Von einem Dienst, Coaching und einer Wanderung

Dienstag.
Mal wieder ein Dienst.
Ich komme erst um 10 Uhr zur Chefarztivisite, die – trotz schlechter Besetzung – einigermaßen läuft. Danach hasten der Kollege und ich durch den Tag; ich schreibe flott meine Briefe und noch einen für ihn mit, weil ich darin einfach schneller bin – er nimmt mir dafür andere To Do’s ab.
Um 16 Uhr trabe ich in die ZNA und nehme das Telefon. Die Kollegin von gestern hatte in der Nacht nur zwei Aufnahmen – die Hoffnung daran zumindest ein bisschen anzuknüpfen zerschlägt sich aber rasch, als nach 10 Minuten im Besitz des Telefons die erste Konsilanforderung rein flattert.
Die Fälle sind heute ein wenig undankbar, aber machbar. Um 22 Uhr kommt dann noch eine ältere Dame aus dem Pflegeheim; dem Personal sei aufgefallen, dass sie mit ihrem Becher den Mund verfehlt habe. Die forcierte Blickwendung, die daran Schuld ist, hat aber irgendwie niemand bemerkt. Es kostet mich einiges an Recherchearbeit, bis ich einen Verwandten ausfindig gemacht habe, der sie bereits gestern Nachmittag am Telefon hat verwaschen sprechen hören. Damit ist die Lyse hinter uns und dieser Fall ist auch erledigt.
Am späten Abend kommt Unruhe in die Intensivstation.

Es ist fast Mitternacht.
Ich sitze in der Notaufnahme und dokumentiere. Ich werde sowieso noch bis mindestens 3 Uhr beschäftigt sein, weil ich noch eine Lumbalpunktion auf der interdisziplinären Intensivstation machen muss und der Heparin – Perfusor dazu einige Stunden aus sein muss.
Der Kardiochirurg, der zu Hause ist, fragt mich, wie der Dienst läuft.
„Warum brauchen die auf der Intensiv eine Lumbalpunktion? Nicht bei einem herzchirurgischen Patienten, oder? Wer hat da einen Brainstorm losgelassen?“
„Doch ist einer. Der hat jetzt einen Meningismus. Und jetzt haben die gerade noch einen reanimiert, der ist auch auf der Intensiv jetzt und ich war auch dabei.“
„Nee, der hat keinen Meningismus. Einer von den Langliegern? Und die Reanimation – war erfolgreich?“
„Ja genau, einer der Langlieger. Kennst Du den? Naja, er ist halt brettsteif – ob erst seit heute, weiß ich nicht.“
„Zimmernummer? Und Tür oder Fenster?“
Wenig später kommen wir darauf, dass wir vielleicht besser telefonieren sollten und halten gegen Mitternacht eine kleine Telefonkonferenz ab.
Medizinerleben…

Am Ende bleibt mir – da die oberärztliche Etage das sowieso möchte – nichts anders übrig, als den Patienten zu punktieren. Tatsächlich klappt das erstaunlich gut. Dass der reanimierte Patient nach 10 – minütiger Reanimation nicht sofort wieder wach und adäquat ist – damit bin ich völlig einverstanden. Wild wird es aber, als die Kollegen zu der Idee kommen, dass er ja vielleicht gekrampft haben könnte und das am Monitor nur so aussah wie Kammerflimmern. „Das ist ja ein interessanter Krampfanfall, den man mit einer Reanimation unterbrechen kann“, kommentiert der Kardiochirurg und wir müssen beide darüber schmunzeln.

Die Notaufnahme wird die ganze Nacht nicht leer. In dieser Nacht bin ich aber irgendwie sehr erschöpft und auch der ständig irgendwo organisierte Kaffee bringt wenig. Um 6 Uhr in der Früh habe ich noch einen Patienten in der ZNA, der mit Rückenschmerzen gekommen ist und aber – vielleicht auch im Rahmen der Schmerzen – hypertensiv entgleist ist. Ihn muss ich sowieso noch zur Überwachung in der ZNA lassen und beschließe daher, mich noch eine Stunde aufs Ohr zu legen, weil ich einfach nicht mehr kann, aber nach 20 Minuten klingelt schon wieder das Telefon. Nächster Patient. 

Fünf Minuten Füße hoch legen. Man könnte meinen, ich möchte mit den Ultraschallbildern die Wand tapezieren...

Die letzten Dienste bevor ich dann aus der Neuro gehe (obwohl ich vorerst weiterhin einige Dienste dort mache) wollen es nochmal wissen. Und obwohl ich danach zwei Tage frei habe, habe ich am Wochenende schon wieder einen Nachtdienst von einer Kollegin übernommen, die einen Trauerfall in der Familie hat. Da soll man keine großen Fragen stellen.

