Notaufnahme - Chaos mit Nachwirkung


Freitagmorgen. Letzter Tag der Woche.
„Hoffentlich bleibt es ruhig…“, denke ich mir. In der Nacht haben die monatlichen Mädchenprobleme an die Tür geklopft, ich war vier oder fünf Mal schweißgebadet und mit Schmerzen wach und demzufolge bin ich echt müde heute.

Noch ist es still in der Notaufnahme, als ich den Kopf zur Tür herein stecke. Bisher ist lediglich die Arzthelferin da, die mir ein paar Briefe zum Unterschreiben unter die Nase hält.
Die Frühbesprechung wollte ich mir heute Morgen eigentlich sparen… - bis der Oberarzt kommt. „Mondkind, Du kannst da ruhig hingehen. Es gibt Spannendes zu berichten dieses Woche – zum Beispiel von unserer Herpes – Enzephalitis…“ Letzten Endes werde ich in der Frühbesprechung aber nicht über unseren glorreichen Herpes – Fall ausgefragt, sondern über die eher weniger glorreiche Aktion mit meinem Corona – Verdachtsfall von gestern, der mich vier Stunden und Telefonate mit einigen Oberärzten und Chefs gekostet hat.

Nach der Frühbesprechung habe ich schnell die ersten beiden Anmeldungen. Bis halb 11 bleibt es recht ruhig und dann… - beginnt das Chaos des Tages.
Die beiden angemeldeten Patienten kommen zeitgleich. Einer mit Rückenschmerzen und einer mit Residuen einer critical – illness – Polyneuropathie. Zeitgleich klingelt das Stroke Telefon. Die besten Stroke Alarme sind immer die, in denen nichts drin steht außer „Schlaganfall“. Keine Symptome, keine Vormedikation, kein Zeitfenster. Überraschungs – Ei. Die haben es meist in sich.

Bis der Stroke Angel da ist, ist der Rückenschmerzen – Patient schon fast fertig. Nur ein CT braucht er noch, auf das er noch lange warten wird.
Die Patientin mit dem Stroke Angel stellt sich als sehr schwer betroffen mit unklarem Zeitfenster heraus. Im CT demarkiert sich schon ein Infarkt – jeglicher Versuch mittels einer MRT – Untersuchung ein Zeitfenster zu ermitteln ist also hinfällig; lysieren können wir sie ohnehin nicht. Ich fahre noch eine CT – Angiographie mit der Frage nach der Möglichkeit einer Thrombektomie – die Radiologin sagt mir im Anschluss, dass alle Gefäße frei sind. Also beschließe ich die Dame vom CT – Tisch zu nehmen und in die Notaufnahme zu bringen. Die relevanten Anrufe bekommen dann aber grundsätzlich die Oberärzte – wenig später stellt sich heraus: Subtotoaler M2 – Verschluss. Also rufe ich die Neuroradiologen an. Die sind allerdings genauso dünn besetzt wie alle Abteilungen im Moment – einer ist im Urlaub und der andere steht gerade am Tisch. Aber eigentlich braucht man bei Gefäßverschluss und beginnender Infarktdemarkation eine CT – Perfusionsuntersuchung, hat mir ein Oberarzt mal erklärt. Das entscheiden die Radiologen dann auch. Allerdings… - bei dem schönen Wetter draußen hat es wohl ziemlich viele Menschen ins Freie gezogen und leider scheint heute Unfalltag zu sein. Die Radiologen haben eine Trauma – Spirale nach der nächsten und selbst die Notfälle müssen sich mit langen Wartezeiten einreihen.

