Von Dressing und Salat


Donnerstag, 23. April 2020
Ich sitze auf der Stadtmauer. Im Schneidersitz. Heute genügt eine dünne Stoffhose und es ist so warm, dass man dort im T – shirt sitzen kann. Die Sonne bricht an einigen Stellen durch das Blätterdach und ich habe mich so gesetzt, dass ich rüber auf die Berge schauen kann.
Atmen. Das erste Mal seit Tagen. Wahrnehmen. Die Wärme der Sonne auf der Haut; das Spiel mit dem Licht, wenn der Wind die Blätter bewegt. Erkennen, wie viele Grüntöne die Welt in den letzten Wochen bekommen hat und wie viele verschiedene Blüten man sehen kann. Hören, wie viele Vögel mittlerweile zwitschern, wie der Kies knirscht, wenn sie auf dem Weg hinter mir unsanft landen.
Feststellen, dass das mit dieser Welt und dem Leben doch eigentlich eine ganz coole Sache ist, wenn man zumindest mal kurzzeitig in diesem Moment bleibt. Fast spüre ich, wie die Enge der letzten Tage und Wochen ein Stück weicht. Ein Stück das Herz öffnet.
Ich denke an das Ende der Woche und daran, dass eigentlich nichts mehr passieren kann. Morgen noch einen Tag Stroke Unit und auch wenn es eine Vertretungssituation ist – aber wirklich schlimm kann es eigentlich nicht werden. Es ist okay. Für den Moment.

Es ist ein kurzer Moment. Ein sehr kurzer. Denn wie das immer so ist, stellt man ungefähr zeitgleich fest, dass diese Momente der Stille, dieses Seins, des Ruhens in sich selbst das sind, das viel zu selten da ist. Manchmal merke ich erst in Abwesenheit von Angst, dass sie überhaupt da war. Wenn ich eine Panikattacke nach der nächsten erlebe, dann bekomme das sogar ich mit. Aber irgendwie wird mir erst jetzt klar, wie sehr mich die beiden letzten Monate eingeengt haben. „Du hast es doch gut gemacht mit der Notaufnahme“, sagen die Menschen. Und glauben mir nicht, dass ich mich besser kenne. Die einzige Möglichkeit, diesen unmöglichen Arbeitsort für mich zu erleben war, die Angst nicht zu beachten. Zu übergehen. Mich zu übergehen. Angst hat da keinen Platz. Aber das lässt den Blick und die Wahrnehmung fast unmerklich sehr eng werden. Und ich wusste ja: Ich hatte keine Wahl. Nichts zu melden. Ich musste das machen und musste einen Weg finden, damit zu leben. Aber Lebensqualität – das ist etwas anderes.
Umso mehr Angst ist es, da nächste Woche wieder rein geschmissen zu werden. Wieder die Enge zulassen zu müssen. Und in der Woche danach in einem ganz neuen Gebäude, mit neuen Abläufen, Menschen, Strukturen arbeiten zu müssen. So viel Zeit wie ich dort verbracht habe, ist die Arbeit mehr zu Hause geworden, als die Wohnung hier.

„Frau Mondkind – Ziel ist nicht, dass es Ihnen gut geht. Ziel ist, dass Sie das überleben und wir Sie über die Zeit bringen.“ Worte von Frau Therapeutin, die mir dort auf der Mauer in den Sinn kommen. Die in der Ambulanz in der Studienstadt gesprochen wurden. Wenn ich wieder mal gemeckert habe, dass es zu wenig Leben ist. Ich weiß nicht, ob außer mir Jemand daran geglaubt hat. Daran, dass ich wirklich etwas wie ein Leben bekomme, wenn ich das schützende Dach der psychiatrischen Ambulanz hinter mir lasse und in der Ferne versuche die Flügel aufzuspannen.
Mir fällt nur gerade auf… - es ist immer noch nicht mehr als damals. Mit dem Unterschied, dass es eben keine schützende Dächer mehr gibt.

Den Zähnen – dieses Problem bin ich Donnerstagmorgen angegangen und das ist auch der Grund, weshalb ich an diesem Nachmittag ruhig auf der Mauer sitzen kann – geht es übrigens einigermaßen okay. Gut ist es nie mit dieser kieferorthopädischen Katastrophe und ich muss auch nochmal hin, aber es ist nichts schlimmes und der Arzt ist auch sehr gut mit der Angst umgegangen – das war eigentlich fast das Wichtigste.


Auf der Stadtmauer...


