Über ein Zueinander finden

Donnerstagmorgen
Ich bin zwar früh wach, obwohl wir sehr spät im Bett waren, aber es fühlt sich ein bisschen freier und leichter in mir an. Endlich. Nach so langer Zeit. Nachdem das hier alles längst überfällig war.           

Zurück in die Dienstnacht. Von Dienstag auf Mittwoch.
Mal wieder ein Dienst, der mir spontan angehängt wurde, der die Pläne der Woche wieder durcheinander geschmissen hat. Ich bin dabei, noch auf ein paar Laborwerte von verschiedenen Patienten zu warten und einige Dialysen muss ich auch noch kontrollieren, aber bis dahin ist es noch ein Stündchen Zeit.     
Ich nutze die Stille der Nacht, um ein bisschen in mich zu gehen, um über die Situation mit dem Freund und mir nachzudenken. Und finde keine Worte in mir, die ich auf das Papier bringen kann. „Ambivalenz“ steht da nach sehr langer Zeit auf dem Blatt – was ich damit sagen möchte, weiß ich selbst nicht genau.
Irgendwann kommt mir etwas in den Sinn. Das man in den letzten Tagen schon hätte raus lesen können, aber vermutlich war jeder so mit sich selbst beschäftigt, so verletzt vom jeweils anderen, dass wir das Offensichtliche übersehen haben. Der Freund und ich haben schon unsere Baustellen miteinander, objektivierbare Sorgen, aber vor allen Dingen haben wir ein Kommunikationsproblem. Er hat keine Ahnung, wo ich bin und ich habe keine Ahnung wo er ist. Und er ist wütend, weil er merkt, dass ich anders bin, als vorher. Er bezieht das auf sich und fühlt sich deshalb zurückgewiesen und abgelehnt, dabei versuche ich emsig zu vermitteln, dass es schon alles okay ist.       
Vielleicht müssen wir reden. Klartext. Vielleicht ist das, was ich zu sagen habe auch nicht schön, aber wenn das so weitergeht, dann werden wir uns trennen ohne das am Ende klar wäre, warum eigentlich.
Ich schreibe dem Freund am Morgen schon mal, dass ich am Abend etwas besprechen möchte.

Den Mittwoch verbringe ich im Dienstfrei; schlafen kann ich nicht, aber die zu erledigenden Dinge schaffe ich auch nicht wirklich.        
Abends fahre ich dann rüber zu meinem Freund. Wir beschließen erst zu essen und dann zu reden.
Ich finde, es ist ein anstrengendes Gespräch. Extrem anstrengend. Obwohl er sich da überhaupt nicht sperrt, aber bisher war alles was hier passiert nur bei mir und nicht bei ihm. Es laut zu sagen, macht es irgendwie so echt. Ich berichte, dass sich meine Welt verändert hat. Dass all die Farben nicht mehr da sind, dass eine unendliche Leere und Traurigkeit geblieben ist und dass das nicht nur den Alltag sehr viel schwerer macht, sondern eben auch unsere Beziehung verändert. „Ich glaube, ich habe es ja letztens schon mal angedeutet. Ich spüre weder Dich noch mich, wenn wir uns in den Arm nehmen und das fehlt mir einfach so sehr.“ Und irgendwann schiebe ich ein „Es ändert sich eben einfach das komplette Erleben“, hinterher.     
„Das ist eine Depression“, sagt der Freund. Ganz auf den Kopf gefallen bin ich jetzt auch nicht, aber das wieder so offiziell zu hören, tut schon weh. Vor allen Dingen, weil es zwischendurch so gut war und ich nicht damit gerechnet habe, dass das dieses Jahr nochmal in dem Ausmaß zurückkommt. Und am Ende ist ein „Suchen Sie sich einen neuen Freund“, wie so ein komischer Vogel von Therapeut aus Berlin in der Psychiatrie mal gepredigt hat, eben auch nicht die Lösung. Geglaubt habe ich das nie wirklich. Gehofft aber schon.                

