Zwischen den Zeiten...


Freitag, 21. April 2017
Einer der neuen Tage im Semester. Ich saß mit drei befreundeten Kommilitonen in der Vorlesung der Allgemeinmediziner. Es ging um Polypharmazie. Um 12 Uhr hatte ich einen Termin bei meiner Psychiaterin, deshalb musste ich die Vorlesung ein paar Minuten eher verlassen.
Als ich schon auf der Treppe zwischen den Sitzreihen in Richtung Ausgang unterwegs war, ist einer Kommilitonin aufgefallen, dass ich mein Halstuch vergessen habe. „Mondkind, Dein Halstuch“, hat sie durch den halben Hörsaal gerufen und es mir hinterher geschmissen. Ich weiß noch, dass ich das damals höchst unnötig fand und der Dozent über die Unruhe in seiner Vorlesung nicht sehr begeistert war. „Das kann sie mir doch auch gleich noch geben… - ich komme ja wieder…“, - an den Gedanken erinnere ich mich sehr gut.

So überpünktlich wie ich bin, war ich fünf Minuten zu früh in der Ambulanz. Und schon hat mich die Ärztin eingesammelt. Ich mochte sie nicht besonders, aber sie war sehr kompetent. Hat die richtigen Fragen gestellt. Die, die anderen nicht gestellt haben. Bei ihr hieß es nicht: „Kommen Sie mit den Suizidgedanken zurecht?“, wo jeder noch so psychiatrieunerfahrene Patient weiß, was er zu sagen hat, wenn er jetzt nicht akut in die Psychiatrie möchte. Bei ihr hieß es: „Jetzt erklären Sie mir mal, was Sie noch am Leben hält.“ Viel gelten lassen hat sie da nicht. Und schon mal gar keine vagen Zukunftspläne.
„Frau Mondkind, ich habe mit dem Oberarzt auf der Station in der Psychiatrie telefoniert – der würde sie dort sehr gern aufnehmen…“ Ich kannte ihn gut, war er doch bis vor wenigen Wochen – bevor er die Oberarztstelle angenommen hatte – mein behandelnder Psychiater in der Ambulanz. „Der Oberarzt hat ein freies Bett; das hat er für Sie geblockt, aber er braucht bis 12 Uhr eine Entscheidung…“ Mein Blick wanderte auf die Uhr. Zwei Minuten vor 12. Das war verdammt unfair. Wie soll man denn in zwei Minuten pro und contra abwägen?
Ich war seit Wochen auf dem absteigenden Ast. Über das Thema Klinik redeten wir nicht zum ersten Mal. Aber… - zum ersten Mal so richtig ernsthaft.
„Ich rufe ihn jetzt an, ja…?“ – ob das eine Ansage oder eine Frage war wusste ich nicht genau und ihre Finger schwebten schon über dem Telefon.
Von mir… - kam ein ganz leises „ja“. Ob das die Einleitung eines schwachen Protestes werden sollte, oder ob ich wirklich der Meinung war, dass ich das jetzt will, weiß ich bis heute nicht.

„Hätte ich Sie noch fünf Minuten länger überlegen lassen, hätten Sie „nein“ gesagt“, stellte sie festm nachdem sie den Oberarzt angerufen und den Patiententransport organisiert hatte.
„Ein bisschen dankbar sind Sie doch auch, wenn Sie ehrlich sind…“, kam wenig später. In der Situation war das eher nicht so. Aber viel später… - da schon.

Es war spät am Nachmittag, als der Psychiatrie – Oberarzt endlich Zeit für mich hatte. Ich saß im Schwesternzimmer, musste tausende Fragen beantworten und dann kam er daher gefegt. Was denn aktuell das größte Problem sei, wollte er wissen. „Naja, also [der Ort in der Ferne]…“, habe ich erklärt. „Ich habe ja mittlerweile schon meinen Platz fürs PJ in der Neuro und ich muss in ein paar Monaten das Examen machen, sonst funktioniert der ganze Zeitplan nicht mehr. Und immerhin komme ich da als Externe hin; Vorrang haben die unieigenen Studenten. Wenn ich es nicht im zeitlichen Plan schaffe, kann mir keiner garantieren, dass ich noch dahin kann…“ Fragende Blicke der Schwestern. „Ach ja, die Leier kenne ich“, kommentierte der Oberarzt dazu. Und dann „Frau Mondkind, wir kriegen das schon alles hin…“