Freitag, 24. April 2020
Ich stehe im Arztzimmer. Den Rucksack auf dem Rücken, die Dienstkleidung über dem Arm, bereit zum Gehen. Zweiter Abschied von der Stroke Unit. Ein Kollege und ich werden uns nicht mehr sehen. Zwar bin ich nächste Woche noch im selben Gebäude, aber er hat Urlaub. „Mondkind – eine Sache noch. Nimm Dir das, was Dir einige Menschen da drüber sagen nicht zu sehr zu Herzen. Dann gehst Du da kaputt…“ „Ich glaube, das muss ich wirklich schnell lernen“, entgegne ich. „Ich nehme mir alles zu Herzen…“ „Ich weiß“, entgegnet er, „deshalb sage ich das…“

Spät am Abend sitze ich mit dem Telefon auf dem Sofa und habe den Seelsorger in der Leitung. Gesehen haben wir uns seit Mitte Februar nicht mehr, aber irgendwie kommt mir das auch ganz gelegen nicht mehr mitten in der Arbeitszeit zwischen den Gebäuden hin und her rennen zu müssen.
Es geht um Beziehungen. Darum, dass ich die vielleicht ambivalenter wahrnehme als sie sind. „Ich glaube halt ehrlich gesagt nicht, dass man mich als Person wirklich mögen und gern als Teil in seinem Leben haben kann“, erkläre ich. „Ich meine… -  im Prinzip gibt es alle paar Tage ein neues Drama und wer will denn immer schon… - diesen Salat haben…? Aber wenn ich ständig allen sage, dass alles okay ist, was ich in den oberflächlichen Beziehungen natürlich trotzdem so mache, ist das auch nicht echt“, sage ich. Das Wort „Salat“ nutze ich eigentlich nur, um nicht das 735. Mal in diesem Gespräch das Wort „Chaos“ zu verwenden. Aber er springt darauf an und malt ein Bild für mich daraus.
Man könne ja nicht nur Dressing sein, erklärt er. Nicht immer nur der Mensch, dessen Leben in perfekten Bahnen verläuft, dem an allen Ecken alles gelingt. Das ist auch unauthentisch und  Dressing ohne Salat schmecke eigentlich auch nicht. Also braucht man auch den Salat. Ein bisschen von beidem.
„Aber das würde trotzdem bedeuten, dass irgendwer aus einer Beziehung zu mir einen Mehrwert schöpfen kann“, entgegne ich. Ob jegliche Beziehungen Mehrwert haben müssen, stellt er mal so in Frage. Sagt aber auch, dass man auch etwas daraus schöpfen könne, mich zu kennen. Den ehrlichen Blick auf die Dinge… - den erwähnen tatsächlich Einige.

Es erinnert mich augenblicklich an ein Gespräch mit dem Oberarzt im PJ. Das war an einem Freitag. Die Woche war aus irgendwelchen Gründen schwierig gewesen. Ich war ständig bei ihm gewesen und wir haben versucht, mich über den Berg zu bringen. Er hat sicher sehr viel mehr Zeit und Energie in dieser Woche in mich investiert, als er das vorgehabt hatte.
Und wie immer nach solchen für alle Seiten kräftezehrenden Zeiten, habe ich mich bedankt. Und dann ist mir ein „Es gäbe sicher so viele Studenten, mit denen das einfacher wäre, als mit mir“, herausgerutscht. Und dann… - hat er etwas Interessantes gesagt: „Ja Mondkind, da hast Du Recht. Es gäbe Viele, mit denen ich es wesentlich leichter hätte. Aber… - die wären dann eben nicht Du. Und ich bin sehr froh, dass Du hier bist…“
Das fand ich erstaunlich damals. Diese Aussage. Ein bisschen hat es an meinem Weltbild gerüttelt. Da hat Jemand nicht gesagt: „Naja Mondkind, was soll man machen, wenn es Dir so schlecht geht – da kann man Dich ja auch nicht so stehen lassen…“ Ich habe meistens den Eindruck, dass die meisten Menschen in meinem Leben da maximal aus Mitgefühl sind. Sondern, da hat Jemand gesagt, dass es gut ist, dass ich da bin.

Apropos Oberarzt. In einer Woche endet hier ganz viel. Wieder mal. Wobei ich mich eben frage, ob wirklich so viel endet. Ob das vielleicht nur meine Wahrnehmung ist.  Oder ob es vielleicht umgekehrt nur meine Hoffnung ist, dass nicht viel endet. Da wäre es mal so die Frage, ob der Oberarzt vielleicht auch froh ist, dass ich endlich in einem anderen Gebäude arbeite und er mich nicht mehr ständig am Hals hat.

