habe, dass ich jetzt dringend mal kurz Zeit für mich brauche, um einfach kurz zu reflektieren, was hier gerade los ist. Und dann dachte ich mir, eigentlich kann er den Text auch lesen, er trifft es gerade irgendwie zumindest ein bisschen. Und Formulieren kann ich das ihm gegenüber gerade einfach nicht – dazu schäme ich mich so sehr und habe Angst, dass er mir das übel nimmt. Die Zeit, in der wir über solche Gemütszustände etwas unbefangener reden konnten, sind vielleicht vorbei.

Und das hier gerade, das ist irgendwie mehr als dass die Stimmung mal nicht passt. Das ist mehr, als ein persönliches Vermissen der hellen Tages des Sommers. In denen rein äußerlich betrachtet so wenig anders war, als heute – außer dass wir natürlich eher Fahrradtouren gemacht haben, als in der Badewanne zu liegen. Es war ein Feuerwerk in mir jedes Mal, wenn er meinen Körper irgendwo berührt hat. Jeder Kuss hat mich so bewegt, dass ich hätte weinen können vor Glück. Und jedes Mal, wenn ich hinter ihm her geradelt bin, dann habe ich mir gedacht, was für ein Wunder es doch ist, das wir unser Leben miteinander teilen dürfen. Dass ich – um das Thema Augenblicke aufzugreifen, um die es in dem Buch ging, das wir uns am Wochenende vorgelesen haben – zum ersten Mal seit sehr langer Zeit einen Augenblick im richtigen Moment beim Schopf gepackt habe wohl wissend der Risiken (naja, nicht aller, aber zumindest ein Teil), die das mit sich bringt.
Das hier ist mehr, als die Lücke, die das Leben hinterlassen hat. Ich war so euphorisch im Sommer, konnte die Zukunft kaum noch abwarten und was das Leben wohl noch für mich und für uns bereit halten mag. Ich konnte es kaum glauben, dass ich es echt schaffen kann, den Job und die Beziehung zu jonglieren, dass der Job zwar fordernd war und ich immerhin oft Angst hatte, aber dass ich die blöden Momente als notwendiges Übel zwischen den guten Momenten sehen konnte. Ohne diesen Sommer und ohne alles was passiert ist, hätte ich die Intensivstation und all das Leiden dort wohl nicht so gut weg gesteckt.
Das hier ist mehr als Grau, das über der Welt zu liegen scheint. Mehr als die Schwere, die sich morgens so lähmend anfühlt, dass ich schon weinen möchte, wenn ich aufstehen soll.

Das hier gerade ist sogar mehr als das, was mich am Meisten daran quält. Die Stille zwischen dem Freund und mir, weil wir wohl beide wissen, dass da etwas ist, das wir das nicht haben wollen. Dass das Wort Depression wieder fallen könnte, wenn man ehrlich wäre. Und, dass ich auch keine Ahnung habe, wie ich da eigentlich hin gekommen bin. Es ist auch mehr als Fehlen des Feuerwerks in mir, wenn er mich in den Arm nimmt. Um irgendeine Resonanz zu spüren, muss er mich schon so fest in den Arm nehmen, dass ich fast das Gefühl habe, er erdrückt mich. Das könnte er bitte durchgehend den ganzen Tag machen. Und in diesen Momenten bin ich mir auch sicher, dass ich ihn immer noch sehr liebe, auch wenn da sonst viel fehlt.


Der Freund hat den Lieblingsberg nicht gerade von seiner besten Seite zu sehen bekommen. Ich hoffe, er mochte ihn trotzdem. Diesen Ort, den ich so sehr liebe. Und als ich das letzte Mal hier war, hatte ich ihn noch am Telefon dabei, wir waren noch beim "Sie" und ich habe mich noch nicht gewagt darüber nachzudenken, ob wir irgendwann Hand in Hand hier entlang laufen. Haben wir gemacht.

