Das Vergangenheits - Ich erzählt...


Wisst Ihr, was bei mir irgendwie ein Phänomen ist…? Immer, wenn es um die wirklich wichtigen Prüfungen geht, will mein Hirn lieber über die großen Dinge des Lebens nachdenken. Das war bisher vor jeder Prüfung so, weshalb die Therapeutin immer so ihre Mühe hat, in der Zeit vor den Prüfungen die Vergangenheitsbewältigung nicht zu exzessiv werden zu lassen…- geht das noch jemandem so?

Ich habe mal wieder ein wenig gestöbert und nehme Euch mit auf eine kleine Reise. Zurück zu den ersten Eindrücken des Ortes in der Ferne. Ein Monat, in dem ich zwischenzeitlich alles in Frage gestellt habe und am Ende eine Idee entstand, die erst ein kleines Pflänzchen war und heute schon ein ganzes Stück gewachsen ist. Manchmal kann ich echt nicht glauben, dass ich es war, die diese Worte geschrieben hat.

Sonntag, 21. Februar 2016 (Anreiseabend im kardiovaskulären Praktikum)
Es ist beinahe 18 Uhr.
Die Dunkelheit legt sich über das Land und jetzt sehe ich nicht mehr, dass draußen alles anders aussieht, als ich es gewohnt bin.
Ich sitze schon wieder in einem neuen Zimmer, auf einem neuen Bett. Habe wieder mal meinen Koffer ausgepackt. Ist ja nicht so neu in den letzten Monaten…
Für den nächsten Monat ist das hier mein Aufenthaltsort, wenn ich nicht gerade im Krankenhaus unterwegs bin oder im Seminar sitze.

Das hier soll die Chance meines Lebens werden. Naja okay, das ist übertrieben. Aber zumindest die Chance meines Studiums. Wir kommen alle von so weit her. Mit mir zusammen ist vorhin jemand aus Innsbruck gekommen.
Es ist so ein absolutes Privileg diesen Platz hier bekommen zu haben.

Montag, 22. Februar 2016
So, der Tag ist geschafft… Heute beim Abendessen hatten wir noch „get together“.
[…] Und dann haben wir da alle mit den Ober- und Chefärzten zusammen am Tisch gesessen und gequatscht. Die Neurologen haben das übrigens sehr systematisch gemacht – die haben so im Halbstundentakt die Tische gewechselt. Ich habe mir mal die Visitenkarte von einer Oberärztin abfotografiert. Ich möchte mich ja schon noch versuchen, in die Neuro zu tauschen…

Schon sehr abgefahren hier alles irgendwie… - die bemühen sich echt wahnsinnig, die Hierarchien flach zu halten und irgendwie nimmt das eine Menge Ängste. Ich habe das Gefühl, wir stehen alle zusammen auf einer Seite der Medizin: Auf der Seite des Patienten. Das übliche Machtgehabe zwischen den verschiedenen Positionen scheint es hier weniger zu geben und dadurch kann man mehr Energie in die Medizin an sich stecken. 

Das Foto ist mal auf dem Heimweg von einem Ausflug am Wochenende entstanden...



Freitag, 4. März 2016
Wochenende.
Wie wunderbar. Wieder eine Woche, die hinter uns liegt.
Wir sind fertig mit der Kardio. Ist die Kardio das, was ich den Rest meines Lebens tun will? Sollen kranke Herzen der Inhalt meiner Zukunft werden?
Ist es wirklich das, was mich mitreißt?

