Ein paar Gedanken zu Examensvorbereitung und Therapie
Ein mal tief einatmen.
Und dann weiter gehen. Ganz langsam, Tag für Tag.
Heute Morgen bin ich erstmal in die Ambulanz zu meiner Therapeutin
gefahren und nach dem Karussell, das ich in den letzten Tagen im Kopf hatte,
war das auch bitter nötig.
Im ersten Teil der Stunde ging es um das Examen. Ich habe das alles
ein bisschen unterschätzt ehrlich gesagt – war der Meinung, dass es so laufen
würde, wie letztes Jahr. Dass man Tag für Tag da sitzt, völlig vereinsamt, den
Frühling verpasst, aber halt tut, was zu tun ist: Sich so viel Wissen wie es
geht, innerhalb kürzester Zeit anzueignen. Aber diesmal sind die Umstände eben
noch etwas extremer. Es gibt keinen Prüfungstermin – also weiß ich gar nicht,
wann ich mit meinem Lernplan am Ende fertig sein muss. Und es gibt halt auch
keine Sicherheiten: Mit den Endspurt – Scripten wusste man, dass die Autoren
sich Gedanken gemacht haben und die Examen der letzten Jahre analysiert haben,
um daraus die Scripte zu erstellen. Man war nicht alleine. Viele tausend
Studenten lernen mit diesen Scripten und wenn man die einigermaßen drauf hat, sollte
das klappen. Jetzt sieht es anders aus.
„Naja, wenn Sie jetzt den Chef der Abteilung für Bewegungsstörungen
als Prüfer haben, dann sollten Sie sich schon die neuroanatomischen und
neurophysiologischen Grundlagen anschauen.“ Ja, mit Anatomie – Lücken aufzufallen,
kegelt einen häufig ziemlich ins Abseits. Aber wann zum Geier soll ich das
machen? In Hämatoonkologie habe ich mir jetzt auch noch ein Buch organisiert,
aber das muss ich eben auch noch irgendwann lesen.
Ich denke mir jeden Abend: „Ach komm Mondkind, liest Du noch eine
halbe Stunde Neuroleitlinien – das macht wenigstens Spaß…“, aber irgendwann ist
das Hirn einfach dicht und will sowieso lieber andere Dinge denken.
Andere Dinge… - das ist der Ort in der Ferne. Der im Moment wirklich
fern ist. „Es ist doch nur noch ein kurzes Intermezzo in der Studienstadt“, war
die Ansage. Aber, dass es nicht nur zeitlich gesehen ein paar Monate sind,
sondern mich ein ganzes Staatsexamen von der selbstgewählten Heimat trennt,
haben die meisten übersehen.
Ich habe in den letzten Tagen – und oft schiebt es sich so sehr in den
Vordergrund, dass Lernen beim besten Willen nicht geht, bis ich mir Zeit
eingeräumt habe, die Gedankenschleife zu Ende zu denken – nochmal viel
recherchiert. Alle Tagebucheinträge, die mit dem Ort in der Ferne im
Zusammenhang stehen gelesen, alle Fotos angeschaut, alle Mails gelesen, die hin
und her gingen. Das ging alles aus, von diesem Blogpost „Sein“. Davon, dass mir
klar wird, dass meine Schwester und ich an völlig verschiedenen Ecken von
Deutschland leben werden und diese Zeiten, um die ich da gerade ganz latent
trauere, ohne das wirklich zuzulassen, weil mich das wahrscheinlich lernunfähig
zurück lassen würde, ohnehin schon längst vorbei sind.
Und heute kam dann der Punkt in der Therapie, an den ich mir das
einfach mal alles von der Seele reden musste. Die ersten Begegnungen mit dem
Ort an sich. Wie ich dazu kam, meinen Einsatz in der Radiologie gegen den in
der Neuro zu tauschen und dass ich schon vorher irgendwie die vage Idee hatte,
mir die Neuro mal anzusehen. Über die ersten drei Tage dort in der Neuro, dass
wir unglaublich viel gelernt haben, in kleinen „Privatstunden“, die die
Oberärzte einer Hand voll Studenten erteilt haben und natürlich von der ersten
Begegnung mit diesem einen Menschen dort, der irgendwie so viel verändert hat. Dass natürlich diese Begegnung in einer Fachrichtung stand fand, die mich in den Tagen davor unvorbereitet völlig fasziniert hatte, war schlichtweg ein glücklicher Zufall. Ich habe ihr auch erzählt, wie es sich im Anschluss alles weiter entwickelt hat über die letzten drei
Jahre. Ich habe die Geschichte der Therapeutin von vorne bis hinten noch nie
erzählt. Zu groß war die Angst vor Ablehnung.
