Ein Ende der Maulwurfzeit?


Mit dem klapprigen Fahrrad fahre ich an der Hauptstraße entlang, die durch die Uni führt. Die Busse donnern an mir vorbei und ich kann nicht anders, als durch die Schlaglöcher zu fahren und dabei inständig zu beten, dass dieses Fahrrad, das älter ist als ich selbst, nicht auseinander fällt.
Irgendwann biege ich rechts ab, in Richtung des Instituts für Anatomie. Das Fahrrad kette ich an einem Bauzaun fest, schnappe meine Tasche aus dem Korb auf dem Gepäckträger und laufe auf das Gebäude zu.

Nachdem ich durch einen langen Flur gelaufen bin, bleibe ich vor einer weißen Tür stehe. Zücke die Schlüsselkarte, die ich zu Hause schon am Hosenbund befestigt hatte und halte sie vor das Schloss. Es klickt einmal, blinkt in diesem dunklen Flur leuchtend grün auf und dann öffnet sich die Tür.
Der MTA schaut, wer da gerade zur Tür herein gekommen ist. Dann springt er auf und wie jeden Morgen wenn ich da bin, stelle ich meine Tasche kurz zur Seite, ehe ich mit einer innigen Umarmung begrüßt werde.

„Mondkind, ich habe auf Dich gewartet. Sollen wir Kaffee holen gehen?“
Also gehen wir über einen anderen Flur, ins Büro der Sekretärin, wo der Kaffeeautomat steht. Und weil von der letzten Sitzung noch Kekse da sind, nehmen wir die auch gleich mit.

Er sitzt auf seinem Stuhl, ich sitze nebendran auf dem Tisch, die Kaffeetasse neben mir, die Beine baumeln in der Luft.
„Mondkind, was hast Du Dir denn jetzt eigentlich vorgestellt, wie das nach dem Examen weiter geht…“ „Ich weiß nicht…“, sage ich und knabbere am Keks. „Ich denke, ich werde nach [Ort in der Ferne] gehen…“ „Und was wird mit der Doktorarbeit…?“ „Na der Plan ist bis dahin die Experimente fertig zu haben und dann muss ich eben von dort aus schreiben. Vielleicht kriege ich das Experimentieren neben der Klinik noch irgendwie fertig, das muss man sehen…“ „Mondkind, der Chef hat gerade Plätze frei. Du könntest auch erstmal hier am Institut für Anatomie anfangen und in Ruhe Deine Doktorarbeit fertig machen. Arbeit im Krankenhaus ist ja ohnehin nicht so Deins, wie Du gesagt hast und hier hast Du Dein Labor, werkelst in Ruhe vor Dich hin, hast feste Arbeitszeiten, keine Überstunden. Mondkind ich weiß, wie das da drüben in der Uni – Klinik zu geht. Ich weiß nicht, ob Du dafür gemacht bist. Für diesen Klinikbetrieb. Wo Du doch gerade erst dabei bist, ins Leben zu finden…“ „Mh…“, grummle ich. Und muss zugeben, dass das irgendwie nach einem guten Plan klingt. „Und wie verdiene ich mein Geld? Ich meine Doktorarbeit ist ja gut und schön, aber langsam findet mein Konto das halt nicht mehr lustig..." "Na Mondkind, Du bist dann hier an der Uni angestellt. Wir haben hier in der Anatomie denselben Tarifvertrag, wie drüben auf dem Klinikgelände. Das unterscheidet sich nicht…“

Wenig später habe ich den Kaffee (verbotenerweise) mit ans Mikroskop genommen, scanne die Proben auf feine rote Linien, die Lymphgefäßen entsprechen und lasse mir das Gesagte durch den Kopf gehen. Eigentlich wäre es wirklich nicht so schlecht. Wie lange ich mit all meinen Ängsten und Insuffizienzgefühlen den Klinikalltag überlebe, weiß ich wirklich nicht. Außerdem hätte ich dann nicht so einen Druck dahinter. Ich könnte in Ruhe die Klinik durchziehen, könnte das Konzept auch so durchlaufen, wie es geplant ist: Erst stationär, dann tagesklinisch und dann ambulante Anbindung. Ich könnte mir hinterher einen ambulanten Therapeuten suchen, was in der Großstadt viel einfacher werden dürfte, als auf dem Dorf. (Und wie sich Monate später heraus stellt, hätte ich den Kliniktherapeuten behalten können und dass er wahnsinnig gut ist, ist ja nun kein Geheimnis). Und ich hätte mal zumindest immer noch die Klinik in räumlicher Nähe als Backup, wenn mal nichts mehr geht…

Aber der Ort in der Ferne… - trägt viel Hoffnung. Denn dort ist nun mal der Mensch, mit dessen Hilfe ich die emotionalen Abgründe in mir in den Griff bekommen möchte. Ohne, dass er persönlich davon weiß. (Obwohl immerhin er das Wort „Ersatzpapa“ in den Mund genommen hat und ja wohl irgendeine Idee haben muss, wie er das machen will, dachte ich mir damals). Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Aber es ist die einzige Idee, die ich habe.
So gut wie das Angebot in der Anatomie auch sein mag – aber ich muss in die Ferne. Ich muss es versuchen. Ich kann nicht noch ewig so weiter machen. Das tut zu sehr weh. Obwohl ich den Labormenschen auch sehr, sehr vermissen werde.