Während ich mit der schwer betroffenen Patientin beschäftigt bin, steht das Stroke Telefon nicht mehr still. Kliniken wollen Patienten verlegen, Angehörige wollen Auskunft, Untersuchungen müssen organisiert, ausgewertet und besprochen werden, andere Fachabteilungen im Haus haben Fragen. Außerdem kommen mit wenigen Minuten Abstand zwei weitere Stroke Angel („wir sind schon wieder da…“, sagt die mittlerweile mir schon bestens bekannte Rettungsdienstbesatzung nur noch), Ich komme nicht dazu einen Satz zu Ende zu denken und fast anderthalb Stunden steht das Telefon keine Minute still.
Stroke Angel für das CT zu triagieren ist sehr schwierig. Es kommen zwei Patienten mit einer völlig gleichen Anamnese. Einer war beim Putzen kopfüber beschäftigt, der Andere hat sich gerade in den Werkzeugkoffer gebückt, als plötzlich ein heftiger Drehschwindel einsetzte, der auch erstmal – auch in Ruhe – persistierte, weshalb der Rettungsdienst informiert wurde. Bei beiden Patienten war der Schwindel während der Fahrt in die Notaufnahme rückläufig – bei einem Patienten blieb das so, bei dem anderen setze der Schwindel in der Notaufnahme wieder ein.
Bei einem Patienten hat mich nur stark irritiert, dass er seine Augen nicht öffnen konnte, ohne, dass der Schwindel wieder einsetzte. Wenn die Assistenzärztin auffordert: „Es tut mir leid, jetzt müssen sie wirklich mal auf meinen Stift schauen“, dann machen die Patienten das – im Gegensatz dazu, wenn der Oberarzt das fordert – ja nicht unbedingt. Deshalb war es schwierig zu eruieren – hat der Patient einen Nystagmus oder nicht. „Diskreter rotatorischer Nystagmus“, denke ich mir gerade, als der Patient sich auf dem CT – Tisch erstmal übergibt. Na super… - Nadel legen, etwas gegen die Übelkeit geben, kurz warten, CT – Untersuchung. In der Notaufnahme fertig untersuchen und wenn man eine Weile wartet, sinkt im Armvorhalteversuch der Arm ganz diskret ab. Ob das meine Fantasie ist, oder ob das wirklich so ist… - ich weiß es nicht. Ich rufe die Oberärztin an – die untersucht den Patienten auch nochmal. Dann beschließen wir: Lyse. Hängt nicht ganz nach 30 Minuten. Aber immerhin nach 35. Und im Lyseprotokoll kann man als Verzögerungsgrund „Erbrechen im CT“ ankreuzen. Passt doch. Das sind auch unsere fünf Minuten.
Der andere Schwindelpatient – der eigentlich wenige Minuten eher da war – bekommt sein CT danach. Zum Glück ist alles unauffällig und die gründliche neurologische Untersuchung auch. Irgendetwas Peripheres. Aber nichts, das ich hätte lysieren müssen. Das wäre jetzt schlecht für mich gewesen. Da hätte ich nicht mehr begründen können, warum ich es in 30 Minuten nicht gepackt habe.

Irgendwann ist das Perfusions – CT der anderen Dame fertig. Die Radiologen beschließen: Thrombektomie – Versuch. Also muss ich die Anästhesisten anrufen, die Patientin vorbereiten und dann kann ich sie zum Glück erstmal kurzzeitig in andere, fachärztliche Hände übergeben.
Am Ende sind ihre Gefäße zu stark geschlängelt, um da mit dem Katheter durchzukommen. Es ist schlecht für die Patientin, weil wir ihr nicht mehr helfen können. Mit meinem Wissen, dass wir das Perfusions – CT eine Stunde eher hätten haben können, wenn die Radiologin mir gesagt hätte, dass das Gefäß dicht ist, solange wie sie noch auf dem CT – Tisch lag und sie dementsprechend eher in der Thrombektomie hätte sein können und wir – wenn es geklappt hätte – mehr Hirngewebe hätten retten können, bin ich aber auch fast ein bisschen beruhigt. Sonst hätte ich sie vielleicht indirekt zum Pflegefall gemacht.

Mittlerweile ist es kurz nach 14 Uhr. Die Oberärztin, die in der Früh für mich verantwortlich war geht nach Hause und zwei andere Oberärzte übernehmen – unter anderem „mein“ Stroke – Unit – Oberarzt.
Unsere Neuro – Notaufnahme ist mittlerweile mehr als voll – jeder der laufen kann, sitzt draußen auf den Stühlen vor der Notaufnahme und wartet auf die Untersuchungen. Unter anderen auch der Herr mit den Rückenschemerzen, der immer noch auf sein CT wartet. Seit dem Morgen.
Wer nicht laufen kann, ist bei den Internisten geparkt. Wie auch eine Dame mit Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Fieber seit einer Woche. Wenigstens sie wollte ich eigentlich bei den Internisten lassen – aber vorsichtshalber mal ein CT machen. Und dann stellt sich heraus: Beidseitige, massive Kleinhirninfarkte; vielleicht muss sie aufgrund der raumfodernden Wirkung sogar operiert werden – das müssen die Neurochirurgen entscheiden. 