Teilweise brauche ich diese Metaebene am Ende eines Tages. Dieses Kreisen um mich selbst, die Sinnsuche im Tag, das Analysieren und eventuell letzten Endes Verstehen. Aber zu viel Metaebene birgt die Gefahr sich zu verlieren.
Unter der Woche komme ich auch gar nicht viel dazu. Nur am Wochenende.
Warum Medizin? Warum möchte ich mein Leben damit verbringen über weiße Flure zu laufen und inmitten eines Gefechtes zwischen Schwestern und Chefärzten versuchen, Menschen zu heilen? Ist diese Arbeitsatmosphäre wirklich etwas für mich? Für mich, deren Toleranzgrenze bei Streitigkeiten niedriger liegt, als bei allen anderen Menschen, die ich kenne? Und möchte ich mich wirklich täglich mit so viel Leid auseinander setzen? „Entweder Dialyse oder Sie sterben in ein paar Wochen“. Beides beschissen, aber leider wahr.
Und warum studiere ich ein Fach, das einem im Prinzip jeden Tag ins Gesicht schreit, nicht genug zu sein? Manchmal habe ich das Gefühl in der Medizin werde ich immer im Tal der Ahnungslosen bleiben. Alle fünf Jahre verdoppelt sich das medizinische Wissen.
Das geht schon mal allein damit los, dass ich mit vielen Medikamenten nicht mehr so viel anfangen kann, oder zumindest lange überlegen muss, obwohl wir Pharma schon hatten. Und gerade hier stelle ich fest, dass es innerhalb der Abteilungen immer wieder Disziplinen gibt, die so hochspezialisiert sind, dass das im Prinzip keine Medizin mehr ist, so wie ich mir das zu Beginn des Studiums mal vorgestellt habe. (Falls ich mir damals überhaupt irgendetwas vorgestellt hatte…)
Einige Kardiologen hier sind mehr Elektrophysiker als alles andere. Die verbringen ihren Tag damit Ablationen zu machen. Winzige Teile im Herz zu veröden, um Extraschläge und tödliches Kammerflimmern verhindern. Für die besteht der Patient nur noch aus Zahlen und EKG – Kurven. Das ist nicht das, was ich machen möchte.
Vielleicht werde ich ja doch Neurologin….? Mum tickt wahrscheinlich aus, aber das kann mir ja mittlerweile egal sein. Der Vortrag den wir letztens nachmittags hatten, war richtig interessant. Da kannst Du zumindest mit einfachsten Hilfsmitteln schon ziemlich viel Diagnostik betreiben. Du kannst sagen, welcher Hirnnverv ausgefallen ist und mit etwas Übung sogar wo. Du kannst sagen, wo im Hirn der Schlaganfall statt gefunden hat und wenn jemand vor Dir mit einer Blasenstörung sitzt, kannst Du mit etwas Übung allein durch fragen wissen, ob das Problem zentral oder peripher ist und wenn es zentral ist, ob es im Gehin oder Rückenmark sitzt und wenn es im Rückenmark ist, kannst Du sogar sagen, auf welcher Höhe.

Und werde ich jemals wieder dazu kommen zumindest ein winziges bisschen meiner Kreativität ausleben zu können? Werde ich irgendwann mal wieder schreiben? Oder Musik machen? Oder mich mit Sprachen auseinander setzen können? Der ganze naturwisschenschaftliche Kram war immer weder etwas, das mir besonders lag noch etwas, das mir viel Spaß gemacht hat. Also bin ich jetzt auf der komplett gegensätzlichen Schiene unterwegs von dem, was ich früher als Mensch war.
Wird man überhaupt in den nächsten Jahren wieder etwas wie ein Leben haben? Das Studium ist irre stressig und ständig von dem Gefühl „das wird nix“ geprägt. Aber machen wir uns mal nichts vor: Als Assistenzarzt pünktlich von Station zu kommen ist in 90 % der Fälle aussichtslos.
Wäre nicht für einen Menschen, der so viel Regelmäßigkeit braucht wie ich ein Job etwas gewesen, bei dem die Arbeitszeiten monoton jeden Tag gleich sind?
Das war der Ausblick aus meinem Zimmer damals...

Freitag, 18. März 2016
Also die Neuro… haut mich um. Im positiven Sinne. Ich schaffe es wirklich erstmals in einem Fachbereich zu gehen und dort nicht hinaus zu gehen mit dem Gedanken: Sorry, aber das will ich nie, nie im Leben tun.
Gleich gehe ich noch mal auf die Neuro. Wer hätte gedacht, dass ich auch nur einen einzigen Tag Famulatur im Krankenhaus freiwillig mache.
Aber hey – so kanns gehen.

Samstag, 19. März 2016
Ich sitze wieder auf meinem Bett.
Das Zimmer wird langsam leerer. Die Klamotten verschwinden wieder mehr und mehr in meinem Koffer.
Es ist vorbei. Der Monat ist geschafft und morgen geht es richtung Heimat. Ich bin die letzte von uns allen, die noch hier ist.
Ich bin traurig.

Ich kann mich noch erinnern, wie die Anästhesistin mir damals in der Famulaur sagte: „Das war die beste Zeit meines Studiums…“ Und ich dachte, dass mir schon geholfen wäre, wenn es nur halb so gut wäre, wie sie sagt. Aber sie hatte Recht: Es waren die bisher besten vier Wochen des Studiums.
Ich werde das hier vermissen. Sehr vermissen.

