Grenzen


Freitagfrüh.
Aufstehen wird jeden Morgen ein bisschen schwieriger. Wie kann ein Mensch so müde sein?
Heute ist es bewölkt. Hat geregnet in der Nacht. Und während wir die Tage davor immer Minusgrade in der Nacht hatten und die Luft am Morgen nach Winter gerochen hat, ist es heute früh trocken und viel wärmer. Es riecht nach… Frühling. Ein modriger Geruch vom Regen der Nacht liegt in der Luft, die Vögel singen im Hintergrund, die Baumspitzen tragen mittlerweile einen leicht grünen Saum.
Ein anderes Bild vom Frühling. Das mir wieder seltsam das Herz zerreißt. Nach den ersten Atemzügen außerhalb der Wohnung bekomme ich kaum noch Luft, die Tränen stehen mir schon wieder in den Augenwinkeln. Wie bitte soll ich so heute arbeiten? Früher waren die Zeiten, in denen es mich so sehr zerrissen hat, immer die Wochen, in denen ich in Vorlesungen und Seminaren ganz hinten in der Ecke saß, um bloß nicht angesprochen zu werden, weil ich ohnehin viel zu wenig mitbekomme. Und die Wochen, in denen ich teilweise mehrfach in der Woche bei der Therapeutin saß und wir das irgendwie versucht haben, in den Griff zu kriegen.
„Sag mal Mondkind, was machst Du, wenn das irgendwann nicht mehr geht mit der Ambulanz…?“, war eine Frage, die ganz leise im Hintergrund tickte. „Vielleicht ist es dann in der Ferne nicht mehr nötig. Vielleicht passiert es dann nicht mehr…“, war meine ganz vorsichtige Antwort an mich selbst.

Ich laufe den Berg zum Krankenhaus hoch und merke schon an den mir entgegen kommenden Menschen an diesem Morgen, dass es alles zu viel stresst. Allein die Anwesenheit von anderen Menschen. „Lass es bitte still sein heute in der Notaufnahme…“, denke ich mir.

Wenig später öffne ich die Tür zu unserer Neuro – Notaufnahme… - und sehe den ersten Patienten an diesem Morgen. Periphere Fazialisparese – er braucht eine Lumbalpunktion. Mittlerweile habe ich schon Einige davon wieder gut gemeistert und gerade bei einem jungen, schlanken Menschen wie ihm, ist das eigentlich kein Problem… - aber heute ist alles ein Problem.
Da der Notaufnahme – Oberarzt an diesem Früh noch nicht da ist, ruft die diensthabende Kollegin noch den Stroke – Unit – Oberarzt an, der immer ein paar Minuten früher kommt und sich die Patientin vor der freitags im Nebengebäude statt findenden und ewig dauernden Frühbesprechung noch anschauen soll. Ich weiß nicht, ob diese Entscheidung der Kollegin mich vor der Lumbalpunktion gerettet hat – auf jeden Fall wird entschieden, dass die Punktion auf der Station stattfinden soll, wofür ich sehr dankbar bin. Ich glaube das hätte mir an diesem Morgen das Genick gebrochen.
Eigentlich sollte ich in so einem Zustand gar nicht auf der Arbeit sein. Aber was soll man machen? Wie soll ich denn begründen, dass ich gerade einfach nicht arbeiten kann…?

Ich weiß ehrlich gesagt jetzt nicht mehr, wie ich diesen Tag überstanden habe. Die Tränen standen mir eigentlich stundenlang in den Augenwinkeln; daneben gab es viel zu tun – die Patienten kamen aber zum Glück einigermaßen nacheinander, sodass der Stressfaktor zwar hoch war, aber nicht zwischenzeitlich explodiert ist. 

Es ist eine gute Zeit, um Blogfotos machen zu gehen...