Das hier gerade, das ist auch noch etwas anderes.
Das ist, wenn ich morgens in den Spiegel schaue und keine Ahnung habe, wer mich da eigentlich anschaut. Wie es dem Menschen da eigentlich geht. Weil da eben keine Resonanz mehr ist. Weil jedes innere Nachspüren im Nichts endet. Aber ich glaube, mir geht es nicht gut.
Und das hier gerade, das hat mit Angst zu tun. Weil die Welt zu groß ist. Weil ich mir manchmal tatsächlich die Zeit zurück wünsche, in der die Welt zwei Flurlängen lang war und ich wusste, dass die einzige Herausforderung darin liegt, den Tag zu bewältigen – was mit diesem ganzen inneren Schmerz schon genug ist. „Heute tut mir die Seele weh“, sagte mal ein Patient zu mir, was einer der ehrlichsten und berührendsten Sätze war, die ich von einem Patienten je gehört habe. Weil es so einfach, so geradeaus, ehrlich, brutal und manchmal so wahr ist. Manchmal tut einfach die Seele weh. Und das hier gerade, das hat mit Angst zu tun. Weil man sich ungefähr fühlt wie ein Welpe kurz nach der Geburt, so zerbrechlich und schutzlos und so, als hätte man nie Medizin studiert. Und trotzdem sind unzählige Dienste in den nächsten Tagen zu absolvieren, ist unglaublich viel Verantwortung zu tragen. Und so zu tun, als sei nichts. Als würde die Seele nicht weh tun, der Kopf nicht Schleifen rennen, das Leben sich nicht seltsam fremd anfühlen.
Und das hier gerade, das hat auch irgendetwas mit Ambivalenz zu tun. Eigentlich möchte ich nicht alleine sein, aber irgendwie auch doch, weil das die einzige Möglichkeit ist, dass sicher niemand etwas von mir will. Ich könnte den ganzen Tag eingerollt an der Seite des Freundes liegen, könnte den ganzen Tag spüren, wie er mich hält und gleichzeitig ist es mir schnell zu viel, weil ich so unruhig bin, dass ich mich gefühlt jede Minute anders hinlegen muss und das irgendwie uns beide stört.
Und Entscheidungen, das ist auch so ein Ding. Wie soll ich Entscheidungen treffen, wenn ich keine Resonanz in mir spüre? Das fängt schon ein Grundbedürfnissen an. Habe ich eigentlich Hunger? Will ich den Freund diese Woche vor dem Dienst nochmal besuchen, auch wenn das Zusatzstress bedeutet? Wann mache ich die Wäsche?

Ich versuche alles so weiter zu machen, wie bisher.
Der Alltag war nicht so schlecht vorher, also kann es nicht so schlecht sein, einfach weiter zu machen, bis die Tage wieder heller werden. Wann auch immer das sein wird.

Gestern Abend auf dem Sofa.
Der Freund und ich sitzen nebeneinander. Er legt seinen Arm um mich und nimmt meine Hand, nachdem er fertig gelesen hat.
Warum ich ihm den Text gegeben habe, fragt er. „Weil ich es irgendwie teilen muss. Ich kann es nicht mehr alleine tragen“, sage ich irgendwann. Ich weiß, dass er absolut nichts daran ändern kann. Und dass das vielleicht auch taktisch nicht so klug ist, ihn einzuweihen. Aber die Schwere auf mehrere Schultern zu verteilen, hat zumindest früher ab und an geholfen.
Ich frage ihn trotzdem, was ich tun muss. Wie das jetzt alles weiter gehen soll. „Mit Disziplin und Ordnung“, sagt er dazu. Und obwohl mich dieses Kommentar ein bisschen ärgert, weil solche Zustände einfach nur mit sehr viel Disziplin zu bewältigen sind, wenn man den Alltag aufrecht erhalten will und ich mit dieser eisernen Disziplin die Behandler oft fast zur Verzweiflung gebracht habe, hat er wohl zumindest kurzweilig einfach Recht. Und in der Ecke liegen und Löcher in die Luft starren bringt halt auch einfach nichts. Das habe ich den kompletten letzten Dezember vor der Klinik gemacht, weil da wirklich überhaupt nichts mehr ging. Auch nicht mit Disziplin. „Die Mondkind kommt auch mit einem Hb von 2 auf die Arbeit“, sagte die potentielle Bezugsperson mal und im Prinzip stimmt das auch. Wenn ich dort nicht mehr erscheine, ist das Problem größer als Disziplin.

