Der Zauber vom Ort in der Ferne


Und dein Kopf schreit: Los, komm, weiter
Obwohl dein Herz noch lange nicht so weit war
Bleib kurz steh'n, schau dich um
Denn du gibst all den Dingen um dich rum Bedeutung

(Revolverheld – So wie jetzt)

Heimweh. Oder so. Mal wieder…
Am liebsten würde ich mich in den Zug setzen und in Richtung meines Elternhauses fahren.
Aber ich weiß auch, dass ich dort nicht finden würde, was ich suche.

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hat mich die Nachricht meiner Schwester, dass sie jetzt eventuell genau an das andere Ende von Deutschland gehen möchte als ich, etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich weiß, dass es wahrscheinlich das Beste ist, weil das Band, das uns Geschwister mal verbunden hat, längst durchschnitten ist. Wir auf einem Haufen im Dorf in der Ferne – am Besten, wenn dann meine Mutter auch noch hinterherzieht - wäre eben wahrscheinlich auch schlecht gewesen.

Und dennoch kann ich mich noch gut an andere Zeiten erinnern. Früher. Bevor die Konkurrenz zwischen uns stand, weil jeder zumindest in der Familie gesehen werden und nicht lediglich wie ein Geist im Treppenhaus verweilen wollte.
Wenn es um solche emotional essentiellen Dinge ging, hörte die gegenseitige Unterstützung auf. Lernzettel wurden nicht mehr ausgetauscht, Tipps wurden nicht weiter gegeben, bei den Hausaufgaben half man sich nicht mehr. Jeder versuchte dafür zu sorgen, den anderen mit der schulischen Leistung unter der eigenen zu halten.
Viel später – nach der Trennung unserer Eltern – wurde ich das Papa – Kind und meine Schwester das Mama – Kind, was auch nochmal viel kaputt gemacht hat.

Vor der Konkurrenz – da waren wir ein Herz und eine Seele. Und dass wir jemals ein Leben führen, in dem wir uns nicht täglich sehen, schien für uns beide und für alle Leute um uns herum, undenkbar. Uns gab es eigentlich nur zu zweit. Und so hin und wieder habe ich mich still gefragt, wie das gehen soll, wenn wir mal einen Freund haben. Denn dann würde ja jeder mit dem Partner in einer eigenen Wohnung wohnen und wir würden uns nicht mehr sehen.

Wenn meine Schwester wirklich den Ort wählt, mit dem sie gerade liebäugelt, dann wird unsere Familie auch räumlich das, was sie emotional schon seit Jahren ist: Zerrissen. Süden, Norden, Westen, Osten – dann gibt es in jedem imaginären Quadranten ein Familienmitglied.

Meine Schwester und ich… - uns steht wahrscheinlich dasselbe bevor, wie meiner Mutter und ihrer Schwester. Auch die beiden leben in komplett verschiedenen Ecken des Landes. Man sieht sich alle drei bis vier Jahre mal. Telefoniert zu den üblichen Anlässe wie Geburtstag oder Weihnachten –  manchmal vergisst man das auch - aber eigentlich haben die verschiedenen Leben keine Berührungspunkte mehr.

Die Sehnsucht nach einer Familie, danach in irgendein System zu gehören, gesehen und akzeptiert zu werden, begleitet mich seit Jahren. Wie gern hätte ich mal wieder jemanden, mit dem man gemeinsam frühstücken kann. Jemanden, der einen in den Arm nimmt, wenn man nach Hause kommt. Der vielleicht eine Decke über einen legt, wenn man mal wieder auf dem Sofa eingeschlafen ist. Jemand, der einen nimmt, wie man ist, ohne dass man gute Leistungen in der Uni erbringen muss.

