Über Schuld, Dankbarkeit und Geschenke beim Seelsorger

 Dienstag.
Später Nachmittag.
Ich sitze im zehnten Stock des Reha – Gebäudes des Campus.
Im Raum der Stille.
Mir gegenüber der Seelsorger.
Lange nicht mehr hier gewesen.

„Ihnen geht es nicht so gut, haben Sie mir geschrieben“, leitet er ein.
„Kann man sagen, ja“, entgegne ich.
„Aber irgendwie höre ich nicht mehr viel von Ihnen.“
„Naja, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist so viel Ambivalenz. Ich bin so dankbar für dieses Jahr und gleichzeitig fühlt sich das aktuell so an, als würde ich mit Vollgas vor die Wand fahren.

Wir reden erst kurz über den Job.
Was da jetzt der Plan ist mit der weiteren Neuro – Karriere und einem eventuellen Facharztwechsel in Richtung Psychosomatik / Psychiatrie. „Naja, im Moment kann ich ja nur warten, bis die mich in mein Psychiatrie-/Psychosomatik – Jahr gehen lassen. Wenn ich schon die Möglichkeit habe, mir ein Bild von diesen Fachbereichen vom sicheren Hafen der Neuro aus zu machen mit der Option wieder zurück zu können, wenn es mir nicht gefällt, lohnt sich das vielleicht noch ein halbes Jahr zu warten“, erkläre ich. Gebe aber auch zu bedenken, dass mein Bauchgefühl mich wirklich selten getäuscht hat, wenn wirklich mal ein Wunsch von meinem eigenen Herzen kam und nicht von außen aufoktroyiert war. „Wenn die mich noch länger als ein halbes Jahr warten lassen, würde ich mir über das Thema Kündigung ernsthafte Gedanken machen – das muss ich im Dezember mal mit dem Chef klären.“ Kurz reden wir über die Dienstbelastung. „Meinen Ärger habe ich da schon zum Ausdruck gebracht – ich musste dem dienstplanverantwortlichen Oberarzt nämlich eine Mail schreiben, wann ich keinen ersten Dienst machen kann, weil die jetzt Dienstplan machen, während ich Urlaub habe."  „Und was haben Sie da geschrieben?“, fragt mein Gegenüber. „Naja nichts Böses, nur dass ich schwer irritiert bin, weil mit mir niemand gesprochen hat, ob ich nun erste Dienste oder Intensiv – Dienste oder beides machen soll, in welchem Verhältnis das aufgeteilt sein soll und ich mich da aktuell wie ein Spielball zwischen den dienstplanverantwortlichen Oberärzten fühle, wenn ich da ohne Rücksprache einfach eingetragen werde in den Dienstplan, der zuerst geschrieben wird und ich diese Position ziemlich undankbar finde.“ „Ich bin beeindruckt. Mondkind wehrt sich. Das gab es ja selten bisher. Ich bin immer wieder über Fortschritte erstaunt.“

Und dann geht es sehr viel um den verstorbenen Freund.
Ich muss mich sehr bemühen nicht durchgängig zu weinen, weil das im Moment alles so nah ist.
„Ich frage mich aktuell täglich in was für einem Film ich hier eigentlich gelandet bin“, sage ich. Das muss ich erklären. „Es hat sich so viel geändert. Ich habe mich geändert, weiter entwickelt, das Leben hat sich um 180 Grad gedreht und ich bin so dankbar dafür und gleichzeitig so unendlich traurig. Ich wünsche mir mein altes Leben zurück und weiß gleichzeitig, dass dieser Wunsch so viel von dem was jetzt ist, entwertet und das auch unfair gegenüber dem lebenden Freund ist, der sich da die letzten Tage viel Mühe für mich gegeben hat. Wenn ich in mich hinein fühle, dann fühlt sich das so sehr nach Verrat gegenüber dem verstorbenen Freund an. Das ist so ungerecht. Ich habe einfach die ganze Zeit dieses Bild vor Augen, wie ich vor seinem Grab stehe. Ich, die leben und atmen kann, das Leben spüren kann, weiß, dass zu Hause mein Freund auf mich wartet, die Autoschlüssel in der Tasche spüre, die mir Mobilität und so viel Lebensqualität ermöglicht haben und die den verstorbenen Freund und mich vielleicht hätten retten können. Und er, wie er da zu Asche zerfallen in der Urne liegt und all das, was ich noch erleben kann, nicht mehr erleben kann. Ich komme nicht zurecht damit, wirklich nicht.“