Ob er das jetzt alles gut aufgefasst hat oder nicht, kann ich gar nicht wirklich sagen. „Ich habe keine Lust mit einem Menschen zusammen zu leben, dessen Leben auf Autopilot läuft“, hat er irgendwann dazu gesagt. Tja… - ändern kann ich das jetzt aber erstmal nicht. Ich bin zum Glück dazu in der Lage, dass das überhaupt funktioniert. Nach bald 15 Jahren Erfahrung mit solchen Zuständen kann ich damit oft so gut umgehen, dass das Arbeitsumfeld und Menschen, die ich lose kenne, nicht unbedingt etwas merken – abgesehen von einer massiven Erschöpfung; die fällt meist schon auf. Aber ich werde nicht mehr so davon überrollt, bin im Alltag nicht mehr völlig handlungsunfähig. (was für eine Therapie ein deutlicher Nachteil ist, wie der sehr geschätzte Herr Psychiater mal anmerkte, weil man als Außenstehender die Tragweite meines Erlebens komplett unterschätzt). Aber das wird jetzt einfach dauern und wie ich da rauskomme, weiß ich ehrlich gesagt auch noch nicht. Der Freund meint, es geht darum, das was da gerade ist zu spüren, zu formulieren und nach außen zu transportieren. Und es nicht alles weiterhin in mir zu verstecken. Und gleichzeitig ist da immer noch so eine Klemme in meinem Kopf und ich muss mich das ganze Gespräch über so sehr bemühen mit ihm im Kontakt zu bleiben. Die Anspannung in mir ist so hoch, dass ich meinen Igelball sehr vermisse und stattdessen seinen Topflappen malträtiere, bis er ihn mir aus der Hand nimmt und meine Finger in seine Hände legt.
 
Eine Sache muss ich dann aber doch noch erzählen. Das dauert aber bestimmt eine halbe Stunde, bis er gemerkt hat, dass ich noch etwas sagen möchte und ich mich dazu durchringen kann, die ersten Worte zu sagen – ich dachte schon, ich kriege das überhaupt nicht mehr hin.
Der Besuch bei der Mutter des verstorbenen Freundes treibt mich immer noch um. So sehr. Täglich. Immer. Permanent. Oder besser gesagt – mein Besuch an seinem Grab. Es wurde ja im Vorhinein kommuniziert, dass er anonym beerdigt wurde, seine Mum war nie da und ich wusste nicht, was ich da finden werde. Am Anfang fand ich das ganz schrecklich, dass er kein Grab haben soll, aber mit der Zeit blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit dem Gedanken anzufreunden. Die Erinnerungen an den Menschen seien ja schließlich woanders, nicht auf dem Friedhof und vielleicht sei ein Grab ja nicht so wichtig.
Und dann habe ich es gefunden. Sein kleines Grab unter den Bäumen. Das Holzkreuz mit seinem Namen. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Ort so viel mit mir macht. Dass ich da nochmal so viel Verbundenheit spüren werde. Dass Erinnerungen, die schon fast etwas verblasst sind, wieder lebendig werden. Seitdem ist seine Stimme, sein Bild wieder so präsent in mir, ich könnte ihn immer noch von 100 Metern Entfernung erkennen, wie er da mit dem Rucksack über der Schulter mit einem Lachen auf mich zuläuft, wenn ich ihm vom Bahnhof abhole.
Dort zu stehen, die Autoschlüssel in der Jackentasche zu spüren, zu wissen, dass ich bald heimfahre und dann zum lebenden Freund fahre, hat irgendetwas in mir zerbrochen. So fühlt es sich jedenfalls an. Das ist nicht mehr die Mondkind von früher. Das ist ein anderes Leben.
Und es ist so verdammt unfair, dass ich in dem Moment dort stehen, leben und atmen konnte und er nicht mehr. Dass ich die Chance nochmal bekommen habe, glücklich zu werden und er nicht. Es fühlt sich an, als sei jeder Schritt, den ich seit seinem Tod nach vorne gemacht habe, einer zu viel.
Wir kannten uns so viele Jahre, wir haben so viel geteilt, er war so oft für mich da. Und ich konnte das im entscheidenden Moment nicht für ihn sein.
Und gleichzeitig verspüre ich ein Schuldgefühl gegenüber dem lebenden Freund. Weil dieser tiefe Wunsch, den ich in mir habe alles zu ändern, wenn ich es könnte das Leben jetzt und die Beziehung zu ihm entwertet.
Egal wo ich hintrete, es ist überall ein Flattern, ein „eigentlich darf ich mich hier nicht bewegen.“ Es tut so weh, fühlt sich so sehr falsch an und so sehr, als sei das alles überhaupt nicht mein Leben.
 