Ich komme halt – wenn man es schematherapeutisch sieht – aus diesem Kindmodus nicht mehr raus.
So zu arbeiten, ist ehrlich gesagt ziemlich furchtbar. Das fühlt sich an, als hätte man mein 10 – jähriges Ich in die Notaufnahme gestellt und gesagt: „So Mondkind, jetzt mach mal…“

Und abgesehen davon, bringe ich wirklich absolut alles mit diesem Leben von damals in Verbindung. Kurz bevor diese Familie auseinander gefallen ist. Und wenn man da ein Mal drin ist, gibt es an jeder Ecke etwas zu erinnern. Das sind schon so simple Dinge, wie die Post rein zu holen. Da kommt mir plötzlich in den Sinn, dass mein Vater so oft nach Hause kam und meine Mutter gefragt hat, wo die Post sei. „Die liegt auf dem Blatt“, kam dann ganz oft zur Antwort und weil dieses ominöse „Blatt“ immer zugestapelt war und wir die Post natürlich nicht anfassen durften, ist mir erst Jahre später aufgefallen, dass es wirklich ein Holzblatt war, das da unter all den Briefen versteckt war.
Vor ein paar Tagen noch wären diese Erinnerungen so verborgen gewesen, dass ich da im Traum nich drüber nachgedacht hätte. Wie viele Jahre hat schon keiner mehr über "das Blatt" geredet... ?

Und dann frage ich mich manchmal, wie das alles so passieren konnte. Wieso wir jetzt in ganz Deutschland verstreut sein müssen. Im Prinzip führen wir nur etwas fort, was in der Generation vor uns auch schon so war. Meine Eltern haben ihre Heimat auch verlassen – sind allerdings nur wegen des Jobs ein Mal quer durch Deutschland gezogen. Unsere Oma konnten wir nur in den Sommerferien besuchen, weil wir so weit durch das Land reisen mussten, um sie zu sehen.
Im Moment ist die Familie – nicht nur bildlich gesprochen, sondern auch im tatsächlichen Sinn – über alle vier Himmelsrichtungen in Deutschland verstreut.
Mein Schwesterherz sucht gerade eine eigene Wohnung und es schaut so aus, als würde sie bald fündig werden. Als Kind hätte ich das nicht für möglich gehalten. Dass uns jemals so viel trennen wird. „Und dann, wenn wir alt und grau sind, sitzen wir in unserer gemeinsamen Wohnung im Ohrensessel und trinken Tee…“, haben wir immer gescherzt.

Das Helfersystem kommt gerade so leidlich aus dem Tee. Und wie man mir helfen kann, wissen die meisten Menschen, glaube ich, gerade nicht. Die Zeit für lange Ansprachen, für Vorschläge mal einer Freizeitaktivität nachzugehen, wenn allein Existieren beinahe zu anstrengend ist und den Hinweis, dass es zum Thema Emotionsregulation mal Arbeitsblätter gab, ist eindeutig vorbei.
Man muss mit den Kindern reden und mich ein bisschen aus diesem Kindmodus raus holen, damit ich irgendwie wieder handlungs- und arbeitsfähig werde. Ich selbst kriege das gerade auch nicht mehr hin. Ich bin viel zu sehr da drin.
Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Therapeut im Lauf der Woche versucht hat, anzurufen. Eigentlich sollte er wissen, dass ich bis in die Abendstunden auf dem Handy nicht erreichbar bin, wenn ich nicht gerade Urlaub habe. Es war aber eindeutig eine Nummer aus der Psychiatrie und nicht die Therapeutin. Eine Mail hat er nicht geschrieben dazu und ich habe mich nicht getraut ihn zu fragen, weil er ja genug um die Ohren hat. Mal sehen, ob sich da nächste Woche noch etwas tut.

Vielleicht sind die Grenzen auch nach beinahe sieben Monaten erreicht. „Mondkind, Du hast es nicht genug versucht“, werfe ich mir selbst ständig vor. Aber eigentlich… - aber ich viel versucht, viel ausgehalten. Langsam muss ich mir nur auch mal Gedanken darüber machen, wie ich Ostern überstehe. Vier Tage frei ohne irgendwelche Verbindlichkeiten und ohne die Notwendigkeit irgendwo gesehen werden zu müssen, sind in der jetzigen Situation ziemlich brenzlig. Für den Wochenenddienst auf der Stroke Unit bin ich nicht eingetragen, weil ich irgendwie die Hoffnung hatte, dass es vielleicht doch möglich sein wird, zu Ostern bei irgendwem zu sein – aber das ist nicht so.
Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, nochmal über Klinik nachzudenken. Ehe ich da auf der Arbeit vollkommen zusammen klappe – das wird mein Bild da auch nicht verbessern. Aber in diesen Zeiten, wird das vermutlich… nichts.

Erstmal werde ich jetzt in diesen Samstag starten. Einkaufen und Fenster putzen sind die nächsten Schritte – die Bude ist schon sauber. Denn wie gewohnt, bin ich schon seit fünf Uhr wach…

Mondkind

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