Ich versuche es definitiv auf der peripheren Station. Die Aussagen von den Kollegen machen nur nicht viel Mut. Denn neben der Tatsache, dass ich den Menschen verliere, der eine viel größere Rolle in meinem Leben hätte spielen sollen, werde ich auch oft alleine auf der Station sein. Aufgrund des elektiven Aufnahmestopps braucht man auch nur noch einen Arzt und es gibt keinen, der mich einarbeitet und mich lehrt, mit den Krankheitsbildern dort umzugehen. „Mondkind, schwimm oder stirb – so ist das immer schon gewesen auf dieser Station. Das kannst du auch“, sagen die Kollegen.

Im Schneidersitz auf der Mauer.
„Was ist, wenn das mein letzter Frühling ist…?“ Eine Frage, die ich zu oft gestellt habe, aber wenn man bedenkt, dass ich bald zwischenmenschlich an einem Punkt bin, an dem ich seit Anfang 2016 nicht mehr war, sicher nicht ganz unberechtigt.
„Dann gab es trotzdem gute Momente hier in den letzten sieben Monaten Mondkind…“, spricht ein anderes Stimmchen in mir. „Wenige… - aber immerhin.“
„Mondkind, eigentlich ist das ganz einfach. Die einzige Frage, die Du Dir stellen musst ist, ob Du vor sieben Monaten mit dem Wissen, das Du damals hattest, anders entschieden hättest.“
„Naja… - alles was ich wollte und brauchte, war ein bisschen „Familienersatz“. Und zwar wirklich in einer Art Familienkonstellation. Das können auch keine Freunde ersetzen, wenngleich die schon auffangen konnten. Und das hier war – auch wenn da immer Zweifel waren, ob das so klappt – zum damaligen Zeitpunkt die einzige Chance die ich hatte, die hätte funktionieren können. Und mit dieser starken Sehnsucht… - ich glaube, ich würde das mit dem Wissen von damals immer wieder so entscheiden…“
„Na dann ist doch alles klar Mondkind. Und vielleicht… - vielleicht passen manche Menschen nicht so richtig in diese Welt. Vielleicht sollten manche Menschen einfach nicht so lang bleiben. Aber Du hast alles getan, was Du konntest und manchmal ist das genug…

Mondkind


***
P.S. Ich bin im Moment noch sehr rückwärts gewandt. Vielleicht, weil vorwärts gerade nicht mehr geht. Lese in alten Tagebucheinträgen. Und habe das hier gefunden. Wahnsinn… dazu muss man nichts mehr sagen.

Samstag, 1. Oktober 2016
Es gibt etwas wie ein Lebenskonzept. Ich in vier Jahren...
Ich weiß nicht, ob es mehr ein Traum ist als alles andere, aber ich sehe den Ort an dem ich lebe über 300 Kilometer von hier entfernt und beruflich sehe ich mich als Teil eines wunderbaren Neuro - Teams.
Und der Gedanke dort zu leben, macht mir im Moment keine Angst, sondern ist etwas wie ein Ansporn. Irgendwie ist der Gedanke dort von Februar bis Juni 2018 PJ zu machen mittlerweile fest in meinem Hirn verankert. Jahreszeitlich passt das super. Am Anfang dürfte es noch etwas kalt sein, aber von Woche zu Woche zu erleben, wie die Radtouren zum Supermarkt weniger kalt werden, zu sehen, wie an der Burg die Bäume grün werden, wie morgens auf dem Weg zur Neuro nach und nach die Eichhörnchen aus ihrem Winterschlaf erwachen werden – das stelle ich mir schön vor. Ich glaube, dass die vier Monate schon anstrengend werden, weil die im PJ auch eine Menge fordern, aber immerhin möchte ich eine gute Neurologin werden. Ich habe meine betreuende Ärztin sehr bewundert und sie war auch der Meinung, dass in mir Potential steckt, aber von selbst geht es eben nicht.
Und dann… ja… - dann wird die Sehnsucht nach Menschen die bleiben, vielleicht auch endlich mal weniger. Denn so wie es jetzt aussieht, könnte das wirklich klappen, Jemanden zu finden, der ein bisschen trägt. Die emotionalen Löcher ein bisschen kittet.

Aber wenn das alles so klappen soll, dann darf kein wie auch immer geartetes (Doktorarbeit, Klausur versiebt, krankheitsbedingt) Freisemester mehr dazwischen kommen. 

PPS: Ich habe wirklich schon Eichhörnchen auf dem Weg zur Frühbesprechung gesehen, wenn wir zwischen den Gebäuden hin und her mussten... 

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