Von den Fallstricken des Igelmodus

Donnerstagmorgen.
Mein Freund und ich sitzen am Frühstückstisch. Ich habe Spätdienst und noch ein bisschen Zeit.
Es war ein sehr friedlicher Mittwochabend, nach dem ich todmüde ins Bett gekippt bin. In der Nacht war ich immer mal wach, mit irgendwelchen Flusen im Kopf. Am Morgen bin ich dem Freund auf dem Weg ins Badezimmer über den Weg gelaufen und dann hat er sich einfach hinterher mit zu mir ins Bett gelegt. Und ich bin neben ihm nochmal ein paar Minuten eingeschlafen. Es ist auch ein sehr ruhiger Morgen. Wie lange lagen wir schon nicht mehr stundenlang einfach friedlich nebeneinander in einem Bett?
Später frühstücken wir. Die Sonne scheint von hinten durch das Fenster und wärmt meinen Rücken.
Er steht vom Tisch auf und läuft um mich herum. Nimmt mich in den Arm.
Und dann ist es einfach vorbei. Ich spüre die Tränen in meinen Augenwinkeln. Es wäre sicher besser, sie dort zu halten, aber der Freund spricht mich an und gefühlt explodiert die Traurigkeit doch immer, wenn sie einmal enttarnt wurde.
 
Und dann stehen wir da. In seinem Wohnzimmer. Eigentlich muss ich in 10 Minuten weg sein und zum Spätdienst aufbrechen. Aber gerade spüre ich nur, wie dieser Stau in mir sich löst und wie der Freund gleichzeitig unendlich irritiert ist.
 
Ich kann mich erinnern, an diese Abende und Nächte, in denen ich auf meinem Sofa gelegen und einfach nur geweint habe. Weil es zu viel war. Nach vielen Wochen. Zu viel Traurigkeit, zu viel Fremdsein. Zu viel Igelmodus, aus dem ich nicht mehr raus kam und meistens wusste ich nicht mal genau, wie ich da rein gekommen war.
 
Und genau das will der Freund jetzt von mir wissen. Warum genau ich eigentlich traurig bin.
Na wenn ich das wüsste.
Ich könnte nicht sagen, dass ich nichts gemerkt habe. Es ist bestimmt schon vier Wochen her, dass ich der potentiellen Bezugsperson eine Mail geschrieben habe. Gefragt habe, ob ich mal in seinem Büro vorbei kommen darf, weil da ein paar Gedanken in meinem Kopf sortiert werden möchten. Ich kann heute nicht mal mehr genau sagen, was damals das Problem war. Der Job und die Unzufriedenheit über Monate auf der Intensivstation, die ich versuche zu ignorieren, weil mir ohnehin nichts anderes übrig bleibt. Die Dienstplanung, die seit Monaten eine Katastrophe ist – ständig bekommt man ungeplant einen Dienst auf das Auge gedrückt (den nächsten schon nächste Woche), seit Wochen hatte ich kein einziges Wochenende frei. Die Beziehung, die so sehr holprig ist. Der Besuch bei der Mutter des verstorbenen Freundes, der erste Besuch auf dem Friedhof, der viel hochgewirbelt hat. Ein paar kleine Alltagssorgen, die groß werden können, wenn die Kapazitätsgrenzen längst erreicht sind.
Ich will nicht sagen, dass ich andere Menschen brauche, die mir erklären, wie ich mein Leben zu leben habe, aber manchmal ist ein bisschen Reflexion doch ganz hilfreich. Sogar ziemlich notwendig, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Nichts von meinen Bemühungen mich mit jemandem darüber auszutauschen hat in irgendeiner Form funktioniert (wobei ich ehrlich gesagt auch nicht die große Heldin bin, so etwas einzufordern) und irgendwann muss es über irgendeines von diesen Themen dekompensiert sein. Was es war, kann ich heute nicht mehr sagen. 