Drei Jahre später… Dienstag, 21. April 2020
Aus unerfindlichen Gründen wurde mir noch eine Woche auf der Stroke Unit zugestanden. Dienstage sind nicht die besten Tage auf der Stroke Unit, stehen sie doch im Zeichen der Chefarztvisite. Das führt nicht nur unter den Assistenten, sondern auch beim Oberarzt zu Unruhe und meist merkt man ein tiefes Durchatmen aller Beteiligten, wenn die Visite vorbei ist und der Chef zufrieden war.
Heute um kurz vor 12 Uhr bin ich mit meinen Patienten schon durch, schiebe als Tippse den Visitenwagen vor mir her, lausche den Gesprächen so gut ich kann und dokumentiere die Visite der anderen im System.
Hätte sich damals spät am Nachmittag, als ich noch Briefe schreibe, mein zukünftiges Ich in die Runde aus den Schwestern, mir und dem Psychiatrie - Oberarzt gesetzt und gesagt: „Übrigens Mondkind, liebe Grüße aus der Zukunft – heute in drei Jahren bist Du rein optisch gesehen absolut an dem Punkt, an dem Du immer sein wolltest“… - ich hätte es nicht für möglich gehalten.

Mein heutiges Ich würde aber gern auch noch ein bisschen weiter reden: „Was aussieht Mondkind, als hättest Du alles erreicht, was es werden sollte, ist leider nicht so. Denn in Wahrheit ist es eine Woche des Abschiedes. Ich weiß, dass Du in den nächsten drei Jahren absolut alles dafür tun wirst, um eben „optisch anzukommen“. Ich weiß, dass Du noch zwei Staatsexamen bestehen musst, dass Du noch mehrere Male umziehen musst, dass es wahnsinnig viele kleinere und größere Krisen geben wird und Punkte, an denen Du das Gefühl hast, dass es keinen einzigen Zentimeter mehr weiter geht. Aber Du wirst es machen. Weil Du weißt, dass Du musst. Es gibt nur Plan A. Der muss klappen.
Aber am Ende Mondkind, hätte mehr dazu gehört, als dass Du durchhältst. In drei Jahren Mondkind, werden die Ideen zu Staub zerfallen. Da würdest Du heute nicht mehr vor dem Psychiatrie – Oberarzt sitzen und ihm erklären, was Du trotz der Krankheit und der Situation, in der Du gerade bist, ganz dringend erreichen musst. Weil Du es einfach nicht mehr weißt. Weil es ein „danach“ nie gab.
Und vielleicht… - vielleicht können da die Worte des Herrn Kliniktherapeuten genauso tröstlich sein, wie sie auch wehtun. Die zwischenmenschlichen Momente die Du erlebt hast, die werden immer bleiben. Zwischen all dem Grau. Sie werden immer auch wehtun, aber Dir vielleicht auch nochmal ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Dich noch einmal für den Bruchteil einer Sekunde die Wärme und Geborgenheit fühlen lassen, die es damals war.
Weißt Du Mondkind… - vielleicht bist Du in genau drei Jahren absolut dort, wo Du geplant hattest zu sein. Und trotzdem bist Du gerade in einer Woche, die gerade nur mit Tavor und Promethazin zu überstehen ist, damit Du zu Hause überhaupt irgendetwas anderes tun kannst, als weinen.“
Vermutlich hätte ich das nicht zusammen bekommen, was da so schief gelaufen ist.

Es ist eine komische Woche. Emotional. Ich komme nicht hinterher.
Dankbarkeit. Noch einmal Stroke Alltag erleben zu dürfen. Die Station, auf der ich damals erkannt habe, dass Medizin studieren vielleicht doch auch für mich irgendwie Sinn hat. Noch ein Mal mit dem Oberarzt Visite machen dürfen. Morgen ist der letzte Tag. Donnerstag habe ich Urlaub, Freitag ist Vertretungssituation auf der Stroke – da ist auch dort alles chaotisch.
Und gleichzeitig tut es unglaublich weh. Ist das emotionale Chaos groß. Kaum noch händelbar. Die Zahnarzt – Geschichte war sicher nicht Ursache, aber Auslöser, dass jetzt alles mit einem Mal explodiert. Nicht mehr händelbar ist. So viele Ideen, so viele Hoffnungen, die nach und nach zerfallen sind. Nachdem mich das alles so viel Anstrengung, so viel Durchhalten gekostet hat.
Und dann... - so im allergrößten Chaos, schreibt spät am Abend Herr Kliniktherapeut. Einfach so und ohne Aufforderung. Wir müssen da mal einen Termin finden. Wenn ich im Mai komme. Und irgendwie hat es etwas Beruhigendes. Dass da wer keine Ahnung hat was los ist, aber trotzdem noch da ist. 

Ich würde gern irgendein weises, super – cooles Fazit dieses Blogposts schreiben. Aber ich kann nur sagen – es tut unfassbar weh.

Mondkind

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