„Ich glaube, ihm ist gar nicht so klar, wie sehr er mich einfach über
die Zeit gezogen hat. Seitdem es diesen Ort und diese Vision einer Zukunft gab,
wusste ich – dass so dunkel wie die Zeiten auch sein mögen – ich einfach weiter
gehen muss. Ohne diese Zeit dort, wäre ich vielleicht nicht so schnell an
diesem Punkt, an dem ich jetzt bin gewesen, weil ich nichts gefunden hätte, für
das es sich lohnt. Und dann wäre ich vielleicht das ein oder andere Mal mehr
zusammen geklappt.“ Im Prinzip hat auch die Vision eines Ortes in der Ferne die
Suizidalität, die manchmal so übermächtig erscheint, nicht gemindert. Aber ich
glaube, dass es irgendwo einen ganz kleinen Teil in meinem Kopf gibt, der
eisern die Hoffnung trägt. Der sagt, dass doch die guten Zeiten beweisen, dass
das Leben ein Geschenk und zu wertvoll ist, um einfach aufzugeben. Und „die
guten Zeiten“ waren weniger ausgelöst von Erfolgen in der Uni oder der Schule.
Viel mehr waren sie davon ausgelöst, gesehen zu werden. Zu wissen, dass man
irgendwo einen ganz festen Platz hat.
„Wenn Sie mir das alles so erzählen“, stellte der Seelsorger im
letzten Herbst mal fest, „habe ich noch nicht den Punkt gefunden, warum sie
immer noch hier stehen und das alles von außen betrachtet recht souverän schaffen.“
Da er zwar theoretisch eine Schweigepflicht hat, aber eben doch auch in diesem
Krankenhaus mit drin hängt, hatte ich diesen Teil der Geschichte erstmal weg
gelassen. Und ohne den scheint es keine Antwort zu geben – weil genau das die
Antwort ist.
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Kann mich genau an den Tag erinnern... - meine Schwester und ich sind in einen der umliegenden Orte gefahren |
Die Therapeutin erklärt, dass es alles völlig verständlich und
nachvollziehbar vor dem Hintergrund von meiner Vergangenheit ist. Das
eigentlich Tragische an der Geschichte ist ja, dass ich da so viele Dinge
erlebt habe, die man eigentlich in einem familiären Umfeld und nicht ein einem
Arbeitsumfeld erleben sollte. Aber es ist so passiert. Und es bringt keinen
weiter, sich dafür zu verurteilen – auch wenn ich selbst das regelmäßig tue.
Es gibt ja nun aber doch einige Knackpunkte an der ganzen Sache:
Der Eine ist, dass er der erste Mensch überhaupt war, der die
Umkehrung der Leitsätze gelebt hat. Der mich immer wieder mit Dingen erstaunt
hat, die er selbst vielleicht gar nicht so erstaunlich findet. Und der auch
irgendwie gelernt hat nachzuvollziehen, was in meinem Kopf passiert. Der dann
manchmal kommt und genau im richtigen Moment, die richtigen Dinge sagt. Ein „Du
bist ein wertvoller Mensch“ nach einer versiebten Prüfung ist mindestens 100
Mal so wirkungsvoll, wie jede therapeutische Verdrehung von Leitsätzen, die
doch immer etwas gestellt wirken.
Ein Weiterer ist, dass all das nun mal nicht in einem privaten Umfeld
passiert ist, wo die Sache einigermaßen „safe“ wäre, sondern in einem
beruflichen Umfeld. Es kann nun mal überall passieren, wo Menschen zusammen
arbeiten – wo nun auch immer das sein mag - aber im Prinzip könnte ich in der
Konstellation halt auch absolut nichts dagegen tun, wenn es von heute auf
morgen vorbei wäre - und davor habe ich unfassbar viel Angst. Ich wäre wahrscheinlich nicht mal in der Position nach dem
„Warum“ fragen zu dürfen. Und die Angst für mich das Wertvollste überhaupt zu
verlieren, die schwingt natürlich immer mit. Auch wenn er mir durch die Blume
immer wieder klar macht, dass er noch eine Weile ein Auge auf mein Tun haben
wird.
