Um einen Freitagsdienst herum

Freitagmorgen.
Solche Dienste vor einem – hoffentlich – schönen Wochenende kommen mir bisweilen vor, wie der Mount Everest. Man könnte in ein paar Stunden geschmeidig ins Wochenende gleiten, aber so geschmeidig wird es wohl nicht werden… Ich habe irgendwie ein blödes Gefühl bei dem Dienst, aber wir werden es sehen.

Auf dem Weg zur Arbeit laufe ich an der Wäscheausgabe erstmal dem Kardiochirurgen in die Arme, der seine Kleidung gerade weg bringt und nach dem Nachtdienst auf dem Weg heim ist. So eine Umarmung am Morgen auf dem Flur kann ein Leuchten für den Rest des Tages sein. „Heute war besagte Nacht“, sagt er. Es gäbe immer eine Nacht in der Woche, die maximal anstrengend ist und blöd läuft und ein Blick auf die Uhr verrät, dass er immerhin auch anderthalb Überstunden gemacht hat. „Ich hoffe, das ist kein Zeichen für Deinen Dienst“, sagt er.

Der Tag auf der Station ist recht entspannt – auch wenn unser Oberarzt ziemlich unentspannt ist. Ich habe eine Patientin mit einer Dysarthrie und Schluckstörungen – das sei wohl angeblich alles ganz plötzlich aufgetreten. Das MRT verrät aber, dass sie keinen Schlaganfall hat. Punktiert habe ich sie schon Freitag, die Elektrophysiologie ist auch nicht groß aufregend – das wird noch spannend. Nicht, dass sie eine progressive Bulbärparalyse hat…

Um 16 Uhr trabe ich in die Notaufnahme. Der Tagdienst hat recht gut aufgeräumt – es geht ganz entspannt los. Ich weiß gar nicht mehr, wie spät es war – irgendwann zwischen 19 und 20 Uhr, als die Notaufnahme plötzlich zuläuft. Vier Stroke Angel werden hintereinander angemeldet und dann kommen auch noch drei oder vier Patienten zeitgleich fußläufig. Ich versuche mir einen Überblick zu schaffen, wer mich am dringendsten braucht und gemeinsam mit dem Spätdienst, der mich zum Glück sehr gut unterstützt, haben wir bis 22:30 Uhr die Lage einigermaßen im Griff – auch wenn immer noch bestimmt fünf Patienten in der Notaufnahme sind. Ich entscheide mich aber dennoch den Spätdienst heim zu schicken; das kriege ich jetzt hin.
Gegen 23 Uhr kommt noch ein Patient, der wohl plötzlich wesensverändert ist, der Rettungsdienst will eine fragliche Hemi gesehen haben – was aber immer sehr schwer ist, wenn die Patienten nicht mitmachen können. Er war erst kürzlich bei uns und wurde mit der Diagnose „optische Halluzinationen“ entlassen. Ein Symptom als Entlassungsdiagnose klingt schon sehr nach Verzweiflungsdiagnose – deshalb nehme ich das mal ernst und stelle den Mann auf den Kopf. CT und CT – Angiographie sind unauffällig; ich überlege schon, einfach mal eine Lyse rein laufen zu lassen; auf 2 NIHSS – Punkte kriege ich ihn sicherlich. Aber so richtig…? Ich setzte ihm die EEG – Kappe auf, sehe ein paar Wellen, von denen ich glaube, dass es Pulswellenartefakte sind, deshalb verschiebe ich die Kappe nochmal und dann sind sie weg. Die ersten Laborwerte sind auch nicht aufregend. Die Frau ruft mich zwischenzeitlich super besorgt an. Und nachdem in mir ein gewisser Verzweiflungsgrad erreicht ist, kommt der Alkoholspiegel, den ich einfach mal so nachgemeldet hatte. Aber bei ihm hatte ich daran wirklich nicht geglaubt, sonst habe ich da mittlerweile schon einen recht guten Riecher und immerhin war er im letzten stationären Aufenthalt nicht entzügig, das hätten wir vermerkt. Mit 3,3 Promille Alkohol im Blut kann es einem jedenfalls schon mal schlecht gehen. Ich bin selten wütend auf diese Patienten, aber heute bin ich es wirklich. Die ganze ZNA ist weiterin voll, in dieser Nacht kommt sie nicht zur Ruhe und ich habe absolut keine Zeit anderthalb Stunden für Alkoholintoxikierte zu verbrauchen.