Wie ich hier rein geraten bin, weiß ich indes immer noch nicht. (Und auch nicht, ob es das letzte Mal sein wird – wo ich doch diesen Sommer dachte, dass ich es da vielleicht endlich raus geschafft habe… Im Gegensatz zu dem, was manchmal behauptet wird, macht das nämlich nicht sonderlich viel Spaß. Und viel zu lange hat es wahrscheinlich auch gedauert, bis ich mir das eingestehen konnte, das macht es meist auch nicht einfacher).
Ich vermute, das war Mehreres. Vielleicht sogar, wie der Seelsorger letztens sagte, dass ich nochmal über mich selbst gestolpert bin und dem, was war. Nicht nur mit dem verstorbenen Freund und dass ich mich immer noch frage, ob das mit dem lebenden Freund so okay ist. Und da auch nicht nur eine Entscheidung zu treffen ist, sondern sich das auch auf einer tiefen emotionalen Ebene richtig anfühlen muss. Und zwar nicht nur richtig im Jetzt, sondern auch in Bezug auf die Vergangenheit. Und gerade wo die Weihnachtszeit näher rückt, wo ich erstmals seit Jahren einen Platz zu Weihnachten haben werde, an dem ich auch willkommen sein werde und nicht nur geduldet werde, oder „Asyl“ bekomme, bringt das auch noch mal viel alten Schmerz hoch. Viele Dinge, die nicht mehr zu kitten sind. Und die man – wie der Lieblingspsychiater des verstorbenen Freundes mal sagte, der kürzlich Facharzt geworden ist, wie ich herausgefunden habe – mit seiner eigenen Familie nur besser machen kann. Und trotzdem vermisse ich diese Zeit damals. Paradoxerweise. Sie muss mir etwas gegeben haben. Naja… - den Freund, mit dem ich eine Ebene von Beziehung gelebt habe, die ich glaube ich nie wieder erleben werde. Den Schutz der Ambulanz, das wöchentliche Sortieren meines Kopfes und meines Lebens mit den alternativen Säulen, weil die Familie nicht mehr tragen konnte. Das fehlt mir sehr. Das Studium, wo ich nur die Verantwortung für mich selbst hatte. Das Labor, das in den Semesterferien mein Wohnzimmer war. Und manche Lebenserfahrungen, die ich einfach noch nicht gemacht hatte. 

Was wir jetzt daraus machen, weiß ich nicht. Die Situation ist einfach echt ein bisschen undankbar. Wir haben nie darüber geredet, was wir machen, wenn das hier passiert. Wahrscheinlich scheuen wir uns beide. Ich, weil ich nicht will, dass der Freund doch ärgerlich wird, weil er seine Arbeit auch noch zu Hause sitzen hat. Und er vielleicht, weil der Angst hat mich mit Dingen zu konfrontieren, bei denen ich erstmal ärgerlich werde. Und weil einfach nur Partner sein, wenn einer einen Sockenschuss hat und der andere Therapeut ist, halt einfach schwierig ist.

So – ich muss los zur Arbeit dackeln. Der Oberarzt ist nach zwei Wochen Urlaub auch wieder da…
Ich bin gespannt, was das heute gibt. Hoffentlich keine bösen Überraschungen. Kann ich nicht gebrauchen. Echt nicht.

Mondkind


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