Immer wieder steigen mir die Tränen in die Augen, bricht mir die Stimme weg. Ich habe mittlerweile keinen Überblick mehr, wer angemeldet ist, wo meine Stroke Angel überall liegen, wie ich wen ins CT triagieren soll – die kommen nämlich auch nicht hinterher.
Ich hoffe schwer, dass mein Oberarzt das nicht sieht, aber ich fürchte, ich kann es nicht verhindern. Wo ich doch gestern gerade noch vom Notaufnahme – Oberarzt gehört habe: „Naja Mondkind, so schlecht hast Du Dich nicht geschlagen. Ich habe Dich hier – im Gegensatz zu Deiner Vorgängerin - nie weinen sehen. Es sei denn Du hast das zu Hause auf dem Sofa getan…“. Oha ja… - und wie viele Stunden, wollen Sie nicht wissen.

„Mondkind, komm mal mit“, sagt mein Oberarzt zu mir. „Warten Sie, ich muss noch den Patienten ins CT schicken, der wartet schon ewig“, entgegne ich und wähle die Nummer von der MTA. „Meinst du diesen Rückenschmerzen – Patienten, der hier seit 09:40 Uhr wartet Mondkind“, grätscht mir der Notaufnahme – Oberarzt dazwischen. Ja, genau den meine ich. Und das CT ist schon seit Stunden angemeldet – was soll ich machen? Er darf aber jetzt endlich kommen.
Der Oberarzt durchquert mit mir im Schlepptau die Notaufnahme. „Wo gehen wir hin?“, frage ich. „Du hattest heute sicher noch nicht eine Minute Pause“, entgegnet er. „Wir gehen jetzt zwei Minuten in die Sonne. Gerade können wir sowieso nur auf CTs warten.“ Wir verlassen die Notaufnahme durch die Zufahrt des Rettungsdienstes und dann stehen wir da. Nebeneinander. In der Sonne. Ich spüre die Wärme. Und höre die Vögel. Fast ist es komisch, wie friedlich die Welt hier draußen ist, im Gegensatz zum Wahnsinn da drinnen. Zwei Minuten ruhiger atmen. Raus aus der dezenten Hyperventilation. Als ich mich wieder beruhigt habe, setzt er wieder einen Schritt in Richtung Notaufnahme.
Und in all dem Lärm in meinem Kopf sind das die Momente, die bleiben. Und tragen. Das Licht in dem Grau. Die Mosaik – Steine, die so hell leuchten und immer wieder Mut machen. Weiter zu gehen. In der Hoffnung, dass aus diesen Momenten vielleicht mal irgendwann mehr wird.

Langsam wird zumindest der Patientenanstrum etwas weniger und wir arbeiten einen Patienten nach dem anderen ab. Um 16:30 Uhr, als die Dienstärztin kommt, die die Notaufnahme tatsächlich fast leer. Einen Patienten nehme ich gerade noch auf die Station auf, ein anderer – der für ein Konsil hier war – braucht noch einen Brief von mir, um damit zurück in sein Krankenhaus transportiert zu werden.
Die Dokumentation wird mich aber noch bis in die späten Abendstunden beschäftigen.
Irgendwann – es ist mittlerweile nach 19 Uhr – treffe ich „meinen“ Oberarzt nochmal auf dem Flur. „Ich wollte noch kurz was besprechen“, halte ich ihn an. „Was gibt es Mondkind…?“ „Also ich soll ja nächste Woche die Station machen und habe Montag frei. Kann man vielleicht schon Montagabend eine Patientenverteilung für Dienstag machen, damit ich mich irgendwie auf die Chefarztvisite vorbereiten kann? Ich würde dann einfach etwas eher kommen…“ „Das können wir machen Mondkind – aber wieso hast Du Montag frei…?“ „Weil der für den Dienstplan verantwortliche Oberarzt gesagt hat, dass ich noch einen Urlaubstag nicht verplant habe und den unbedingt jetzt nehmen soll. Ich komme auch gern arbeiten – so ist es nicht…“ „Wir schauen mal Mondkind“, entgegnet er. Ich sitze im Arztzimmer und tippe weiter, als ein Kollege rein kommt. „Mondkind, Du kannst Montag nicht frei nehmen. Es ist keiner da am Montag Mondkind. Der Oberarzt hat gesagt, Du sollst kommen…“ Zur Sicherheit rufe ich ihn nochmal an. Na gut… - arbeiten wir Montag. Habe ich gar nichts gegen. Dafür soll ich Donnerstag frei nehmen.