Wir reden über Geschenke. Damit, dass so viele Menschen ihr Leben auf den Schultern von anderen Menschen leben. Dass das Verteilen von Geschenken und das (unfreiwillige) Aufladen von Schuld so sehr Alltag in unserem Leben ist.
„Überlegen Sie mal, was er Ihnen alles geschenkt hat.“ „Schon als er gelebt hat, eine Menge“, entgegne ich. „Ich wäre nicht der Mensch der ich heute bin, hätte es ihn nicht gegeben. Wahrscheinlich hätte ich das Studium nicht mal überlebt, wenn ich ehrlich bin. Er war der verlässlichste Rückhalt, den ich hatte. Er war immer da, hatte immer ein Ohr für mich, hat mir die Stadt gezeigt, in der ich gelebt habe. Er hat mir so viel zwischenmenschliches Vertrauen geschenkt, so viel Leben in mir generiert.“ „Und er ist der Grund für Ihr heutiges Leben“, ergänzt der Seelsorger. „Er – oder sein Tod – war dafür verantwortlich, dass Sie 2020 in die Klinik gegangen sind, statt sich das Leben zu nehmen, weil Sie gemerkt haben, was das auslöst. Er hat Sie indirekt auch dazu gebracht, dass Sie danach eigentlich wegen ihm nochmal in die Psychosomatik gegangen sind. Und nur weil Sie dort waren, haben Sie Ihren jetzigen Freund kennen gelernt.“
„Ich glaube, er hatte keine Ahnung, wie wertvoll sein Leben für mich war“, sage ich. „Nein, wahrscheinlich nicht“, entgegnet der Seelsorger. Und ich wünschte, er wüsste es. Ich wünschte so sehr, ich könnte ihm heute noch sagen, dass er mehr als dieses Nichts war, als das er sich gefühlt hat. Dass er vielleicht keinen coolen Job hatte, nicht sonderlich viel Geld, ein bisschen verloren in der Welt war, aber dass er aus all dem so viel zwischenmenschlichen Halt zwischen zwei Menschen kreiert hat, was so viel wertvoller ist, als jeglicher Besitz das je sein könnte. Wenn alle Menschen so wären wie er, dann wäre diese Welt ein besserer Ort.
„Ich kann ihm halt nie wieder irgendetwas zurück geben. Ich kann einfach gar nichts mehr für ihn tun“, sage ich irgendwann. „Das ist mit vielen Geschenken so, wenn man genau drüber nachdenkt“, sagt der Seelsorger. „Die kann man einfach nur annehmen und dafür sehr, sehr dankbar im Herzen sein. Wobei das natürlich im Fall eines Todes besonders eindrücklich ist. Und das kann den Charakter des Schuldgefühls, das sie da haben, auch ein bisschen ändern. Versuchen Sie das mal. Versuchen Sie mal, bewusst dankbar zu sein."





Und dann macht er mir so deutlich, was hier los ist.
Setzt mich auf einen Stuhl und lässt mich einen imaginären Blick auf den verstorbenen Freund, den ich mir vorstellen soll, werfen. Und fragt nach, wie sich das anfühlt. Und neben der Schuld spüre ich eine unendliche Traurigkeit.
„Und jetzt stellen Sie sich mal mit dem Rücken zum Freund.“ Er wartet kurz. „Fühlt sich anders an, der Blick nach vorne, oder?“, fragt er. Ja tut es. „Das war Ihr Sommer“, sagt er. „Da waren Sie so drin in diesem Neuen, dass Sie überhaupt nicht zurück geschaut haben. Und jetzt machen Sie das aber wieder. Und das ist auch okay und das wird immer wieder passieren. Ich möchte nur, dass Sie wissen, was gerade bei Ihnen passiert.“
„Und jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie könnten eine Verbindung generieren zwischen dem verstorbenen Freund hinter Ihnen und Ihrem Herzen. Wie fühlt sich das an?“ Ich überlege eine Weile und horche in mich. „Das gibt ein Gefühl von Sicherheit. Und Vertrauen. Und Mut.“ Er nickt. „Vielleicht können Sie sich daran auch erinnern, wenn es schwer ist. Er kann Ihnen bis heute viel geben.“