„Ich sehe Dich Mondkind. Und Du musst nicht irgendwelche Aktionen bringen, damit man Dich wahrnimmt. Das ist nicht nötig. Aber ich kann Dir auch nur zuhören. Und es nicht ändern…“
Worte, die im Keller der Neuro gesprochen wurden. Ich auf dem grünen Stuhl, er übereck.
Ich glaube, es war einfach der respektvolle Umgang, den er mit jedem seiner Mitmenschen pflegt, der mich ganz am Anfang mal emotional bewegt hat. Da konnte sich wer an meinen Namen erinnern. Da hat sich wer Gedanken gemacht, dass ich in der Famulatur eine Unterkunft brauche. Da hat wer darüber nachgedacht, wie ich wohl vom Bahnhof unten im Dorf am späten Abend hoch auf den Berg komme und angeboten, mich abzuholen. Da hat wer regelmäßig nachgefragt, ob mit der Unterkunft alles passt, ob es mir gut geht, weil ich ja soweit weg von zu Hause bin (er konnte ja nicht wissen, dass jeder Kilometer mehr Abstand im Grunde besser ist) und ob es in der Famulatur so läuft, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Ich glaube, er hat sich zu dem Zeitpunkt gar nicht viele Gedanken darüber gemacht. Irgendwann erklärte mir mal die Mitarbeiterin von der Personalabteilung (die mich am ersten Tag des PJs durch den Ort fuhr, um mir alle wichtigen Dinge zu zeigen – manchmal habe ich da echt gedacht, ich bin im falschen Film…), dass das wohl so üblich sei, dass einer der beiden Oberärzte, die auch im Ort wohnen, die Praktikanten schon mal vom Bahnhof abholen würden.
Aber ich, die es gewohnt war, grundsätzlich nie irgendwo hin gefahren oder abgeholt zu werden und sich zwei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchschlägt für eine Strecke, die man in 20 Minuten mit dem Auto fahren könnte, habe das ganz anders wahrgenommen. Auch hatte seit Jahren keiner mehr nachgefragt, wie es mir geht mit der ganzen verfahrenen Situation, nachdem ich zu Hause ausgezogen war und nicht wirklich einen Platz zum Leben gefunden hatte. Ich hatte zu funktionieren und die Klausuren zu bestehen - das war für alle Beteiligten das, was zählte. Die Hülle, die Funktion - nicht das Innenleben. Mich als Person - mich gab es gar nicht mehr.

Und all diese kleinen Dinge, waren wohl der Anfang der emotionalen Abhängigkeit von diesem Ort. "Der Zauber vom Ort in der Ferne", habe ich das immer genannt, als ich das alles noch nicht genau begriffen hatte und in Worte fassen konnte. 
Ich war einfach so überwältigt davon, wie sehr man sich für eine Praktikantin einsetzte, die doch ohnehin nur ein paar Tage blieb. Ich habe das ganz anders wahrgenommen, als es gemeint war. 

Stöbern in Fotos aus dem letzten Sommer: Der Marktplatz...

Ich war fast jeden Tag am Teich im Park und habe gesehen, wie die Enten - Küken nach und nach erwachsen wurden.


„Sie trauern um Dinge, die sie wahrscheinlich nie so richtig hatten – oder wenn, dann ist das schon sehr lange her“, stellte der Seelsorger letztens fest, als ich ihm das alles erzählt hatte.

Im Dezember letzten Jahres… - das Herz war einfach noch nicht so weit, dass es hätte gehen können. Obwohl ich ja von Anfang an wusste, dass ich erstmal nur auf Zeit dort war, dass sich viele Dinge ändern würden, bis ich wieder kommen würde und das noch nicht so genau klar war, ob ich überhaupt wieder komme. Aber bleiben, weil es gerade so schön war und ich zum ersten Mal seit Jahren irgendwo hin gehörte - das ging nicht.
Es war der Lauf der Dinge, dass es weiter geht in der Studienstadt. Nur das Herz – das habe ich ein bisschen in der Ferne zurück gelassen und dort verweilt es noch. Und ein bisschen… - ein bisschen von der Ruhe, die ich dort – wie der Neuro – Oberarzt prophezeit – finden soll, war das damals schon. Dadurch, dass ich nicht mehr darum kämpfen musste meinen Platz zu finden, konnte ich auch mal entspannt im Park sitzen. Es war ja alles gut. Ich hatte meinen Platz, war angekommen. Ich musste nichts mehr dafür leisten – insbesondere, als ich noch in der Inneren war und man das in der Neuro nicht mitbekommen hatte, ob ich irgendetwas gut mache oder nicht. Eine Innere – Oberärztin, die auch als Notärztin tätig war, hatte mich bei einem Neuro – Einsatz mal lobend erwähnt – das hat dem Neuro – Oberdoc als Bestätigung gereicht, dass ich meine Sache gut mache.

Gedanklich bin ich immer noch dort. Gestern war der erste richtig schöne Frühlingstag bei uns. „Wenn Du gerade dort wärst, würdest Du wahrscheinlich heute in die Stadt hinab gehen und das erste Eis des Jahres essen“, dachte ich mir gestern auf meinem Fahrrad auf dem Weg zum Supermarkt.
Ich höre oft die Lieder, die ich im letzten Sommer für mich entdeckt und aufgenommen habe. Und ein bisschen schmeißen sie mich immer zurück ins Gestern. In eine Zeit, von der einfach nicht klar ist, ob es das so nochmal geben wird.