***
Nachmittag desselben Tages.
Aus dem Bett bin ich schwer gekommen nach drei Stunden Schlaf, aber ich düse mal wieder in die Nachbarstadt. Das erste Mal seit über zwei Monaten. Ich spüre, dass ich dankbar bin, dass ich diese Strecke so lange nicht fahren musste. Das holt doch einiges an Erinnerungen hoch. Und irgendwie ist es interessant zu bemerken, dass scheinbar jede Zeit mit einem bestimmten Lebensgefühl verknüpft ist, das sich vielleicht erst im Nachhinein heraus kristallisiert. Die Mondkind vom letzten Sommer war ein bisschen eine andere Mondkind, als die Mondkind von heute.

Die Frau des Oberarztes muss ich erstmal aufs Pferd heben und es ist erstaunlich, wie viele Ereignisse in zwei Monate passen.

Ich glaube den Menschen fällt es schwer nachzuvollziehen, dass das mit dem Kardiochirurgen gar nicht so einfach ist. Die Unbeschwertheit einer Kennlernphase ist einfach vorbei.
Überhaupt fühle ich mich so, als hätte man mich nach vielen Jahren mal ins echte Leben geschmissen. Der verstorbene Freund und ich haben sich auf dem Psychiatrie – Gelände der Uni kennen gelernt – dass wir da nicht umsonst herum streunen, war klar. Und damit auch, dass wir beide eine Offenheit für emotionale Prozesse haben, für das, was hinter dem Alltag liegt. Und der ehemalige Freund und ich haben sich auch in einem Setting kennen gelernt, in dem klar war, dass Voraussetzung eine tiefe emotionale Bindung ist.
Im Nachhinein kommt mir das vor, als seien das alles geschützte Beziehungen für zerbrechliche Seelen gewesen und selbst das hat nicht funktioniert.
In Bezug auf den Kardiochirurgen komme ich mir oft vor, als würde ich eine Rolle spielen. Als würde ich alles daran setzen zu zeigen, dass ich bisher ein normales Leben gelebt habe, obwohl über weite Strecken das Gegenteil der Fall ist. Wir reden selten darüber, wie es uns eigentlich geht, was uns beschäftigt, was uns vielleicht auch in Bezug aufeinander beschäftigt. Und irgendwie habe ich aber das Gefühl, dass das in der Gesellschaft weit verbreitet so ist. Meine Schwester und ihr Freund haben – ich habe sie gefragt – solche Gespräche auch nie geführt. Und ehrlich gesagt: Wenn man die Wahl hat, dann frage ich mich schon, warum man einen Menschen wählen soll, der so eine Geschichte wie ich mit sich herum schleppt, die sicher noch einige Zeit Thema sein wird und immer mal wieder zwischen uns stehen wird. Es geht allein schon damit los, dass ich öfter nachts mit dem Satz „Mondkind, Du brennst sowieso mit dem nächsten Assistenzarzt durch“ aufwache – was die größte Angst des verstorbenen Freundes war. Und das macht etwas mit der Verbindung zwischen dem Kardiochirurgen und mir. Und vielleicht können solche Dinge am Ende das Zünglein an der Waage sein, ob wir eine Resonanz in uns in Bezug auf den anderen spüren oder nicht.

Und so allmählich frage ich mich, ob ich zwischenmenschlich in der großen, weiten Welt überhaupt zurecht komme.  

So richtig weiter kommen wir in der Stunde nicht – aber ich verbringe ja auch viel Zeit einfach mit dem Erzählen von Fakten. Nachdem es ja lange darum ging die alte Beziehung zu retten, muss sie auch erstmal verstehen, dass es jetzt wirklich vorbei ist.
Wie es mir mit dem endgültigen Ende der alten Beziehung so geht, will sie noch wissen. „Naja, das war ja schon sehr anstrengend. Auf der einen Seite wollte er mich mit auf die Hochzeit von seiner Schwester nehmen – und ich glaube gerade bei so einem Event zu Zweit aufzutauchen, ist eine Aussage. Wäre es für mich zumindest gewesen und war allein der Vorschlag. Auf der anderen Seite – jedes Mal, wenn ich mich neben ihm ein bisschen entspannt habe und er das bemerkt hat – hat er sofort wieder drauf gehauen. Jedes gute Treffen hat aufgehört mit einem „Ich weiß nicht, ob wir uns weiterhin sehen sollten“ seinerseits – und das war noch die nette Formulierung. Als hätte ich da eine unsichtbare Linie übertreten und als hätte er mich sofort wieder auf die andere Seite dieser Linie schmeißen müssen; das wirkte bisweilen fast ein bisschen überängstlich von ihm. Und man darf ja nicht vergessen, dass ich ihn wirklich sehr geliebt habe. Das war Verletzung am laufenden Band. Ein Schritt vor, drei Schritte zurück. Über Monate. Das war am Ende fast wie so eine Konditionierung immer wachsam zu sein und sich auf gar nichts zu verlassen. (Tatsächlich glaube ich, dass mich das sehr geprägt hat – dem Kardiochirurgen vertraue ich auch noch Null aktuell). Und sein Timing die Bombe dann endgültig platzen zu lassen war natürlich maximal beschissen zwei Tage vor dem Todestag des Freundes. Das habe ich ihm übel genommen, dass er darüber nicht nachgedacht hat.
Im Gesamten ist es also wahrscheinlich gut, dass das vorbei ist. Ich wäre daran glaube ich emotional kaputt gegangen. Natürlich bin ich immer noch traurig. Ich weiß nicht, ob ich einem Menschen jemals so nah war, ich weiß nicht, ob ich nochmal eine Partnerschaft führen werde – gerade mit den eben besprochenen Zweifeln. Ich denke noch oft an die guten Tage, lese mir die Tagebucheinträge vom letzten Sommer durch und ich hätte mir schon gewünscht, dass das hält. Ihn zu verlieren, war halt wieder, wie ein Stück zu Hause zu verlieren. Aber langsam bin ich wahrscheinlich geübt; das ist so oft passiert in den letzten Jahren.“

***
Donnerstag.
Ich habe frei an diesem Tag. Denn heute hätten wir eigentlich los fahren sollen auf die Hochzeit von der Schwester des ehemaligen Freundes. Und da ich die Tage damals beantragt habe und sie genehmigt bekommen habe, habe ich jetzt eben frei. Der Kardiochirurg hat allerdings auch frei nach seiner Nachtdienstwoche letzte Woche.
Eigentlich war mein Plan gewesen morgens zum Friseur zu gehen, in dem Zug direkt Brötchen zu holen, damit wir zusammen frühstücken und danach einen Ausflug ins Umland machen können. Leider gibt es in seiner Familie wieder einige Probleme zu lösen, sodass dieser Plan nicht funktioniert und er erst um 14 Uhr soweit ist.
Mörchen darf mal wieder ein Stückchen weiter fahren – wir fahren mit meinem Auto, weil er aktuell keins hat. Dass sein Papa eine Fahrschule hat, merkt man übrigens auch…

Aufgrund von viel zu tun, vielen Wochenenddiensten und maximal schlechtem Wetter in meinem Urlaub war ich bisher noch gar nicht im Umland und am Lieblingsberg – deshalb bin ich sehr froh, dass wir heute mitten durch diese sehr geliebte Natur schlappen können.

Wir fangen vorsichtig an, ein bisschen über uns zu reden.
Aber sehr vorsichtig.
„Wir kennen uns zwar schon ein paar Wochen jetzt, aber wir haben uns so selten gesehen, dass wir kaum etwas vom anderen wissen,“ sagt er irgendwann. „Also so im Gesamten kann ich noch nicht sagen, was das mit uns wird. Ob das irgendwann mal auf eine Beziehung hinaus laufen wird, oder nicht.“

Das ist härter, als es wahrscheinlich sein sollte. Ich würde mir da mehr Sicherheit wünschen. Zumindest ein „Natürlich wissen wir das nicht, aber wir bemühen uns beide mal sehr.“ Denn natürlich investiere ich in diese Bindung. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Natürlich sind da Hoffnungen. Natürlich würde das wehtun, wenn wir dahin kommen würden zu bemerken, dass das einfach nichts wird mit uns.

Und gleichzeitig muss man sich eben wirklich auch ehrlich fragen: Was bleibt denn hinter der Anziehung? Haben wir genug Gemeinsamkeiten? Haben wir ähnliche Ideen von Beziehung im Kopf, haben wir eine Lebensplanung, die irgendwie zusammen passt? Wie wichtig ist uns die Karriere, wie wichtig ist es uns irgendwann zu heiraten und eine Familie zu gründen? Wie wichtig ist uns eine emotionale Verbundenheit, eine Bindung, in der einer für den anderen einsteht und umgekehrt, eine Bindung, die für beide eine Art emotionales zu Hause werden kann?
All das ist bislang ungeklärt.

Mal sehen, ob wir uns nochmal sehen dieses Wochenende. Nur weil wir beide frei haben, heißt das irgendwie gar nichts für uns. Ich hätte schon mal wieder Lust auf so eine Nacht wie in der ersten Woche unseres Kennenlernens. Einfach nicht auf die Uhr schauen müssen, bis drei Uhr nachts zusammen liegen, ihn mit jeder Faser meines Körpers zu fühlen. All das fehlt mir mehr, als ich das zugeben mag. Mal sehen… - eigentlich ist es nicht mehr möglich, weil ich ja morgen Abend arbeiten muss – vor der Arbeit ist so etwas generell sehr unentspannt – und dann ist ja schon wieder Sonntag.

Für Sonntagfrüh hat mich eine Kollegin gefragt, ob ich nicht bei ihr vorbei kommen mag zum Frühstück und ich denke, ich werde das machen. Zwar würde ich auch gern mit dem Kardiochirurgen frühstücken, aber dass jedes zweite Treffen nicht funktioniert nervt mich langsam so arg, dass ich auch mal wieder anders planen muss. Ich möchte ja weiterhin meine Freunde sehen. Und gerade diese Kollegin geht leider bald zurück in ihr Heimatland – es wird eines unserer letzten Treffen werden.

Mondkind


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