Montag, 21. März 2016
„Wie geht es Ihnen?“ Letzte Woche, als ich abends im Bett lag habe ich mal darüber nachgedacht, wie ich darauf zur Zeit antworten würde. „Gut“, schoss es mir durch den Kopf. „Es geht mir gut“.
Manche Tage war es so gut, dass ich schon angefangen habe Angst zu bekommen, wie es wohl so sein wird, wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. „Was willst Du eigentlich nächste Woche in der Ambulanz?“, habe ich mich gefragt. Läuft doch alles.

Es lief alles. Es lief alles genau so lange, bis ich aus dem Zug ausgestiegen war.

Mittwoch, 23. März 2016
Wer hätte gedacht, dass Atmen so schnell wieder so schwierig sein kann? Wer hätte gedacht, dass Tage so schnell wieder so schwer werden? Dass ich so schnell anfange mich durch die Tagebucheinträge der letzten Wochen zu lesen, auf der Suche nach dem Etwas zwischen den Zeilen, das mich den Moment noch einmal fühlen lässt.
Nachdem wir letztens noch im Sonnenuntergang auf dem Hubschrauberlandeplatz standen, und ich ein Gefühl von „Ich kann es alles irgendwie schaffen“ hatte.
Kaum zu glauben, dass das erst wenige Tage her ist. Und ich mich jetzt wieder langsam beginne, von Tag zu Tag zu hangeln. Dass die Ambulanz wieder zum Stoppschild auf meinem Weg wird, weil ich nur dort meinen Kopf sortieren kann.  Und ich schon wieder beginne Fragen zu stellen, die mir ohnehin keiner beantworten kann. Der Weg zurück. Ich habe gehofft, dass das etwas länger dauert, bis es kommt

Ist leider echt nicht das schönste Foto, aber auf allen anderen sind Menschen zu erkennen... - es war auf jeden Fall so ein perfekter Moment da oben.


***
Wow… - ich bin mir ja hin und wieder so dankbar für mein Tagebuch. Und das waren nur wenige Ausschnitte, es gibt noch so viel mehr Material… - einiges sollte aber bekanntlich lieber in der Schreibtischschublade bleiben.

Eigentlich sprechen diese Worte schon für sich.

Vielleicht langweilen Euch meine sentimentalen Rückblicke schon wieder ein wenig… - aber mich berührt das gerade wirklich.
Man kann diesen Wendepunkt beinahe heute noch fühlen. Ganz am Anfang, wie ich da dezent überfordert am ersten Abend des Praktikums in meinem Zimmer saß. Für eine Famulatur die Koffer gepackt habe und weit gefahren bin. Mein Privatleben war zu dem Zeitpunkt ja sowieso schon komplett chaotisch, aber statt es sich wenigstens ein Mal einfach zu machen und die Praktikumszeit an der Uniklinik abzusitzen, muss Mondkind natürlich noch durch halb Deutschland gurken.

„Warum Medizin?“ – auch eine Frage, die ich mir in den 3,5 Jahren, die ich zu dem Zeitpunkt schon studiert hatte, immer wieder gestellt habe. Wenn man die Tagebucheinträge vor dem Studium liest (vielleicht lasse ich Euch daran zu einem anderen Zeitpunkt auch noch teilhaben – jetzt würde es den Rahmen aber sprengen), erkennt man, dass ich schon viele Ideen für meine Zukunft und mein Studium hatte. Aber es gab immer Gründe, warum dieses oder jenes nicht ging und da ich damals noch extrem unter dem Scheffel meiner Mutter stand, wurden die Möglichkeiten spitzfindig immer weiter eingeschränkt, bis nur noch Medizin übrig blieb.
Ich war da lange in einer sehr passiven Haltung und daher auch gar nicht in der Lage, die Begeisterung für die Medizin zu fühlen. Ich habe das Studium weniger als Chance, sondern mehr als Niederlage gegen meine Eltern betrachtet.
Neuro und Psychiatrie waren ja lange Zeit tabu – so tabu, dass ich nicht mal darüber nachgedacht habe. Ich habe mich schon in der Oberstufe geärgert, Bio nicht als Leistungskurs gewählt zu haben, weil ich ja nach Meinung meines Umfeldes der „naturwissenschaftliche Depp“ war. Aber die ganze Neurophysiologie hat mich so gefesselt, dass ich damals schon über das Lehrbuch hinaus Material gelesen habe und meine Referate häufig ein bisschen jenseits von dem waren, das man in der Schule hätte lernen sollen.
Selbst in der Vorklinik im Studium habe ich alles was mit Neuro zu tun hatte, sei das nun Anatomie oder Physiologie gewesen geliebt, aber ich habe mich nicht getraut die Barriere meiner Eltern zu überspringen, nachdem wir eine endlose Diskussion darüber hatten, ob ich mein Pflegepraktikum in dem Bereich machen darf oder nicht. Und ich frage mich heute ernsthaft, warum ich das so passiv hingenommen habe. Warum ich so stillschweigend den Alternativplan Kardio entwickelt habe, nur damit es irgendetwas gibt. Warum ich nicht gesagt habe: Hey, es ist mein Leben.