Wir reden darüber, ob ich auch in der Beziehung so offen rede. „Normalerweise nicht. Ich glaube halt, der lebende Freund fände es überhaupt nicht schlimm und würde mit mir auch viel mehr therapeutisch arbeiten, wenn ich das wollen würde. Und eigentlich möchte ich das auch, weil das aktuell alles nicht nur die Beziehung irgendwie gefährdet, sondern auch so viel Lebensqualität weg nimmt, wenn mein Emotionsreichtum gefühlt auf einen Teelöffel passt und ich mich eher wie ein Stück Holz fühle. Ich vermisse so sehr die guten Zeiten. Und gleichzeitig scheue ich mich da so sehr, weil ich halt nicht mehr irgendeine irre Patientin bin, die gerade ihr Leben nicht auf die Reihe kriegt, sondern eben seine Freundin bin, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegt. Das ist ein gewaltiger Unterschied, wie ich meine.“

Am Ende stehen wir nebeneinander und schauen aus dem Fenster über die Stadt unter uns. Wir kommen nochmal auf den lebenden Freund zu sprechen. „Er hat seine Ausbildung verloren wegen mir“, sage ich. „Ach echt jetzt?“, fragt der Seelsorger. „Ja, habe ich das bei Ihnen noch nicht erwähnt? Da sieht man mal, wie lange wir nicht geredet haben.“ „Und ich nehme an, deshalb fühlen Sie sich auch schuldig?“, fragt er. „Schon“, gebe ich zu. „Er trägt das mit so unendlich viel Fassung und ich habe ihn da immer sehr klar erlebt. Wir haben eine Entscheidung getroffen, die man kritisch sehen kann und das sind halt die Konsequenzen. Ich habe das nicht so kommen sehen, ehrlich gesagt. Ich habe gedacht, wenn ich ihm da nichts vorwerfe – was ich nie tun werde, egal wie das mit uns ausgeht, das war klar für mich – dann muss er da auch keine rechtlichen Konsequenzen fürchten. Dass da noch ein ganzes Institut dahinter hängt, das die Sache in die Hand nehmen kann, das wusste ich nicht, ehrlich gesagt. Wahrscheinlich hätte ich dann von mir selbst aus gesagt, dass wir das einfach lassen sollen mit einer Beziehung. Im Zweifel habe ich halt seine Karriere kaputt gemacht. Und ich musste da umgekehrt sehr wenig rein investieren. Ich habe halt meinen Therapeuten verloren im Zweifel, aber sonst war das Risiko nicht höher, als das irgendeiner anderen Beziehung außer, dass ich bis zu dem Zeitpunkt dachte, ich sei nach dieser ganzen Geschichte ziemlich beziehungsunfähig und ein bisschen glaube, dass mir das jetzt gerade auf die Füße fällt. Die Probleme damit sind nicht weg, nur weil ich jetzt eben eine Beziehung lebe.“ „Aber sehen Sie, da ist schon wieder ein Mensch, der Ihnen im Prinzip ganz viel schenkt. Der hat etwas auf sich genommen für Sie.“ „Manchmal könnte man glatt noch zu der Idee kommen, ich sei irgendwie ein wertvoller Mensch oder so“, sage ich und habe schon wieder Tränen in den Augen.
Und dann nimmt er mich einfach in den Arm und wartet ein bisschen. Heute bin ich diesem Menschen auch sehr dankbar. Darüber, wie viel Aufmerksamkeit und Zeit er mir schenkt und mit wie viel Vorsicht er mich durch das Gespräch führt.

Ich spüre so viel Chaos in mir. Da bewegt sich ganz viel, aber aktuell ist es eher so, als würde man alle Teile eines Puzzles ein Mal in die Luft schmeißen. Es wird noch eine Weile dauern, bis ein bisschen Ruhe in mich kommt, befürchte ich. Aber immerhin habe ich die letzten Tage überhaupt mal geredet, das ein oder andere gute Gespräch geführt und ein Anfang aus dieser Misere in der ich aktuell stecke, ist gemacht.

Morgen fahre ich rüber zum Freund, mit der To Do – Liste bin ich einigermaßen voran gekommen. Ich bin gespannt auf die Reaktion vom dienstplanverantwortlichen Oberarzt, die Tage wird sich auch entscheiden, ob ich die beiden Tage vor Weihnachten noch frei bekomme oder ob ich alleine am 24. Dezember hinterher fahren muss zu den Eltern des Freundes, was ich ziemlich blöd fände. Und an alle, die mir heute Morgen die Daumen gedrückt haben – hat sich gelohnt, Danke. Der Termin war okay.

Mondkind


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