So wunderhübsch kann der Herbst bei uns sein... - mein täglicher Weg zur Arbeit am Kurpark vorbei

 
Igelmodus.
Igelmodus ist – vermutlich – nicht nur der verzweifelte Versuch zu all den Belastungen gegenüber, die ich als überfordernd und zu viel befinde oder denen gegenüber ich eine gewisse Hilflosigkeit empfinde (wie Dienste auf der Intensivstation bei anästhesiologischer Ahnungslosigkeit), eine gewisse Distanz aufzubauen, um sie überhaupt noch tragen zu können, ohne darunter irgendwann einzubrechen. Igelmodus heißt auch, dass auch all das seine Bedeutung verliert, das irgendwann mal gut war. Ich spüre die Sonne nicht mehr auf der Haut, ich spüre den Freund und mich nicht mehr, wenn wir uns in den Armen liegen, wenn er morgens neben mir liegt, was bis vor ein paar Wochen etwas war, das nie hätte enden können. Den Freunden zu begegnen ist, wie einem Fremden zu begegnen.
All die Verbindungen zu all den anderen Menschen um mich herum, zu Situationen aus dem Alltag, zur Welt um mich herum, sind komplett verloren gegangen. Ich fühle mich so unglaublich alleine und verloren, obwohl ich de facto nicht alleine bin. Aber die Bänder zwischen mir und der Welt fühlen sich zerrissen an.
 
Und dann – wenn der Freund mich in den Arm nimmt – fühle ich mich einfach unglaublich verloren und alleine. So weit weg von ihm. So viel Distanz. Und ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, es wäre wie früher. Aber es ist nicht so. Und manchmal macht mich das so unglaublich traurig, dass ich darüber einfach weinen muss.
Und wahrscheinlich – aus Erfahrung – wird das viele Wochen und einige Monate dauern, bis sich das wieder ändert. Ich kenne das. Habe es oft genug erlebt.
Und ich habe Angst. Dass die Beziehung das nicht überlebt. Weil ich da auch ziemlich kratzbürstig bin. Er versucht mich zu sehen. Fragt, ob ich nicht etwas zu essen mit in den Dienst nehmen muss. Kocht einen Kaffee für meine Thermoskanne. Und ich kann das kaum wertschätzen, obwohl ich das sollte.
 
Er ist wütend auf mich, sagt der Freund. Und hilflos. Er sagt, er hält meine Tränen für Show.
Weil ich es ihm auch nicht so sagen kann. Und das macht mich dann hilflos. Weil es keine Show ist. (Der Satz hätte auch von den potentiellen Bezugsperson kommen können, das kennen wir noch irgendwo her). Weil das alles echt ist.
Ich habe Angst. Dass er das persönlich nimmt. Dass er glaubt, ich liebe ihn nicht mehr. Obwohl die Liebe glaube ich nicht verschwunden ist. Und immerhin ist er Therapeut. Welche Freundin gibt denn jetzt schon gerne zu, dass das alles rückwärts und bergab läuft? Und ich mag ihn ja auch nicht ausnutzen. Dass er irgendwie denkt, er muss das jetzt mit mir alles auseinandernehmen. Ich wüsste nicht mal, ob ich das wollen würde.
 
Am Ende fahre ich viel zu spät los.
Und auch das macht mich ein bisschen wütend. Wir haben so wenig Zeit, hängen immer mit einem Blick auf der Uhr, wenn wir uns sehen. Ich arbeite seit vier Wochenenden. Es gibt keine Zeit, obwohl Zeit doch so wichtig wäre. Heute Morgen wäre sie unendlich wichtig gewesen. Aber wir sind auf dem Sprung. Immer. Und während das Privatleben zusammenbricht, muss die Arbeit funktionieren. Immer. Ohne Kompromisse. Als letzte stehende Säule. Und das tut sie. Mit zwei Fehltritten seit über drei Jahren. Obwohl das hier alle paar Monate meine Realität ist.
 
Mondkind

 


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