Brief - Du und ich gegen die Welt

Hey Du,
na, wie geht es Dir?
Wir sind im Lockdown 2.0. Durch den Ersten haben wir uns noch zusammen hindurch getragen. Zum ersten Mal gespürt, dass knapp 400 Kilometer doch eine Menge Distanz sein können. Beschlossen, dass wir uns lange genug kennen, um endlich mal zusammen zu ziehen. Sobald es möglich ist.
Immerhin hatten wir es ja schon stillschweigend beschlossen, seitdem ich diese Wohnung hier hatte, in der locker zwei Menschen leben können und Du mit mir den Mietvertrag durchgeschaut hattest.

Das Foto von Dir steht noch auf dem Tisch, in der Mitte des Raumes, die Kerze brennt jeden Tag. Ein bisschen, als könnte sie das Tor in Deine Welt öffnen.

„Sag mal Mondkind, wenn ich gestorben bin – bekomme ich dann auch ein Foto auf dem Tisch?“
Ein Kommentar vom Besuch in der letzten Woche. Du kannst Dir sicher denken, wer es war.
Ich finde es respektlos. Ehrlich gesagt. Man darf sich Gedanken um seine Wortwahl machen.

Es folgten dann diverse Konversationen in dieser Familie im Kreis, bei denen natürlich wer wieder der Depp war?

Und dann folgte eine lange Gedankenschleife meinerseits.
Weißt Du… - natürlich weißt Du es – ich war immer irgendwie anders, als der Rest dieser Familie. Es gab so Dinge, die waren „typisch Mondkind“. Sei es, dass ich alles immer etwas tiefer durchdacht habe, als die anderen. Sei es die Musik, die ich gehört habe, die Texte, die ich geschrieben habe. Seien es die Interessensgebiete gewesen. Du weißt, ich war nicht der große Naturwissenschaftler, hätte viel lieber irgendetwas Gesellschaftswissenschaftliches gemacht. Seien es die Menschen gewesen, mit denen ich mich getroffen habe, denen ich vertraut habe, mit denen ich mich ausgetauscht habe
Und was es auch war – immer war „typisch Mondkind“ der angebliche Irrweg. Immer musste ich mir Kritik anhören, immer waren meine Ansichten, mein Handeln unangebracht. Man hat mir das Gefühl gegeben: „Alles was Du anfässt Mondkind, kann nichts werden. Du musst es machen, wie wir sagen – sonst landest Du mit Deinem alternativen Lebensstil unter der Brücke.“
Wenn ich mich zu sehr aufgelehnt habe kam: „Mondkind das geht so nicht. Wenn Du Unfrieden stiftest, dann isst Deine Schwester nichts mehr und wird sterben.“
Ich habe seitdem ich denken kann, Vieles im Verborgenen getrieben.
Und irgendwann – die Story kennst Du – musste ich da raus. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte diese emotionale Erpressung nicht mehr ertragen.

Aber was ich tief in mir verinnerlicht hatte war: Mondkind, Du bist falsch so, wie Du bist.
Heute glaube ich: Ich war nicht falsch. Ich wusste das nur nicht.

Worauf ich hinaus will: Du in meinem Leben warst meine Rebellion. Mein Beweis von „typisch Mondkind“ kann funktionieren. Die potentielle Bezugsperson formulierte letztens mal: „Ihr wart etwas ganz Besonderes füreinander, aber er war nicht der Vorzeigeschwiegersohn, nicht wahr?“ Und das war nicht böse gemeint (er ist überhaupt sehr lieb geworden). Es heißt einfach nur: Nein, es war nicht das, was man sich vorgestellt hatte. Nein, Du warst kein kardiologischer Assistenzarzt, wir haben nicht beide Kohle gescheffelt und wir standen nicht beide fest mit beiden Beinen im Leben. Wir haben unsere Narben getragen, haben unsere verletzten Seelen gegenseitig geheilt, haben aneinander gelernt, was Vertrauen und Leben heißt. Wir haben diese Gespräche geführt, die wir mit Keinem anderen führen konnten, wir haben zusammen Musik gehört, an kalten Bahnhöfen stundenlang aufeinander gewartet. Wir haben uns getröstet, wenn es dem anderen so schlecht ging, dass er wieder in der Psychiatrie saß, wir haben unsere Lebensläufe, alle Höhen und Tiefen gegenseitig akzeptiert, wir mussten nichts verstecken, weder Trauer noch Freude. Wir haben unsere Seelen ausgetauscht und gegenseitig getragen und damit das Wertvollste geteilt, das man teilen kann.

