Sein


Irgendwie musstest Du immer kämpfen. Für alles.
Einfach nur sein, gab es nie. Du selbst zu sein, hat nie gereicht.
Jahrelang hast Du versucht, gut genug in der Schule zu sein, damit die Eltern zufrieden sind. Damit Du gesehen wirst. Damit Du einen Platz in dieser Familie bekommst.
Okay war es trotzdem nie. „Ich stand früher um zwei Uhr nachmittags auf dem Fußballplatz und habe trotzdem Einsen nach Hause gebracht“, pflegte mein Vater zu sagen.
Nur irgendwie war ich halt nicht so das Brain. Bestnoten ohne etwas dafür zu tun – das war die Traumvorstellung, die ich nie erfüllen konnte.
„Du bist halt echt ein Familienmensch. Und es ist eine Tragödie, dass Du so sehr darum kämpfen musstest, dort Deinen Platz zu finden und das irgendwann trotz allem nicht mehr funktioniert hat“, erklärte mal jemand.

Dass das Projekt „Familie“ gescheitert war, wurde mir spätestens klar, als ich mit einem Koffer und einem Rucksack auf dem Bahnhof in unserem Ort stand und nicht so richtig wusste, wohin mit mir. Was folgte, war jahrelange Heimatlosigkeit. Die es wohl auch schon vorher gab, aber weil „Familie“ und „Heimat“ für mich in gewisser Hinsicht synonym waren, habe ich das nie gesehen.
Beendet hat diesen Zustand des Herum tingelns eigentlich erst die Psychiatrie – auch wenn das natürlich auch nur eine Scheinwelt war und wenig mit der Realität zu tun hatte. Von da aus ging es dann alleine in meiner Studienstadt weiter. Aber ab dem Moment war zumindest offensichtlich, dass ich auf mich selbst gestellt bin, es kein Zurück mehr gibt und das auch vorerst alles so bleiben wird. (Ich glaube rückblickend, dass genau das der Punkt war, weshalb ich mich mit Händen und Füßen gegen diesen Umzug gewehrt habe und es mir danach damit auch noch lange nicht gut ging. Ich wollte nicht akzeptieren, dass das Ding "Familie" durch war. Aber das wäre es vermutlich auch gewesen, wenn ich an meinem alten Wohnort geblieben wäre - mit dem Unterschied, dass ich wahrscheinlich doch noch viel Energie hinein gesteckt hätte, dass es doch noch anders kommt).

Obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn mehr hat etwas zu suchen, das ich nie finden werde, habe ich unterbewusst wohl nie aufgehört. Der Ort in der Ferne. „Ich habe diese ganze Familienproblematik ja von mir aus nie so richtig kommuniziert“, erklärte ich letztens der Therapeutin. „Damit geht man ja nicht hausieren…- schon gar nicht im Job. Ein bisschen Anstand habe ich ja schon... “ „Jetzt werten Sie das nicht als Charakterschwäche – das ist bei Ihnen alles nachvollziehbar – aber sie haben es eben durch ihr Verhalten und die Körpersprache kommuniziert. Da sind dann halt bei ihrem Gegenüber die „Elterninstinkte“ angesprungen – vielleicht ist ihr Gegenüber ja auch in einer dafür vulnerablen Position gewesen. Und dann hat das halt alles irgendwie gepasst…“

Das Problem ist, dass es dieses neue, selbst gewählte „zu Hause“ – sowohl was den Ort, als auch die Menschen anbelangt – auch nicht ohne Zutun gibt. Einfach nur ich selbst sein, reicht auch hier nicht aus. Um überhaupt wieder dorthin zu dürfen, muss ich ein Examen bestehen. Und wenn ich wieder da bin, muss ich meine Patienten versorgen können. Nichts übersehen, die richtigen Ideen haben, in keine Fettnäpfchen treten, nicht auffallen, weil ich zu langsam, zu schüchtern, zu inkompetent bin.

Eine Situation, die die ganze Konstellation da unten mit sich bringt. Und die eben genau deshalb nicht unproblematisch ist.
Das ist schon einer meiner größten Wünsche - irgendwo einfach mal angenommen zu werden, weil ich "ich selbst" bin. Nicht, weil ich irgendetwas getan oder auch nicht getan habe.