Ich überlege, ob ich mal den Kardiochirurgen anrufe, der ein Stockwerk über mir auf der Intensivstation arbeitet, aber gegen 01:30 Uhr in der Nacht bekomme ich über die Pflege mit, dass für die Kardiochirurgie eine Aortendissektion mit dem Hubschrauber gemeldet ist. Zwar muss der Nacht – Intensivdienst nicht mit in den OP, aber er muss jetzt Betten jonglieren, um ein Intensivbett für den Patienten zu schaffen, deshalb lasse ich das und arbeite einfach weiter.

Eine Patientin mit Rückenschmerzen hat sich gestern aus der Lungenfachklinik entlassen lassen, weil sie der Meinung war, dass man sich dort nicht um ihre Schmerzen kümmert und steht jetzt bei uns. Sie besteht darauf, dass sie so nicht mehr nach Hause kann. Sie hat zwar zu ihrer schweren COPD noch eine Lungenentzündung, die mit Antibiotika behandelt werden muss – aber was kann ich machen? Ich weiß, das wird Ärger geben am Montag, aber ich nehme sie auf – auch, weil ich einen schweren Infekt auch als Neurologin nicht guten Gewissens heim schicken kann und der Internist, der ein Honorararzt in dieser Nacht ist beschließt, dass er eigentlich gar nicht arbeiten mag und einfach jeden heim schickt. (Mit dem habe ich mich -  zu aller Arbeit – noch richtig angelegt in der Nacht, weil er der Meinung war, ich müsste seine CTs anmelden. Fast hätte die Pflege den Hintergrund angerufen, weil ich standhaft war und mich neben meinen 12 Aufnahmen bis 23 Uhr eben nicht um die Internisten kümmern konnte).

Eine Patientin aus der Psychosomatik in der Nachbarstadt musste glaube ich bis 2 Uhr in der Nacht warten. Die dortige Dienstärztin hat sie mir als Trigeminusneuralgie geschickt und wer ein bisschen Neurologie kann weiß auch, dass das so höllische Schmerzen sind, dass die Suizidrate bei solchen Patienten nachweislich erhöht ist. (Ich hatte gerade ein paar Stunden vorher eine Patientin mit Trigeminusneuralgie aufgenommen und musste sie sogar sedieren, weil selbst stärkste Schmerzmittel nicht genug waren). Also habe ich sie angenommen – mit der Option sie zurück zu schicken, wenn sie nichts hat. Vermutlich hat die dortige Dienstärztin keine Ahnung, was eine Trigeminusneuralgie ist – die Patientin hat jedenfalls keine. Allerdings hat sie ihre Chance gewittert und mir dann noch erzählt, dass sie seit einer Woche zu den Gesichtsschmerzen dazu eine Hemihpyästhesie, sowie neu aufgetretene Kopfschmerzen hat. Ich würde wetten, dass das nichts Somatisches ist und ich habe der Patientin auch erklärt, dass das sicher nicht im Sinn ihrer psychosomatischen Behandlung ist, dass wir hier nochmal eine Runde Abklärung einlegen, die sie sicher schon gehabt hat, bevor sie in eine Psychosomatik geht. Aber rein formal muss ich das eben anbieten, wenn mir jemand nachts um zwei mit solchen Beschwerden ums Eck kommt und ich auch keinerlei Vorbefunde habe. Natürlich will sie die Abklärung. Und ich nehme sie einfach ohne weitere Diskussion auf; ich kann nicht mehr. Das wird nur auch Ärger am Montag geben.

Irgendwann um drei Uhr in der Nacht rufen mich die Kardiologen an. Eine Patientin sei jetzt akut wesensverändert. Ich schlappe hoch auf die Station und finde dort eine Patientin vor, die den immer nur gleichen Satz wiederholt und zu der man quasi keinen Kontakt aufnehmen kann. Dazu ist sie psychomotorisch unruhig, aber eine Hemi sehe ich nicht. Entweder sie ist stockdelirant oder sie hat eine schwere Aphasie und perseveriert auf diesem einen Satz. Ich möchte eine CT und CT – Angiographie, aber die Kardiologen möchten das mit ihren schlechten Nierenwerten nicht machen; wenn sie Pech hat, muss man sie danach nämlich dialysieren. Also einigen wir uns darauf, erstmal ein CT zu machen und ich versuche sie zu dopplern. Aber sie ist weiterhin so unruhig im Doppler und hat so eine schwere Makroangiopathie, dass ich nichts sehe. „Ich kann da nichts beurteilen. Kann sein, dass sie zumindest eine hochgradige ACI – Stenose hat und die Basiliaris sehe ich auch nicht. Wenn wir das jetzt klären wollen, brauchen wir eine Angio“, sage ich dem Kardiologen. Der setzt sich mit der Tochter auseinander, die stimmt der Untersuchung zu und wir fahren die Angio. Und was ich dann sehe, ist sehr erstaunlich. Basilaris- und M1 – Verschluss. Ich rufe den interventionellen Radiologen an und wir diskutieren bestimmt eine Stunde die Bilder. „Das klinische Bild passt dazu überhaupt nicht. Ich hatte eher so mit einem M2 – Verschluss gerechnet“, erkläre ich. „Sie ist nicht vigilanzgemindert und hat keine Hemi; langsam kann man sogar auf basalen Niveau wieder mit ihr kommunizieren“, erkläre ich. Der Radiologe glaubt, dass die Basilaris entweder hypoplastisch oder chronisch verschlossen ist und die Versorgung aus dem Vorderen Kreislauf kommt. Und die Media… - das geht sicher auch schon länger, meint der Radiologe. Bei einem M1 – Verschluss wäre sonst eben doch zumindest ein bisschen Hemi zu erwarten. Lysieren können wir sie auch nicht, weil sie schon Blutverdünner einnimmt. Also entscheiden wir uns in Nutzen – Risiko – Abwägung erstmal nichts zu tun. Und am Ende berichtet die Tochter auch: Sie war schon gestern Nachmittag verwirrt. Wenn sie da schon einen Schlaganfall geschossen hätte, hätte man im nativen CT nach über 12 Stunden schon etwas sehen müssen. Sehr kurios das Ganze. Ich bete, dass ich Montag nicht höre, dass sie dann doch irgendwann plötzlich komatös war.

Danach sind schon die frühen Morgenstunden angebrochen, die Notaufnahme füllt sich schon wieder mit Frühaufstehern. Kurz vor halb 9 rufe ich mal den Kardiochirurgen an. „Ich bin gerade in der Übergabe, ich rufe Dich in 10 Minuten an“, nuschelt er ins Telefon und legt wieder auf. 10 Minuten später erzählt er, dass seine Nacht recht ruhig war und er deshalb jetzt nochmal in den OP geht, wo immer noch die Aortendissektion operiert wird. Ich erzähle ihm von meinem Alkoholintoxikierten und den beiden Gefäßverschlüssen, mit denen die Patientin theoretisch klinisch fast tot sein müsste. „Also Mondkind, jetzt musste ich mich zusammen reißen, nicht über die Alkoholintoxikation zu lachen“, sagt er. „So witzig war das nicht“, entgegne ich.

Natürlich kommt vor 10 Uhr auch noch der obligatorische Wake – Up – Stroke – ich arbeite ihn schnell ab und gehe dann nach der Übergabe um kurz nach 11 Uhr aus der Klinik. Ich habe es in der Nacht nicht mal geschafft, meine Zähne zwischendurch zu putzen – ich weiß nicht, ob das jemals vorgekommen ist. Danach fahre ich noch fix einkaufen, ehe ich völlig platt bin, dann dusche ich und ein Blick auf das Handy verrät, dass der Kardiochirurg es bis halb Zwei auch mal aus der Klinik raus geschafft hat. („Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, mich noch im OP blicken zu lassen – natürlich wurde ich gleich eingespannt“, sagt er dazu. „Das habe ich mir schon gedacht, als Du das heute Morgen gesagt hast, aber ich habe mal nichts dazu gesagt. Du arbeitest schon zwei Jahre in diesem Laden, dass ein „ich schaue mal im OP vorbei und gehe dann wieder“, nicht klappt, hätte selbst ich Dir sagen können“, entgegne ich).

Ich stelle mir einen Wecker auf 18 Uhr und wache völlig gerädert auf. „Ich bin wach“, schreibe ich dem Kardiochirurgen gegen halb Sieben. „Ich bin auch wieder wach“, entgegnet er 20 Minuten später, aber bis dahin bin ich schon wieder eingeschlafen. Als ich eine Stunde später wieder aufwache, rufe ich ihn einfach an, sonst wird es wieder nichts mit uns.
„Wie machen wir das jetzt heute Abend?“, frage ich. „Ich würde Dich gern noch sehen. Wir müssen ja auch nicht viel machen. Nur still sein und fühlen – das reicht auch schon“, erkläre ich. Findet er gut, die Idee. „Wer zu wem?“, frage ich. „Also Du fährst nach Deinem Dienst heute nirgendwo mehr hin. Vier Stunden Schlaf nach 30 Stunden Wachsein ist weiterhin zu wenig“, beschließt er. „Ich würde vorschlagen, ich halte unterwegs an, bringe etwas zu essen mit und dann essen wir gemeinsam und ruhen uns aus.“ Ich stimme zu. Hat er das gerade wirklich so gesagt…?  Sehr fürsorglich der Herr, ich bin wirklich ganz beeindruckt. Und ich glaube das sind wirklich die Vorzüge von zwei Menschen, die im Dienstsystem arbeiten. Man weiß, wie fertig der andere ist, wenn die Nacht blöd war.
Gegen kurz vor 21 Uhr steht er mit dem Essen auf der Matte. Nach dem Essen kann ich kaum noch sitzen vor Erschöpfung und wir ziehen aufs Sofa. Ich merke richtig, wie nach anderthalb Tagen und einem richtig anstrengenden Dienst Ruhe in meinen Körper kommt. Nähe zu einem anderen Menschen, die – obwohl wir ineinander verschlungen dort liegen –  nie nah genug sein kann, ein anderes Herz schlagen zu fühlen, seine Hände irgendwo auf meinem Körper zu spüren, ist so wunderschön. Und ich habe das sehr, sehr doll vermisst. Bis zum ehemaligen Freund kannte ich das gar nicht und es hat mir nicht gefehlt – eher stand ich mit Körperkontakt zu anderen Menschen sehr auf Kriegsfuß - aber jetzt fehlt es mir. Und das darf natürlich nicht irgendein Mensch sein – bei den meisten Menschen mag ich das weiterhin nicht, selbst Umarmungen fallen mir oft schwer - das muss ein Mensch sein, den man richtig doll mag und ich glaube, ich bin sehr privilegiert, so jemanden nach so kurzer Zeit wieder kennen gelernt zu haben. „Es ist sehr schön hier gerade“, sage ich irgendwann. „Finde ich auch“, entgegnet er.
Ich schlafe glaube ich mehrmals kurz auf ihm ein. Und als ich um kurz vor Mitternacht wieder gegen den Schlaf kämpfe und ein paar Einschlafmyoklonien durch meinen Körper ziehen, hebt er mich vorsichtig von sich hoch und setzt mich neben sich. Ich kann kaum noch scharf sehen, als ich ihn anschaue. „Du bist sehr müde. Ich glaube, wir müssen beide ein bisschen Schlaf nachholen diese Nacht“, sagt er. „Wir sehen uns morgen – ich muss erst zu meinen Eltern und melde mich dann am Nachmittag“, ergänzt er, als er mich mit einem Kuss auf der Türschwelle verabschiedet.

Ein paar Minuten später liege ich in meinem Bett. Mein ganzer Körper riecht noch nach ihm. Und dann schlafe ich einfach mal 10 Stunden durch, ehe das Licht, das durch die Rolladen fällt, meine Nase kitzelt.
Ich hoffe so, so sehr, dass wir einen Weg finden werden, dass dieser Mensch in meinem Leben bleiben kann. Ich mag ihn. Sehr sogar. Er hat jetzt eine Woche frei, ich habe immerhin nächsten Donnerstag und Freitag frei. Ich weiß nicht, was sein Plan ist. Ich hatte verstanden, er ist in Italien, aber ich glaube, irgendetwas hat sich da verschoben. Vielleicht können wir diese Tage gemeinsam verbringen; das wäre schön.

Jetzt mache ich mal schnell den Haushalt fertig und dann hoffe ich, dass er heute nicht bei seinen Eltern versackt. Den Morgen habe ich mal genutzt für Kaffee, Obstsalat und Bloggen.


 Mondkind


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