Du und ich gegen die Welt. Gegen alle Zweifler, gegen alle diejenigen, die meinten, dass eine Mondkind Ihr Leben nie auf die Kette bekommen wird.
Job, Wohnung, Unabhängigkeit, Fast – Freund, aber in jedem Fall einen Seelenverwandten. Das sollte man erstmal nachmachen.

Dein Tod war in dem Zusammenhang, als hätte mir jemand ein Brett auf den Kopf geschlagen und gesagt: „Nun sieh, was Du davon hast Mondkind. Das kommt von „typisch Mondkind“.“
Meine Oma hat es ja wenige Tage nach Deinem Tod genauso formuliert: „Mondkind, man sollte eben nicht mit psychisch Kranken befreundet sein. Du solltest Dir jetzt einfach mal richtige Freunde suchen.“ Was immer auch „richtige Freunde“ sein sollen. 

Neues Kerzchen bei Dir... 💔

 

Ich habe jetzt wirklich Monate gebraucht, um diesen Zusammenhang zu sehen. Um nicht nur zu spüren – und das war von der ersten Sekunde an so - sondern um auch nachzuvollziehen, dass meine Grundüberzeugungen durch Deinen Tod bis in das tiefste Fundament erschüttert wurden.
Es war sicher nicht Deine Intention, aber da war er wieder, der Gedanke: „Mondkind, alles was Du anfässt muss zerfallen, weil Du es einfach nicht kannst, weil Du nicht weißt, was gut für Dich ist, weil „typisch Mondkind“ eine Illusion ist, die man korrigieren muss.“

Aber das zeigt auch etwas anderes: Du hast mich zu diesem Menschen gemacht, der ich war. Zu dieser Kämpferin, die es sich getraut hat, für sich einzustehen. Die in den Ort in der Ferne gegangen ist, weil es sich richtig angefühlt, weil es sich nach mir angefühlt hat. Die in die Neuro gegangen ist, trotz Protest der Familie. Die sich immer weiter von diesen alten Einflüssen abgegrenzt hat, die auf der Suche nach dem Leben war, die so hungrig nach den Farben war.
Du warst all die Jahre, in dieser turbulenten Zeit, mein Fundament. Wenn der Seelsorger früher gelegentlich gefragt hat, woher ein Mauerblümchen wie ich die Kraft für derartige Rebellion nimmt, dann warst Du Antwort.
Und dafür danke ich Dir. Ich wäre nicht da wo ich heute bin, ohne Dich. Das ist mir klar geworden.

Ich verspreche Dir, ich werde meine Kraft und Stärke irgendwann wieder finden. Aber ich spüre auch, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich wollte so viel schaffen in meinem Urlaub, aber gerade spüre ich sehr stark den Schmerz, die Sehnsucht, die Frage, wie ich es hätte besser für Dich machen können. Das Ende des Jahres rückt näher, es kommt die Zeit so Vieles nochmal zu reflektieren. Einzusehen, dass das hier kein Roman ist, bei dem ich die traurige Hauptrolle spiele, sondern dass das mein Leben dieses Jahr war, dass die Narben bleiben werden und wir sie nicht mehr gegenseitig pflegen können.
Vielleicht muss ich gerade nicht so viel schaffen, alle möglichen Fachartikel lesen. Vielleicht reicht es, mir ein bisschen Zeit für mich zu nehmen und mich treiben zu lassen. Vielleicht ist es okay, wenn mein Gehirn die Nächte zum Tag macht. Kein Grund sich zu stressen. Ich muss nicht arbeiten, es ist okay.

Es ist eine sehr schwere Zeit. Ich habe mich sehr verändert über die Monate und heute glaube ich, dass das der Grund war, dass ich im Sommer überall angeeckt bin. Ich kannte mich nicht mehr, konnte mit mir selbst nicht umgehen und die anderen kannten mich auch nicht.

Wenige Menschen – sehr Wenige – hätten nochmal einen Erklärungsversuch meinerseits bekommen, nachdem sie einmal reagiert haben, wie die Meisten das getan haben.
Gerade hat sich dadurch aber etwas etabliert, das zumindest temporär ein wenig trägt und ich hoffe, das bleibt noch eine kleine Weile so. Es wäre sehr schön zu sehen, dass auch nach einem Erdbeben irgendwann wieder ein kleines Pflänzchen aus dem Boden wächst.

Ich hoffe sehr, Du hast einen Platz gefunden, an dem Du Dich sicher fühlst.
Du fehlst mir.

Ganz viel Liebe
Mondkind

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