Es ist – wie so üblich – viel zu spät, als ich Freitag nach Hause gehe. 

***

Samstag.
Solche Tage haben Nachwirkungen. Wenn die Stress- und Angstachse einmal hochgefahren ist. In den frühen Morgenstunden liege ich im Bett. Frage mich, wie viele Lysen wir eigentlich gestern hatten. Waren das zwei? Oder drei? Und wenn drei – wo ist die Dritte gelandet? Ich kann mich nur an zwei Lyseprotokoll erinnern. Ich weiß es nicht mehr… das macht mich wahnsinnig. Da ist so viel Angst, irgendetwas vergessen zu haben.

Und dann… - dann klopft eine ganz bekannte Panik wieder an die Tür. Immer dann, wenn ich ultra – gestresst bin, bekomme ich Zahnschmerzen. Das weiß ich schon ewig. Und mittlerweile auch eigentlich, dass es nichts Schlimmes ist. Aber wenn man sich dazu genötigt gefühlt hat, mal wieder einen Zahnarzttermin zu machen, ist das kaum noch händelbar. Dann werden die Tage zusätzlich zu allem was da ist, noch von einigen Panikattacken überschattet. Mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, Weinen und allem, was dazu gehört. Deshalb kann man solche Termine eigentlich nur machen, wenn es sonst nicht zu stressig ist.
Und das geht offensichtlich genau dieses Wochenende los. Drei von diesen Attacken habe ich heute schon hinter mir und wenn es nicht bald besser wird, dann muss dieses Wochenende mal wieder die Bedarfsmedikation herhalten. Seitdem ich keinen Psychiater mehr habe, gehe ich damit sehr sparsam um, weil ich halt auch nirgendwo etwas Neues herbekomme, aber das geht so nicht. Das ist kein Zustand. Und arbeiten, wenn ich so überreizt bin, dass mich jedes Kommentar aus der Bahn schmeißt, kann ich auch nicht.
Also weiß ich auch schon, was ich Montagmorgen tun werde – beim Zahnarzt anrufen und fragen, ob wir den Termin vorziehen können, damit das zumindest bald aufhört. Ich weiß nur nicht, ob die jetzt völlig überlaufen sind, oder eher Termine frei haben. In der Studienstadt hat Termin vorziehen wegen psychischer Dekompensation meist geklappt. (Man könnte halt auch einfach gar nicht mehr gehen, dann würde man sich kurzfristig so einiges ersparen, aber langfristig würde es das auch nicht besser machen). Und dann hoffe ich, dass ich da zum Beispiel Donnerstag hin kann. Da habe ich ja nun ohnehin frei. Und bislang nichts vor. Dann hätte das zumindest Sinn. Viel Sinn sogar.

Einkaufen. Es regnet. Die Welt riecht nach Sommer. Wie an so einem warmen Sommertag, wenn es nach viel zu langer Zeit mal wieder Regen gibt. Im Laden läuft im Hintergrund „Shallow“. Ein Song, der untrennbar mit der Klinik verbunden ist, habe ich doch dort dieses Lied auf dem Keyboard gelernt und bis ich es konnte so oft gespielt, bis ich es fast selbst nicht mehr hören konnte.
Schon wieder Tränen in den Augen. Mitten im Laden.

Und jetzt sitzt man hier. Auf dem Sofa. Müde von der ganzen Angst. Immer noch mit Tränen in den Augen. Ob das heute nochmal besser wird, weiß ich nicht.
„Wie lange geht das hier alles noch?“, ist eine Frage, die ich mir stelle.
„Wann sitzt Du endlich mal neben mir auf dem Sofa, nimmst mich in den Arm und hältst mich so lange fest, bis die Tränen leer geweint sind?“ – das ist die andere Frage, die ich mir stelle. „Und wann sagst Du mir, dass diese ganzen Ängste, die ganzen Insuffizienzgefühle mich nicht umbringen werden, weil ich damit nicht mehr alleine bin. Jemand da ist, wenn man ganz dringend Jemanden braucht?“

Wann wird Jemand mal eine Decke über die Mondkind – Schultern legen und diesen langen Weg durch den Wahnsinn endlich mal beenden? Ich halte das nicht mehr aus.

Hoffen wir, dass ich einigermaßen durchs Wochenende komme und Montag zumindest an einer Ecke mal den Stressfaktor reduzieren kann. 



Mondkind

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