Und dann hatte ich das große Glück, dass ich ungesehen so hinein gerutscht bin in die Neuro und mir das wirklich die Augen geöffnet hat. Hatte ich wenige Tage davor noch einen so nachdenklichen Eintrag über das Warum der Medizin geschrieben und darüber, dass der Alternativplan „Kardio“ für mich nicht funktioniert, weil es eben immer nur eine Alternative war, gab es die Frage ein paar Tage später nie wieder in der Form. Die Neuro dort hat mir den Schubs gegeben den Mut aufzubringen einen Weg einzuschlagen, der meiner werden würde.

Und erst danach – nachdem ich meine Nische gefunden hatte – konnte ich für mich und die Medizin kämpfen, konnte sehen, wie faszinierend das alles ist. Weil ich es endlich für mich selbst getan habe und das Studium kein Ausdruck eines verlorenen Kampfes mehr war.

Und dann war das Ende von diesem ersten Aufenthalt dort so tragisch. Gerade, wenn man weiß, wie es vor dem Praktikum lief, dann war es das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ich wirklich glücklich war. Fast glaube ich heute, dass diese krassen Gegensätze zwischen den letzten Tagen im Praktikum und dem ersten Tag zu Hause mir klar gemacht haben, dass ich zurück muss.

„Mondkind, Du hast eine ganz starke Intuition“, sagte mal jemand zu mir. „Vielleicht kannst Du gar nicht genau begründen, was Du da machst, aber Du suchst so lange, bis Du etwas findest, mit dem Du leben kannst.“

Es hat mich viele Umwege gekostet, viele Täler, viele Tränen, viel Verzweiflung. Aber ganz am Ende habe ich vielleicht den Weg ins Licht gefunden, weil ich mich doch nie aufgegeben habe.
Ich habe mir so lange Vorwürfe gemacht, dass da jemand Medizin studiert, der gar nicht wirklich daran hängt. Was würden andere Menschen dafür geben? Aber ich habe so lange gesucht und mich soweit aus den Fesseln der Familie gelöst, bis es dann doch ging. Aus dem Plan für mich, der eigentlich ein ganz anderer war, habe ich meinen eigenen gemacht.

Ich weiß nicht, ob ich das sagen kann, aber manchmal – wenn ich das alles mit etwas Abstand betrachte – bin ich vielleicht doch ein kleines bisschen stolz auf mich.Am Ende war es vielleicht wirklich die Chance meines Lebens - auch wenn das am ersten Tag natürlich eigentlich mit einem kleinen Augenzwinkern gemeint war...
Und wisst Ihr… - mich motiviert das gerade alles so. Diese verdammte letzte Prüfung… - egal, wann der Prüfungstermin liegt, wo mir überall noch Zeit verloren geht, weil wir noch Vorgespräche führen müssen, ich noch zum Landesprüfungsamt muss, um die letzten Zettel abzugeben und auch noch shoppen gehen muss (mit lila Turnschuhen sollte ich doch nicht in die Prüfung) und mein Hirn auch noch Saltos schlägt – es ist an der Zeit nochmal die Zähne zusammen zu beißen. Wie lang nun auch immer. Die Psyche darf hinterher schlapp machen. Nicht vorher.
Und ich brauche keinen mehr, für den ich das mache. Es ist für mich. Ich kämpfe hier gerade für meine Zukunft. An dem Ort, den ich mir ausgesucht habe, den ich liebe, an dem ich mich mehr zu Hause fühle, als irgendwo sonst und den mir auch nichts und niemand mehr ausreden kann. 

So... - jetzt wünscht mir mal, dass es hier ein wenig still ist in den nächsten Tagen. Das heißt nämlich im Bestfall, dass ich konzentiert lerne... 

Aber heute Abend muss ich mir jetzt mal noch eine kleine Belohnung dafür gönnen, dass ich heute die kompletten Endokrinologie - Scripte geschafft habe... 


Zum Thema Bewegungsstörungen kann mich bald nicht mehr viel schocken... - das Gehirn ist aber schon echt genial, das muss man ja sagen... (ich fand die Basalganglienschleife in der Vorklinik schon absolut faszinierend... )

Mondkind

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