Ich finde es immer erstaunlich, dass dem lebenden Freund bei diesem Thema so überhaupt nicht die Hutschnur reißt – das könnte ich sogar verstehen. Aber wir reden. Über die Verantwortung, die jeder über sein Leben hat und die auch gut kommuniziert teilen sollte, wenn es nicht mehr geht. Über den freien Willen. Darüber, dass mein Hadern damit eben auch ein bisschen meine Sache und ein bisschen egoistisch ist. Denn ja – zum Teil hätte ich ihn da sicher gern raus gerettet, um heute nicht so leiden zu müssen. Weil das wirklich das schlimmste Ereignis meines Lebens ist, das ich mir selbst gern erspart hätte. Wir reden über die Naivität der früheren Mondkind, die noch mehr als früher in dieses Bedürfnis übergegangen ist, alles kontrollieren zu wollen. Und darum, dass es irgendwann darum gehen sollte, diese Schuld anzunehmen ohne dabei das Gefühl zu haben, sein ganzes Leben eine Strafe ableisten zu müssen.
Und irgendwie stelle ich im Hintergrund fest, dass ich überall wo ich mich bewege immer viel Verantwortung habe. Es geht so oft – nicht nur, wie das damals war – um Leben und Sterben, auch in diesem Job. Und ich bin so müde davon.

In der Nacht lese ich ein paar Artikel zum Thema Depression in der Partnerschaft. Und das ist ziemlich interessant. Weil es die komplette Dynamik, die wir jetzt hatten wieder spiegelt. Es gibt angeblich sogar viele Paare (na gut, das ist gut nachvollziehbar), die sich aufgrund dessen trennen. Weil der Erkrankte eben aus dem Kontakt geht, sich zurückzieht, Konflikte vermeidet und quasi dauererschöpft ist und das Gegenüber das als Zurückweisung erlebt, sich gekränkt fühlt und wütend wird und auch ganz viel Hilflosigkeit erlebt.
 
Wie wir das jetzt alles lösen, weiß ich noch nicht. Erstmal hoffe ich, dass die Beziehung das überlebt. Heute Morgen hatte ich das Gefühl, er geht ein bisschen vorsichtiger mit mir um.
Es fühlt sich immer noch komisch an, morgens zu ihm unter die Bettdecke zu kriechen und ihn einfach nicht zu fühlen. Ich glaube, das ist das Schlimmste aktuell. Weil ich weiß, wie das war und ich das so sehr vermisse und das einfach alles überhaupt nichts nützt, egal wie nah er bei mir ist. Nicht mal, wenn ich mich in ihn eingerollt habe und er seine Arme ganz fest um mich herum schlingt, kommt da sehr viel an.
 
Und doch bin ich an diesem Morgen zumindest froh, dass klar ist, was hier Sache ist. Das macht es schon mal ein bisschen leichter. Ich muss mich nicht mehr verstecken damit und vielleicht erscheint mir der Freund jetzt auch nicht mehr so unberechenbar. 

Letztens in einem super niedlichen Cafe

 
***

Und so ein random fact am Rand: Ich schaue ja manchmal, was Menschen so mit ihrem Leben machen, die ich mal kannte. Letztens habe ich mal nach dem alten Herrn Kliniktherapeuten geschaut und er hat mittlerweile ein Buch geschrieben über den Umgang mit suizidalen Krisen. Vielleicht soll ich das mal lesen.
Ich denke noch oft an diesen Menschen. Irgendwann hat er die Grenze gezogen und ich konnte die auch respektieren und doch weiß ich, dass dieser Mensch mir wahrscheinlich das Leben gerettet hat und dass – wenn ich nochmal in einer Krise stecken würde, in der ich nicht wüsste wohin mit mir – ich es ihm jederzeit wieder anvertrauen würde. Er war ganz sicher einer der wenigen Bezugspunkte meines Lebens, ein Anker auf den ich in all meinem Chaos immer mal wieder zurück greifen konnte. Und manchmal bin ich immer noch so traurig, dass Bezugspunkte nie die Familie sein konnten. „Ich rede über alles mit meinen Eltern“, sagte der Freund gestern. Das gab es bei uns nie. Meine Bezugspunkte haben so oft in vertikalen Beziehungen gesteckt, ich habe so viel Vertrauen investiert, mich so sehr darauf gestützt und immer gewusst, dass das was da gerade ist, für den Moment bleibt und im nächsten Moment schon wieder verfliegt. Und dass – wenn ich später mal die Menschen aufzählen sollte, die mich nachhaltig geprägt haben – viele dabei sein werden, von denen ich heute nicht mehr weiß, wo die sind, wie sie ihr Leben leben, ob sie sich mal gefragt haben, wo ich heute bin und dass es nie wieder einen Austausch darüber geben wird.

 
Mondkind



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen