Von einem Tag im Spätdienst

Der Morgen beginnt nach einem langen Spätdienst am Abend davor für mich erst ein bisschen später. Ich muss mich dann fast ein wenig damit beeilen, meinen Kaffee zu trinken, mir schnell etwas Essbares zwischen die Kiemen zu schieben, um dann gegen kurz vor 11 Uhr hoch zum Campus zu laufen.

Der erste Weg führt mich heute mal wieder zum Intensiv – Oberarzt.
Mit ihm zu reden ist fast, als würde man sich mal mit einem sonst nicht vorhandenen Elternteil treffen.
„Eigentlich ist alles okay“, höre ich mich sagen. „Es ist nur so, dass eine Kennlernphase auch nicht so einfach ist und das natürlich viele Dinge von Damals wieder hoch holt. Eigentlich hatte ich so angenommen, das habe ich jetzt schon mit dem ehemaligen Freund durch. Das Ding ist nur – all die Fragen sind immer geblieben. Und bis ich akzeptiere, dass es auf die meisten davon keine Antwort geben wird, vergeht sicher noch ein bisschen Zeit. Und ich weiß, dass ich wieder glücklich werden darf, dass ich auch mit einem ärztlichen Kollegen glücklich werden darf – auch wenn der verstorbene Freund mich vom Grab aus dafür an die Wand klatschen würde. Nur das Gehirn, das hat das noch nicht ganz verstanden.“

Wir dröseln das alles mal ein bisschen auf.
„Es ist natürlich ein bisschen schwierig, wenn der Kardiochirurg mit seiner Arbeit verheiratet ist. Und ja – Sie werden immer ein kleines Zeitproblem haben – das ist in dem Job einfach so, wenn zwei Kollegen eine Partnerschaft führen. Aber Sie wohnen im selben Ort. Und Frau Mondkind – schauen Sie sich das in Ruhe ohne Vorurteile an. Aber wenn Sie merken, dass Sie da grundsätzlich das fünfte Rad am Wagen sind, dass es da keine Verbindlichkeiten gibt, dass er Verabredungen nicht einhält – gehen Sie da nicht zu viele Kompromisse ein. Sie brauchen keine Beziehung, die trotz der räumlichen Nähe eine Wochenend – Beziehung ist. Geben Sie sich Zeit – Sie wissen ja nicht, wie lange er ohne Partnerschaft war – vielleicht muss er sich jetzt erstmal daran gewöhnen, dass da eine Frau in seinem Leben ist. Aber Beziehung läuft eben nicht nebenbei. Da muss man auch etwas dafür tun und wenn Sie da von ihm wenig Bemühen merken, überlegen Sie sich das gut. Und dazu gehört eben auch, dass er einfach mal nach Hause kommt und sich nicht nach seinem Dienst noch in irgendwelche OPs stellt. Chirurgen müssen OPs sammeln, das ist schon so, aber nicht immer und ständig. Es gibt genug Tage, an denen Sie auch arbeiten und da muss die Partnerschaft irgendwann mal drüber stehen.“

Ich nicke. Überlege eine Weile.
„Ich habe mir auch schon mal überlegt – das ist ja gar nicht so einfach. Wir sind ja keine 16 mehr. Jeder hat sein Leben bisher ohne den anderen gelebt, hat etablierte Routinen, Hobbies. Er ist entweder auf der Arbeit oder beim Paragliden oder bei seinen Eltern, dazwischen gibt es nicht viel. Und ich frage mich manchmal, was als „Wir“ da übrig bleiben soll, wenn die Anziehung eines Tages weniger wird. Weil die ist im Moment sehr stark, habe ich das Gefühl und wenn er dann mal da ist – die paar Stunden in der Woche – dann ist er auch ganz bei mir.“
„Aber das ist genau die richtige Frage, die Sie stellen Frau Mondkind. Und auch die Frage, die Sie diskutieren müssen. Und das ist aber eine zentrale Frage von jedem Paar, das sich etwas später im Leben kennen lernt. Es muss da eine gemeinsame Schnittmenge geben. Und es gab mal eine Studie, welche Faktoren günstig für eine gute Partnerschaft sind. Und da kam raus: Ein ähnlicher Bildungsabschluss und gleiche Interessen.“

Später reden wir noch darüber, wie viel von meiner Vergangenheit ich preis geben sollte. „Aktuell fühle ich mich manchmal so, als würde ich eine Rolle spielen und das fühlt sich nicht gut an. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich ihm so erzähle, was ich alles mit mir herum schleppe, dann könnte er das Gefühl haben, dass das selbst zu viel für zwei Schultern ist. Ich möchte es vermeiden ihn zu überfordern, oder ihm das Gefühl zu geben, er müsste sich um irgendetwas kümmern.“
„Naja, Frau Mondkind – also erzählen sollten Sie das schon, denke ich. Es hat Sie ja auch geprägt und Sie haben ja letztens schon gesagt, dass er etwas irritiert von Ihrer Ängstlichkeit um ihn waren. Sie können ruhig erzählen, dass Sie noch nicht so viel Erfahrungen mit Beziehungen haben und dass Sie sich da auch ein bisschen schwer tun, weil Sie eben mit der ersten Beziehung ganz blöde Erfahrungen gemacht haben. Und dann können Sie ja auch nachfragen: „Interessiert Dich das – möchtest Du etwas darüber wissen?“ Und dann schauen Sie, wie er reagiert. Machen Sie das ganz vorsichtig. Häppchenweise. Und wenn er an Ihnen interessiert ist, dann wird er sich das anhören und wenn nicht – dann ist es langfristig sowieso der Falsche.“

Wir reden nochmal über den verstorbenen Freund. „Ehrlich gesagt – ich würde eine Beziehung so wie ich sie damals geführt habe, heute nicht mehr führen. Und ich habe manchmal Angst, dass ich mich vielleicht irgendwann umdrehen und sagen werde, dass sein Tod auch eine Chance war. Für mich. Ich hätte das nie so gewollt, aber es ist jetzt eben so.“
Mein Gegenüber versteht. „Ich bewundere immer ein bisschen die Menschen, die dann ihre Sandkastenfreunde heiraten, obwohl das Leben sich wie ein Trichter auseinander entwickelt hat. Sie haben ihn in einer ganz anderen Zeit kennen gelernt, als sie auch sehr überfordert und verloren mit Ihrer Situation waren. Und heute sind Sie da aber nicht mehr. Natürlich würden Sie – wenn Sie wieder neu anfangen könnten und jetzt eben auch müssen – eine solche Beziehung nicht mehr führen.“

Ich bin schon dankbar, dass der Intensiv - Oberarzt immer noch an meiner Seite ist. Dieser Mensch ist gerade sehr, sehr viel wert und nach dem Gespräch merke ich, dass es in mir doch ein bisschen ruhiger wird. Keine Ahnung, ob das mit dem Kardiochirurgen etwas wird. Ich sehe das aktuell sehr kritisch. Eben weil wir uns so gut wie nicht hören oder sehen und auch Absprachen einfach nicht funktionieren.
Und ich weiß noch nicht, ob er einfach super verplant ist oder es auch einfach verschusselt sich zum melden, wenn er mal wieder bis tief in die Nacht im OP steht und ich nur ahnen kann, wo er ist, oder ob er einfach kein Interesse hat. Aber wenn er keins hätte, würden die Abende, an denen wir uns dann mal sehen nicht so laufen, wie sie laufen. Und immerhin war er auch ganz überrascht, als ich ihm offenbart habe, dass ich nach meiner ersten Mail an ihn eine komplett schlaflose Nacht hatte. Ich glaube, er macht sich da echt einfach keine Platte.

Kennlernphasen sind sehr anstrengend. Ich finde das weniger aufregend – es soll ja Menschen geben, die die Zeit schön finden. Und retrospektiv verklärt, wird sie das vielleicht irgendwann sogar mal sein. Aber irgendwie wünsche ich mir doch, dass ich das nicht immer wieder von vorne anfangen muss.


***
Notaufnahme
Die ist an diesem Nachmittag auch interessant.
Als ich komme, liegt ein junges Mädel in der Notaufnahme. Sie kommt von weit her, macht hier nur Urlaub und ist auf dem Parkplatz eines Einkaufsladens bewusstlos geworden. Im Vorfeld sind dissoziative Anfälle bekannt. Sie erzählt mir, dass es sich angefühlt hat wie immer bei solchen Anfällen, dass die im Moment gehäuft seien und sie vor wenigen Wochen endlich einen Platz in einer Spezialklinik hatte. Aber nachdem das dort mit den Anfällen etwas eskaliert ist, ist sie dort nach einer Woche wieder entlassen worden.
Ich beschließe, dass ich neben einem Labor und einer groben kardiologischen Untersuchung auch noch mal ein EEG mache. Zwar war sie schon zur umfassenden Epilepsie – Abklärung in einem entsprechenden Zentrum – das gehört dazu, ehe man jemandem dissoziative Anfälle diagnostiziert – aber dort sei nichts gefunden worden. Aber für die Sicherheit. Sie war immerhin knapp 30 Minuten nicht ansprechbar und wir machen bei jedem 90 – jährigen Opi, der mal kurz weg getreten ist, ein EEG.
Den Brief habe ich schon vorbereitet, zwischen Tür uns Angeln werfe ich nochmal einen schnellen Blick auf das EEG. Und da springen sie mich an. Die Spike – wave – Komplexe.
Ich rufe meinen Oberarzt an, berichte in groben Zügen die Geschichte. „Es ist klar Mondkind. Und die im Epilepsiezentrum haben gesagt, sie hat nichts?“, fragt er noch mal. „Ich hab die Unterlagen nicht, sie ist ja hier nur auf Urlaub, aber ich denke schon, dass das stimmt. Sie nimmt keine Antiepileptika.“ „Rede mit ihr Mondkind. Sag ihr, dass das ernst ist und wir sie gern hier nochmal zur Abklärung aufnehmen. Schau ob sie sich drauf einlässt, wenn sie hier im Urlaub ist. Schreib dann in die Aufnahmeinfo „dringender Verdacht auf duale Pathologie“."
Sie lässt sich drauf ein. Crazy. Das habe ich auch noch nicht erlebt. 


Später. Schon in der Dienstzeit. Die Kollegin hat ein Konsil von der Kardiologie. Eine Patientin, die beobachtet eine Halbseitenschwäche entwickelt hat. Und einen Gefäßverschluss hat.
Und dann machen wir ein Mal alles. Lyse. Thrombektomie. Und endlich mal wieder Studie. Federführend darf ich heute die ganze Studiensache in die Hand nehmen (es ist halt auch einfach niemand anders da) und mittlerweile haben wir so viel Übung damit, dass es sogar schon recht routiniert läuft.
Am Abend schaue ich nochmal bei der Patientin vorbei. Von der initialen Hemiplegie mit Blickwendung und Neglect ist nur noch wenig zu sehen.
So macht Arbeit Spaß. Mal sehen, wie es ihr heute im Spätdienst geht.

Später nehme ich noch eine Patientin auf, die im CT einen bereits gesichteten Schlaganfall hat, neurologische Ausfälle hat sie davon aber nicht. Das war eher ein Nebenbefund. Der Fall ist recht einfach – es braucht nur noch eine körperliche Untersuchung, einen Ultraschall und ein Labor. Erschwert wird das Ganze dadurch, dass die Dame etwas renitent ist und nicht versteht, dass sie gerade in der Notaufnahme – zeitgleich läuft die Studie – nicht die erste Geige spielt.
Der ganze Fall ist recht unspektakulär, bis ich später einen Angehörigen in der Leitung habe von dem ich weiß, dass der ehemalige Freund diesen Menschen auch sehr gut kennt. Und mein Gegenüber in der Leitung kennt mich ganz sicher auch. Nicht persönlich, aber aus Erzählungen. Er kennt die ganze Geschichte, von den Grundzügen bis zum Ende. Naja, ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob die beiden sich gesehen haben, seitdem wir uns endgültig getrennt haben, aber er wird sie erfahren.
Ich spüre ein Stechen irgendwo in der Nähe des Herzens. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich den ehemaligen Freund nicht vermisse. Aber ich weiß, es war im Grundsatz nicht meine Entscheidung. Diese letzte Entscheidung, ihn jetzt wirklich gehen zu lassen, das war meine Entscheidung. Aber trennen wollte er sich. Und manchmal wünsche ich immer noch, wir könnten uns von Zeit zu Zeit mal sehen. Aber ich weiß auch, das würde alles noch komplizierter machen und ich war schon froh, dass ich – dadurch, dass die Frau des Oberarztes krank ist – in den letzten Wochen keinen Grund hatte, in die Nachbarstadt zu fahren. Ich soll nicht riskieren irgendwo zwischen den Stühlen zu stehen. Zwischen dem Kardiochirurgen, mit dem alles so super schleppend voran geht und von dem ich nicht weiß, woran ich bin, aber mit dem das grundsätzlich noch gut werden könnte und dem ehemaligen Freund, mit dem es vertraut, aber aussichtslos ist. Und manchmal entscheidet sich mein Hirn dann für Vertrautheit und das darf nicht sein. Also sollen wir uns nicht sehen.

In Anbetracht aller Ereignisse des Nachmittages und Abends komme ich sogar noch verhältnismäßig pünktlich raus. Der Kardiochirurg hätte heute eigentlich auch einen recht kurzen Tag haben sollen, aber wahrscheinlich hat er sich wieder in irgendeinen OP geschmuggelt. Ich erreiche ihn jedenfalls nicht – also schreibe ich ihm kurz von meiner Epilepsiepatientin und der Studie, ehe ich ins Bett gehe. Irgendwann um kurz nach 1 Uhr in der Nacht schreibt er zurück. „Wir haben es wieder dezent übertrieben heute. Aber ich konnte wenigstens operieren.“ Dezent übertrieben… - ist wohl mal maßlos untertrieben. Ihr versteht mein Problem mit ihm, oder?

Mondkind


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