Staub
Notaufnahme 2.0.
Anstrengende Tage. Fast noch anstrengender, als ich sie in Erinnerung
habe.
Kaum habe ich das Diensttelefon in der Früh übernommen, klingelt es.
Schockraum. Mist… - alle in der Frühbesprechung, nur Mondkind da. Handeln.
Richtig handeln. Hoffentlich. „Mondkind, wieso hast du eine Angiographie
gemacht…?“, bohrt der Oberarzt später nach. „Weil ich Angst hatte, dass die
Patientin eine Basilaristhrombose hat und stirbt verdammte Hacke…“, denke ich
mir. Das ist natürlich keine adäquate medizinische Begründung, sondern
lediglich meine Wahrheit, also muss ich mir etwas ausdenken, das auch ihn
überzeugt.
Tagsüber stapeln sich die Patientin in der Notaufnahme. Zwischen Anrufen
von anderen Krankenhäusern, Kollegen im Haus, die Probleme haben, fordernden
Angehörigen. „Was soll man machen, bei dem Patientenansturm?“, frage ich, als schon
wieder Patienten bei den Internisten liegen. „Es waren auch mal weniger
Patienten Mondkind, Du hast sie nur nicht rechtzeitig auf die Station bekommen…“
Danke, echt.
Viele Fälle, viele Schicksale. Patienten, die ja laut Angehörigen
bisher immer ganz gesund waren und das könne man sich gar nicht vorstellen,
dass da jetzt etwas Schlimmes sein könnte. Schlaganfälle, Schwindel,
Rückenschmerzen, paranoide Schizophrenie. Ein buntes Potpourri habe ich diese
Woche schon gesehen. Vielleicht erzähle ich am Wochenende über ein paar Fälle.
Und im Übrigen wartet nächste Woche nun doch noch eine Woche
Notaufnahme in Vertretungssituation (ergo ohne Oberarzt) auf mich…
Und dann kommt man abends nach Hause. Unglaublich müde.
Der Körper quittiert die Anstrengung des Tages wieder mit
Schüttelfrost und Kopfschmerzen, sodass man hier wieder mit dicker Wolldecke
und einem Tee liegt.
Essen kochen ist zu anstrengend, da muss es etwas geben, das keiner
Vorbereitung bedarf.
Und manchmal frage ich mich: Bin ich die Einzige, der es so geht? Bin
ich vielleicht doch einfach zu wenig belastbar für diesen Job? Oder mache ich
mich den ganzen Tag über vor Sorge so verrückt, dass der Körper diese
Daueranspannung nicht aushält?
„Mondkind, was willst du denn machen, wenn Du Dienste machst?“ fragt
ein Kollege, der befindet, dass ich ziemlich fertig am Ende des Tages aussehe.
Tja… - die Frage kreist auch unentwegt in meinem Kopf. Ich weiß es
nicht. Wirklich nicht.
Langsam muss ich mir mal überlegen, ob ich übernächste Woche in die
Studienstadt fahren möchte. Mit dem Bus wäre es nicht machbar, eventuell mit
der Bahn. Und dann müsste man überlegen, wo man in der Zeit schläft. Es gibt da
ja noch das Elternhaus. Meine Schwester hat letztens meine Mutter aus dem
Norden wieder hin gefahren. „Mondkind, ich weiß nicht, ob ich mir das antun
würde. Ich war nur kurz da und ich habe auf dem ganzen Heimweg nur geweint“,
hat sie mir erzählt. „Ich meine… - dann sieht man so sein altes Zimmer und
fragt sich, was verdammt noch mal aus diesem Leben geworden ist…“
Genau dieselbe Frage habe ich mir auch jedes Mal gestellt, wenn ich
wieder da war, nachdem ich einmal ausgezogen war. Wo ist der Fehler? Wo sind
wir falsch abgebogen? Wie konnte das alles so kommen, wie es heute ist… ?