Ein bisschen hat es ja schon funktioniert dort unten. Am Wochenende einfach mal in den Park gehen. Ohne Plan ins Wochenende starten. In Ruhe durch einen Supermarkt gehen und sich inspirieren zu lassen, was man in der Küche wieder ausprobieren kann. Bananenbrot, Porridge, Käsekuchen, Süßkartoffelpommes, Kürbis… - ich habe viele Dinge zum ersten Mal gegessen dort unten. (Und ich habe festgestellt, dass eine Essstörung wenn man eine Küche hat, eigentlich ziemlich bescheuert ist und ich schließlich auch ernst genommen wurde, ohne wie ein Skelett auszusehen – das sollte ich mir hier hin und wieder vor Augen halten).
Ich glaube, es hat temporär geklappt dort unten, weil ich sicher war. Weil ich einen Platz hatte. Weil es auffiel, wenn ich fehlte. Mein Kopf war ruhiger. Konnte die Stille aushalten. Ich konnte in mir ruhen, mich selbst aushalten, mich fühlen, ohne zu zerbrechen. Kein ewiges Davonrennen vor mir selbst mehr.

Jedenfalls… - that’s why… - Das alles ist der Grund, warum ich die Hälfte des Jahres wieder hinter den Fensterscheiben verbringe. Der Grund, der jeden Tag eine Rechnung werden lässt. Der mich auf der Station ungeduldig von einem Fuß auf den anderen treten lässt, weil jede Minute, die vergeht, Lernzeit ist. Der Grund, weshalb bei jeder Veranstaltung abgewogen werden muss, ob die unbedingt sein muss (Dienstag ist ein Vortrag über Versicherungen im Job – das ist ja eigentlich wichtig; da bin ich mir noch nicht ganz sicher), weshalb jeder Gang zum Supermarkt wohl überlegt ist, weshalb ich am Wochenende spätestens um 8 Uhr angezogen und mit Kaffee am Schreibtisch zu sitzen habe – unter der Woche wird es wesentlich eher sein. Der Grund, warum alles in festgefahrenen Bahnen verlaufen muss, die vorher für „am zeiteffizientesten“ befunden und auf Tagesplänen festgehalten wurden. 
Und auch das alles ist keine Garantie dafür, dass es klappt.
Gefangen in mir selbst. Vielleicht symbolisieren die Fensterscheiben am ehesten noch die Gitter in meinem Kopf



Auf die Frage „Wie lange noch, bis dieser Wahnsinn hier vorbei ist?“, gibt es noch keine Antwort. Der Prüfungstermin wird der "Tag X", ab dem nicht alles besser wird, aber ab dem ich zumindest nicht mehr funktionieren muss.

Es geht nicht um das Examen. In Neuro wäre ich schon ganz gerne recht gut, beim Rest reicht Bestehen. Und eigentlich müsste ich mir nicht so einen Stress machen. Ich darf die Wohnung noch ein halbes Jahr behalten und immerhin habe ich in den letzten 10 Jahren sowieso selten etwas anderes gemacht, als dass ich den Schreibtisch gehütet oder Krankenhausflure gesehen habe. Da kann ich auch noch ein halbes weiteres Jahr im Kreis lernen – dann sollte man das doch wohl drauf haben.
Aber ich möchte, dass das aufhört. Besser heute als morgen. Ja, das geht seit mehr als 10 Jahren fast durchgängig so, aber das heißt nicht, dass man sich dran gewöhnt. „Mondkind, ich kenne Dich doch. Du packst nach dem Examen Deine Sachen und bist weg…“, sagte ein Freund mal. Vielleicht wäre das wirklich die beste Lösung. Ob ich in der Klinik nicht wieder nur verzweifelt um Verständnis ringe und die Zeit dann dort verliere, weiß ich auch noch nicht. Andererseits geht es so schnell doch nicht – selbst wenn ich einen Hospitantenvertrag ohne Approbation bekomme, bis ich sie habe. Aber ich muss die Wohnung vermieten, eine Neue finden, die Approbation beantragen und abholen (muss man sicher alles wieder persönlich machen…) und noch ein paar Dinge erledigen, die in den letzten Monaten liegen geblieben sind.

Und so ganz am Ende… - ist es auch nur eine vage Hoffnung, dass der Wahnsinn dort unten aufhört. Vielleicht habe ich auch so lange am Rand des Abgrundes gekämpft dafür, dass die Zukunft auch nicht mehr als eine Illusion ist.

Was ist in meinem Hirn eigentlich schon wieder los…? Tagesplan und so… - sieht gerade nicht so gut aus. Und nächste Woche sehe ich nicht mal meine Therapeutin…

Mondkind

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