„Was meinen Sie, wer in Ihnen die Sehnsucht stillen kann?“, fragte der Seelsorger. „Ich weiß es nicht…“, habe ich irgendwann gesagt. „Solche Leute kann man ja nicht gezielt suchen. Das ist alles ein Gefühl. Und entweder das ist eben da, oder nicht. Und bei mir ist es halt blöd, dass es in der Konstellation einfach nicht geht. Und das im Dorf in der Ferne niemals so laufen wird, wie ich mir das wünschen würde. Ich will das nur nicht einsehen. Ich denke immer noch, dass ich vielleicht mit diesen winzigen Momenten, die sich da ergeben, leben kann. Dass die ausreichen, um den Rest aufzuwiegen. Aber das wird kaum möglich sein. Ich glaube, die Momente sind so Richtung Dezember weniger geworden – nicht ohne Grund. Und weil der Alltag sonst so schwer ist, müssen die Momente viel aufwiegen – diese paar Sekunden, in denen man da mal ein ganz kleines Stück getragen wird… und man weiß ja nicht, ob es die überhaupt noch geben wird. Es ist alles Hoffnung. Ganz viel Hoffnung.“

Keine Ahnung, wie man das alles lösen soll. Ich hoffe ja, dass die Klinik mir in der Hinsicht helfen kann, noch ein paar Dinge zu klären. Dadurch, dass es dort ein geschützter Rahmen ist und man sich in einige Situationen vielleicht mal hinein fallen lassen kann, weil man auch einfach mal zusammen brechen darf und nicht funktionieren muss, komme ich vielleicht mal weiter, als immer nur bis zu diesem Punkt, an dem mir klar wird, dass Vorstellung und Realität da ein wenig auseinander weichen – ich dann aber davor stehe und auch nicht mehr weiß, was ich tun, denken, sagen soll. Weil jegliches Abrücken von diesem einen Plan für die Zukunft eine persönliche Katastrophe wäre. Denn was bleibt dann noch?

Aber dazu brauchen wir erstmal ein Prüfungsdatum. Und das wird wohl noch zwei bis drei Wochen dauern. Ein bisschen verrückt macht mich das schon. Ich hoffe einfach so sehr, dass es spätestens Ende Mai / Anfang Juni wird. Wenn es wirklich erst Ende Juni werden würde, müsste ich innerhalb von 12 Wochen die Klinik durchziehen, mir eine Wohnung suchen, einen kompletten Umzug organisieren, je nachdem wo ich dann wohne, mich vielleicht auch nach einem Auto umschauen und um Versicherungen muss ich mich auch noch kümmern. Und dann sollte ich vielleicht auch zwei bis drei Wochen bevor ich anfange zu arbeiten dort runter ziehen, damit ich ein bisschen ankommen kann, ehe es los geht. Und die Wohnung im Studentenwohnheim muss ich eigentlich Ende Juni kündigen – aber das geht ja nur, wenn bis dahin die Prüfung bestanden ist.

Ich möchte halt nicht, dass bei dem Klinikaufenthalt wieder von Anfang an klar ist, dass ich keine Zeit habe. Das hatten wir ja schon das letzte Mal und am Ende mussten die mich da viel zu früh und ziemlich desolat entlassen.
Aber letztendlich… - ja, mich macht das verrückt, aber ändern kann ich es nicht. Ich weiß noch nicht mal genau, wie ich bis Ende Oktober finanziell zurecht kommen soll – selbst wenn ich es gewusst hätte, dass ich wenig Zeit habe – später hätte ich nicht anfangen können. Hofft man einfach, dass es nicht so spät wird mit der Prüfung. Und dieses Zielschild „Klinik“, das ja eigentlich seit dem schriftlichen Examen in meinem Kopf ist, sich nicht zu weit nach hinten schiebt. Und, dass ich endlich vom Schreibtisch erlöst werde. (Habe ich erwähnt, dass ich eigentlich auf das Revolverheld – Konzert gehen wollte? Aber Ende März ist nun mal Lernzeit und schreitischferne Aktivitäten sind verboten. Obwohl es glaube ich echt ein Highlight gewesen wäre. Die machen gute Musik und viele Texte haben echt Tiefgang. Ich höre die Band sowieso gerade immer, wenn ich mit dem Haushalt beschäftigt bin auf voller Lautstärke mit Kopfhörern (bestimmt werde ich mal frühzeitig schwerhörig…) – da wäre das in so einem Stadion sicher echt ein Erlebnis…) – aber was will man machen… ?

„Wir werden noch sehr viel über die Sitation dort unten reden“, kündigte die Therapeutin letztens an. Und ganz ehrlich… - ich glaub’s auch. Ich bin so froh, dass ich sie nächste Woche wieder sehe. Allerdings auch erst Donnerstag.

Und bis dahin muss ich mich trotz Chaos – Kopf tapfer durch den Lernplan schlagen. Es ist die letzte große Hürde. Und ich muss alles dafür tun, um bald darüber zu springen.

Mondkind

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