Eine dritte – eigentlich auf dem vorherigen Punkt basierende, aber
etwas anders gewichtete Sache ist -, dass ich es nie erlebt habe, dass Menschen auch
bleiben, einfach weil sie mich als Menschen schätzen. Alles was ich bisher
erlebt habe, waren im Prinzip „Zweckgemeinschaften“. Man raufte sich zusammen,
weil es gerade nicht anders ging. Und da ich nicht sehe, was er für einen
Nutzen von meiner Person in seinem Leben hat (obwohl er den auch haben wird,
sonst würde er es nicht machen, wie die Therapeutin erklärte), kann ich einfach
nicht vertrauen, dass er bleibt. Mittlerweile gibt es zwar auch einige Freunde
in meinem Leben, die es vor der dem Umzug vor zwei Jahren auch noch nicht gab,
aber auch dort fällt es mir schwer zu vertrauen, dass die Menschen bleiben.
Und als Letztes: Wenn ich dann irgendwann mal Assistenzärztin bin,
wird nicht immer alles laufen, wie es soll. Ich werde Fehler machen. Vielleicht
passieren auch manchmal Dinge, für die ich nicht so viel kann. Ich kann mich
erinnern, dass mal eine Assistenzärztin zusammen gefaltet wurde, weil ein
wichtiger Zettel fehlte. Der tauchte dann später irgendwo auf dem Schreibtisch
eines Oberarztes auf. Aber erstmal hat sie da echt eine Menge abbekommen und
gerade, wenn man vorher nicht ahnt, was da auf einen zukommt, weil man
eigentlich glaubt alles richtig gemacht zu haben, ist das hart. Ich glaube, die
Assoziation, dass die Qualität meiner Arbeit den Wert meiner Person ausmacht,
werde ich nie ganz aus meinem Kopf bekommen – daher ist Kritik immer sehr schwierig
für mich, weil ich das nicht auf einer etwas distanzierteren Ebene sehen kann.
Nach dem Motto: Okay, da hast Du Mist gebaut, aber das hießt nicht gleich, dass
man Dich hasst. Aber wenn das von ihm kommt – und manchmal muss man eben
einfach mal streng werden – wie werde ich denn damit umgehen? Mich hat ja schon
die Anmerkung, dass ich die Dosierung des achten Medikamentes des Patienten
nicht auswendig kann, tagelang verfolgt.
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Tatsächlich eines der besten Fotos... - war eine Wanderung; auch mit meiner Schwester |
Und all das macht die Sache so anstrengend. (Wenn der mal wüsste, wie
oft er Thema unserer Diskussionen ist…)
Man kann es nicht ändern aktuell. Die Therapeutin sagt, ich soll die
Gedanken und Sorgen auf das „Danach“ verschieben – obwohl sie auch zugibt, dass
es wahrscheinlich auch irgendwie nicht normal wäre, darüber nicht nachzudenken.
Ich soll versuchen, die Prüfung so gut wie möglich
vorzubereiten. „Und manche Sachen kann man einfach nicht schaffen. Und wenn das
so ist, dann geht das Leben auch weiter.“ Typischer Therapeutensatz irgendwie.
Aber vielleicht muss man sich das echt hin und wieder klar machen. So sehr es
sich auch danach anfühlt, weil ich mit diesem Ort hier und diesem Umfeld
einfach nichts mehr anfangen kann und die Gegend für mich immer negative
Erinnerungen tragen wird – aber ein Durchfallen ist nicht das Ende der Welt. Es
wird weiter gehen, so hart wie das Aufstehen danach auch sein würde. „Aber ich
bin mir sicher, dass Sie das schaffen“, fügt sie hinzu. Naja… - was soll sie
anderes sagen… ? (Auch wenn sie von meiner Prüfergruppe noch weniger begeistert
ist als ich – die sich das gerade noch versucht, alles etwas schön zu reden.
Und die Tatsache, dass die Mitstudenten schon ziemliche Cracks sind, macht es
auch nicht besser).
Was sich jetzt zusätzlich ergeben hat ist, dass einer unserer Prüfer
krank ist. Die Sekretärin weiß nicht, wann er wieder kommt und er hat einen
Abwesenheitsassistenten drin – das macht man halt nicht wegen zwei Tagen
Erkältung. Also wird es wohl noch eine Weile dauern mit dem Prüfungstermin.