Irgendwann gegen Mittag gehen wir gemeinsam in den Pausenraum, essen etwas, holen noch einen Kaffee und widmen uns danach wieder unserer Arbeit. Es ist irgendwie seltsam friedlich, die Laborarbeit. Keiner da, außer uns beiden. Das Surren der -80  Grad – Kühltruhen unterbricht immer wieder die Stille. Ich mikroskopiere und ziehe nebenbei die nächste Färbung durch. Immer wenn der Wecker piept, setze ich die Proben um. Er macht auch irgendetwas. Ich weiß gar nicht genau was. Aber es ist irgendwie beruhigend nicht allein im Labor zu sein. Einen anderen Menschen im Raum zu spüren, auch wenn jeder in seine Arbeit vertieft ist.

16 Uhr. Der MTA schnappt seine Tasche, umarmt mich noch einmal und geht nach Hause.
Und ich gehe zu meinem Fahrrad, das am Bauzaun steht. Löse das Schloss, düse einmal quer über den Campus, schließe das Fahrrad am Fahrradständer vor der Ambulanz an und sitze ein paar Minuten später auf den Stühlen im Wartebereich der Ambulanz. Die Ambulanz gibt es heute übrigens nicht mehr. Die ist umgezogen in die Tagesklinik.
Ich genieße kurz die Ruhe, die sich auf ganz eigenartige Weise in dieser Ambulanz immer über mich legt. Einmal Kopf sortieren. Einmal über alles sprechen, das gerade so weh tut. Damit es gehört und beachtet wurde, hinterher ein bisschen leiser ist und ich wieder eine Woche durchhalte.
Und dann höre ich schon das Klackern der Absätze meiner Therapeutin. „Hallo Frau Mondkind“, begrüßt sie mich, während sie um die Ecke biegt. Ich schnappe meine Tasche, balanciere meine Jacke über den Arm und gehe ihr entgegen.




Ungefähr ein Jahr später sitze ich hier auf meinem Sofa, das ich vom Vormieter übernommen habe. Die Wäsche ist in der Waschmaschine. Ich kann keine Blogeinträge mehr über hüpfende Waschmaschinen im Studentenwohnheim schreiben – bin aber froh, dass ich immer eine Maschine zum Benutzen habe, wann ich mag und die auch nicht versifft ist. Ich habe meine eigene Wohnung, was – wie mir in den letzten Tagen bewusst geworden ist – ein unglaublicher Luxus ist. Meine Tür zum Wintergarten ist offen und im Wintergarten habe ich ein Fenster geöffnet. Diskreter Lärm von der Hauptverkehrsstraße des Dorfs vermischt mit dem Rauschen des Flusses dringt an meine Ohren.
Der Gedanke daran, morgen wieder das Diensttelefon hüten zu müssen, macht mir schon jetzt Angst. Wie ich Donnerstag erfahren habe, sind morgen im Lauf des Tages wieder drei Oberärzte für mich zuständig und ich muss schon mal zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Oberarzt auswählen. Und dann ist morgen der Tag nach Ostern. Einige haben sich schon letzte Woche angekündigt nach Ostern kommen zu wollen. Es wird voll werden morgen.
Ich muss die Hausaufgaben noch fertig bekommen für morgen. Bislang hat die Konzentration noch nicht ganz gereicht. Und das letzte Mal, als ich Hausaufgaben hatte, hat der Oberarzt wirklich detailliert gefragt.

Äußerlich hat sich viel zum Guten gewendet. Ich habe es durchgezogen. Jahrelang verbissen an diesem Studium gearbeitet, den Abschluss gemacht, nochmal umgezogen, hier angefangen zu arbeiten. Nur ist nach sieben Monaten im Job klar, dass die zwischenmenschlichen Aspekte, die ganze Motivation dahinter, nicht funktioniert haben.
Es hat „Bagatellschäden“ auf diesem Weg gegeben. Die Doktorarbeit wird nicht mehr fertig, glaube ich. Das war irgendwann „too much“ für nebenbei.

Heute sitze ich hier mit Tränen in den Augen. Erinnere mich an diese Tage. Die auch produktiv waren, aber leichter. Vor denen ich keine Angst hatte. Ich habe mich auf die Labortage oft gefreut. Ein Job, der besser zu einer Mondkind gepasst hat.

Ich versuche eine Pro- und Contra – Liste für die Klinik aufzuschreiben. Sterbe immer wieder darüber ab, weil sich allein das Liste schreiben so falsch anfühlt. So sehr nach Zeitverschwendung.

Und ich frage mich, wie ich glücklich werde. Nochmal so viel aufgeben? Die eigene Wohnung, die Autonomie, nochmal umziehen, ein anderer Job. Weg von dem Menschen, mit dem ich es eigentlich richten wollte, weil klar wird, dass das nichts wird und es irgendwie mehr weh tut, als dass es mir gut tut.
Ich weiß es nicht.

Manchmal kommt mir das vor, wie „Maulwurfzeit 2.0.“ Ende der Maulwurfzeit war immer, wenn man sich nach den Klausuren wieder unter der Erde hervor gebuddelt hat, den Kopf in die Welt gesteckt hat und sich erstmal orientieren musste, wie es da jetzt aussieht, oberhalb der Erde. „Hallo Welt“, habe ich mir dann manchmal gedacht.
Jetzt stehe ich hier nach insgesamt ein paar Jahren verbissenen Buddeln für ein Ziel, das es nicht werden wollte. „Hallo Welt“, denke ich mir. Und frage mich, wie die Zukunft aussehen mag. 

Lernecke im Wintergarten


Mondkind

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