Welle

Atmen.
Einfach weiter atmen.
Ich habe kaum geschlafen, mein Kopf schmerzt und irgendwie auch meine Ohren.

Wäre das eine Urlaubswoche zu Hause, würde ich vermutlich die ganze Woche nicht mehr vom Sofa aufstehen. Einfach nur daliegen und Löcher in die Luft starren.
Aber es ist keine Urlaubswoche zu Hause. Ich bin bei meinem Freund und da geht das logischerweise einfach nicht.

Sturzflug.
Oder so ähnlich.
Es ist nicht okay. Ist es einfach nicht.
Igelmodus auf dem Höhepunkt.

Ich bin so unendlich traurig und erschöpft und wütend.
Wütend auf so ungefähr alles. Auf mich selbst, auf das Leben, auf die Welt. Auf alles was lebt und sich bewegt und atmet. Ich könnte alles und jeden an die Wand klatschen.
Es ist unfair und ich möchte, dass die Welt sich wieder ändert.
Und nein, das ist nicht besonders rational. Und natürlich wird die Welt sich nicht ändern.

Ich an diesem Grab.
Ich hätte nicht gedacht, wie sehr sich dieses Bild in meinem Kopf einbrennen wird. Eigentlich erst Wochen später, aber seitdem ich dort war, habe ich gefühlt nur gearbeitet. Die dazugehörigen Gedanken, die ich dort hatte. Der Gedanke, dass wir nie wussten wo wir sein werden und was passiert sein wird, wenn wir uns wieder physisch so nah sind. Dass das der Moment sein wird, in dem ich die Stadt kennen lerne, in der Du groß geworden bist. Der Gedanke, dass es vielleicht Sekunden waren. Die über Leben und Sterben entschieden haben. Dass es vielleicht an Worten oder Sätzen hing. Vielleicht hätte Dich irgendetwas, das ich hätte sagen können, retten können. Vielleicht war ich Dein letztes Telefonat. Vielleicht war ich die Erste, die danach angerufen hat? Vielleicht auch nicht.
Vielleicht war das eine Momententscheidung. Aus dem Affekt heraus. Der sicher nicht aus dem Nichts kam, aber vielleicht hätte ein Klingeln an Deiner Wohnungstür für den Moment die Dinge ändern können. Vielleicht war das die Entscheidung des einen Momentes und im nächsten Moment wäre sie eine andere gewesen.

Ich bin ziemlich wütend und trotzig mit diesem Job. Darüber, dass die Tage so ein Kampf für mich selbst sind aktuell und es nicht reicht, den für mich selbst zu kämpfen und zu gewinnen, sondern, dass die Patienten auch noch etwas wollen und dass ich Dienste ohne Ende mache, weil ich aktuell zwei Dienstpläne bediene. Und ich zwar gerade eine Pause davon machen darf, aber ab Montag wieder am Start sein muss und mit einem Spätdienst am Montag und einem Frühdienst am Dienstag der Schlafmangel schon jetzt vorprogrammiert ist.
Obwohl ich zugeben muss, dass es etwas genützt hat, sich mal bemerkbar zu machen. Reden soll helfen. Manchmal. Für Dezember – Dienst bis zum Urlaub ungefähr jeden zweiten oder dritten Tag - und Januar lässt sich die Dienstflut nicht mehr ändern, aber ab Februar habe ich laut dem heute zusammen mit dem Oberarzt geschriebenen Dienstplan die wahrscheinlich wenigsten Dienste, seitdem ich eine dienstfähige Ärztin bin, was mich dann doch wieder etwas versöhnlich stimmt. Es geht ja gar nicht mal nur um die Dienstbelastung. Sondern auch darum, dass das gesehen werden muss. Dass nicht jeder nur auf seinen eigenen Dienstplan schaut und ich mir am Besten noch anhören muss, dass ich aber wenige Dienste mache – womit mir die Intensivstation seit Monaten in den Ohren liegt. Als wäre ich faul. Das ist de facto nämlich mal absoluter Schmarrn. 




Der Freund und ich gehen am Nachmittag spazieren. Nachdem es am Morgen wieder eine etwas unschöne Situation gegeben hat und die einzig sinnvolle Option um die Wogen da etwas zu glätten wahrscheinlich ein gemeinsames Füße vertreten ist.
Wir sind sehr still, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Und ich muss mich so bemühen nicht zu weinen. Und ich weiß nicht mal genau worüber. Mir ist das alles gerade ein bisschen emotional zu viel alles und ich weiß einfach nicht mehr wohin damit. Da stapelt sich so viel in meinem Hirn und gefühlt ist das alles kurz vor dem Explodieren. Irgendwo bleiben wir stehen. Es regnet, aber das ist irgendwie egal. Wir stehen ewig nebeneinander und ich fühle mich emotional und motorisch eher wie so ein Stein. Irgendwann nimmt er mich in den Arm.
Wo habe ich ihn so verloren? Diesen Menschen vor mir.

Und so sehr, wie ich jedes Tauen in mir, jeden guten Moment registriere, aber das wird dauern.
Ich glaube, dieser Prozess hier läuft in Wellen.
Und manchmal glaubt man vielleicht schon ein ganzes Stück nach vorne gegangen zu sein, bis wieder irgendetwas passiert, das einem bewusst macht: Da ist etwas passiert. Da hat sich nicht nur das Leben, sondern auch ein Mensch – ich nämlich – geändert. Und es wird nie wieder wie es war. Ich werde auch nie wieder wie ich war. Das merke ich schon an Kleinigkeiten. Letztens habe ich dem Freund morgens geschrieben und die Nachricht wurde nicht durchgestellt, weil sich sein Handy in der Nacht nicht geladen hat. Und wer hat zu Hause die Vollkrise bekommen? Eine Mondkind. Weil das zwei Monate am Stück der tägliche Blick aufs  Handy war mit der stillen Hoffnung, dass sich doch bitte alles fügen möge. Und wer hat alle alten Lieder wieder raus gekramt und hört sie die ganze Nacht auf Dauerschleife? Auch die Mondkind. Aus den Zeiten, in denen meine Schwester und ich immer noch gemeinsam zur Uni gefahren sind. Und nichts okay war, aber man zumindest so tun konnte. Ich weiß nicht mal, was ich da vermisse. Aber ich vermisse es. Diese Naivität. Dieses: es wird schon okay, wenn man nur genügend dran glaubt. So funktioniert die Welt leider nicht.
Und manchmal fällt das so auf mich runter und ich wünschte einfach, ich könnte ein anderes Leben leben. In dem dieser Tod mir nicht für den Rest meines Lebens an den Hacken kleben wird und mit meinem Überleben verbunden sein wird, wenn man genau hinschaut. Und so oft denke ich, warum er nicht hätte überleben können. Er hätte das doch viel mehr verdient als ich.

Und gleichzeitig möchte ich dieses Leben das ich jetzt habe wieder wertschätzen können. Und es nervt mich, dass ich das aktuell nicht kann. Was hat sich denn geändert seit dem Sommer? Eigentlich doch nichts. Ich bin nicht mehr oder weniger schuldig an dem, was vor über zwei Jahren passiert ist.
Ich denk nur wieder mehr drüber nach.

Mondkind


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