Da meiner Auffassung nach Examen und Klinik immer schlecht zusammen
passen, traue ich mich die Therapeutin halt nicht zu fragen, ob der
Klinikaufenthalt definitiv funktionieren wird. Auch, wenn ich vielleicht drum
herum noch einige Sachen regeln muss. Eben je nachdem, wann das Examen ist.
Aber es wäre mir einfach so wichtig, raus zu diesem Funktionier – Modus zu
kommen. Und auch wenn ich dann völlig zusammen breche und wahrscheinlich viel
um familiäre Dinge, die passiert sind trauern werde, die ich in den letzten
Jahren einfach so hingenommen habe, teilweise gar nicht als meiner Geschichte
zugehörig betrachtet habe, weil dafür keine Zeit war und mir unterbewusst klar
war, dass ich darunter zusammen breche, dann ist das alles so. Ich möchte das
Ding jetzt einfach mal zu einem Abschluss bringen. In einem Rahmen, in dem
jedem im Außen klar ist, dass man mich in Ruhe zu lassen hat und in dem für
mich klar ist, dass ich das nicht alleine aushalten muss.
(Ich glaube so ganz dezent kam die Realisation der Ereignisse der
Vergangenheit schon im letzten Klinikaufenthalt hoch, nachdem ich dann –
nachdem der Umzug geschafft war – etwas zur Ruhe kommen konnte. Da ich aber dann
wieder in die Uni musste, um nicht noch ein Semester zu verlieren, musste ich
mich dann da irgendwie wieder raus ziehen – was super schwierig war. Die haben
mich ja da komplett desolat entlassen. Aufgrund mangelnder Ehrlichkeit meinerseits
hatten die aber auch keine Handhabe mich da zu behalten, obwohl der
Ergotherapeut damals richtig erkannt hatte, dass ich eigentlich längst noch
nicht so weit bin und nur deshalb wieder in die Uni gehe, weil mein Umfeld und
der daraus resultierende, internalisierte „innerer Antreiber“ das so will. Er
und alle Mitpatienten der Station haben damals mit Engelszungen auf mich
eingeredet, dass es die falsche Entscheidung ist, aber ich hätte das nur
irgendwie akzeptieren können, wenn man mir die Entscheidung aus der Hand
genommen hätte. Und das hat man nicht).
Ich möchte jetzt soweit sein, die Dinge ein Mal durchzuarbeiten und
sie dann auch hinter mir lassen. Der Seelsorger wundert sich immer ein
bisschen, warum ich nie so richtig getrauert habe. Irgendwann wird das kommen
müssen, sagt er immer. Sonst wird mich das nie loslassen. Aber dazu brauche ich
halt diesmal wirklich Zeit. Aufgrund mangelnder finanzieller Mittel hätte ich
halt ohnehin nicht später starten können mit dem Job und brauche mir keine
Vorwürfe zu machen, aber ich hoffe so sehr – und habe umgekehrt Angst, dass es
nicht klappt – dass ich die Gelegenheit bekomme.
Und danach möchte ich nach 25 Jahren einfach nochmal neu starten. An
einem neuen Ort, mit einem neuen Lebensabschnitt, einem neuen, ersten Job, mit
neuen Menschen.
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Nachmittag im Park ausklingen lassen... - war wohl einer der Vielen im Hochsommer... |
Mondkind
P.S. Nachdem ich also heute Morgen in der Therapie war und dann noch
den Blogpost schon vorgeschrieben habe, habe ich erst um 11 Uhr mit Lernen angefangen.
Und ich habe es geschafft konzentriert bis jetzt durchzuarbeiten. Mir fehlen
noch fünf Seiten von meinen zwei Endspurt – Kapiteln (also eigentlich zwei
Lerntage), die ich heute durcharbeiten wollte und weil dann immer noch Zeit
sein wird, kann ich mir jetzt doch mal die Basalganglienschleife anschauen.
Ich fürchte, die beste Vorbereitung am letzten Tag vor dem Examen
würde ein Treffen mit der Therapeutin sein. Einfach ein Mal den Kopf
durchkehren, damit die Konzentration auf die Medizin gerichtet ist. Es wirkt
tatsächlich kleine Wunder.
P.P.S. Wenn ich dann endlich mal ein Termin für das Examen habe, starte ich hier vielleicht wieder so eine kleine Tag - Zähl - Aktion. Und ich erlöse Euch mit meinem ständigen Geschwafel über den Ort in der Ferne zu Gunsten der Medizin ;)
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