Normalerweise ist das Chaos nur in meinem Kopf. Unsichtbar. Vielleicht ein
bisschen Einbildung. Ein bisschen Theatralik, wie die Leute mir gern
unterstellen. Aber dieses Haus, das macht es so sichtbar. Diese Brüche, die Zerrissenheit.
Die Hoffnungen, die im wahrsten Sinne des Wortes unter dem Staub begraben
liegen. Das Verharren im Gestern ohne zu glauben, dass es ein Morgen gibt.
Zwar hat meine Mutter immer angekündigt mein Zimmer anders einrichten
zu wollen, aber gemacht hat sie es letztendlich nie. Eher wurde der Raum mit
allem möglichen Krempel zugestellt, den man gerade nicht braucht. Aber in
meinen Regalen hat niemand etwas hin und her geräumt. In den Kleiderschrank hat
meine Mutter mittlerweile ihre Klamotten einfach zwischen die meinen gehängt,
die ich nie mitgenommen habe. Und jedes Mal wenn ich da bin, dann verrücke ich
die Schneekugel auf dem Regal, auf dem seit Jahren keiner mehr Staub gewischt
hat. Produziere einen hässlichen Abdruck und frage mich, wie die Welt wohl
stehen wird, wenn Jemand die nächste Unebenheit im Staub schafft.
Ich finde Zettel und Notizen noch aus den ersten Jahren des Studiums,
die ich unachtsam habe liegen lassen. Als wäre man nur mal kurz weg gewesen.
Als würde man gleich zurück kommen, wenn nur über die Jahre sich nicht eine
dicke Staubschicht über die Dinge gelegt hätte.
Und es ist nichtmal die Sehnsucht nach dem Leben von damals, die so
viel Trauer hervor ruft. Denn ich hatte ja Gründe, so schnell zu Hause
auszuziehen. Ich weiß nicht mal genau, woher das kommt. Aber zumindest empfinde
ich scheinbar nicht allein diese tiefe, unstillbare Sehnsucht dort.
Und gerade in Zeiten, in denen so unendlich viel zu Ende geht - jedenfalls kann man in den verbleibenden Tagen des Monats nicht mehr so wirklich viel klären, fürchte ich - ist das
so die Frage, ob das geschickt ist, die Zerrissenheit dieser Familie sich so
deutlich vor Augen zu führen. Dieses zu Hause, in dem alles stehen geblieben
ist. Das im Gestern geblieben ist, während die Welt sich ins Morgen gedreht
hat. Weil Verdrängung irgendwann nicht mehr ging.
Und ob das wirklich so viel Sinn macht, den Herrn Kliniktherapeuten zu
besuchen. Was soll er machen… ? Dann setzt Mondkind wieder die Füße auf dieses
Gelände und weiß genau, dass sie nicht weiß, ob sie nochmal wieder kommt. Weil
es immer enger wird, sich die Schlingen immer weiter zu ziehen. Aber man auch
unmöglich wie ein Wirbelwind ein Mal durch die Ambulanz ziehen kann,
kommunizieren, dass es alles ganz schlimm und furchtbar ist und hinterher
wieder verschwinden kann ohne dass Jemand weiß, wie er helfen kann. Weil ich
das eben auch nicht weiß.
Wie kann man denn helfen? Was kann man hier noch retten? Ich war
jahrelang auf Pfaden unterwegs, die am Ende ins Nichts führen. Das kann man
nicht einfach so umkehren. Und das ist auch mal die Frage, ob Jemand die Not
von einer Mondkind sehen würde, die ja immerhin die Notaufnahme rockt. Was für
alle immer spätestens der Punkt ist, an dem sie raus sind. So schlimm kann das
gar nicht sein…. – sagen sie dann.
Ich weiß es nicht. Eigentlich… - eigentlich wünsche ich mir nur ein
ganz kleines bisschen Frieden. Ein bisschen Schutz. Ein bisschen aufhören zu dürfen, einfach nur zu funktionieren. Ein bisschen gehört und gesehen werden.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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