Turbulenzen zwischen den Jahren
Ganz schön viel los in den Tagen „zwischen den Jahren“.
Seine Mum hat geschrieben. Die des Freundes. Wenn man ihre und meine
Schablone der Geschichte übereinander legt, dann erkennt man Schnipsel für
Schnipsel eine brutale Wahrheit. Eine Wahrheit, die viel Raum für Spekulationen
lässt. Für „Was wäre wenn?“ Wenn ich dieses oder jenes noch getan hätte?
Wenn man gemeinsames Brainstorming hätte betreiben können, wenn ich
nicht alleine und überfordert mit diesem Thema zurück geblieben wäre,
sicherlich viel versäumt habe, weil dieser Schock über dieses nicht planbare
Ereignis mich so handlungsunfähig zurück gelassen hat... - vielleicht würde er noch leben.
Es gibt kaum Entschuldigungen, wenn ein Versäumnis mit dem Leben
bezahlt wird.
Die potentielle Bezugsperson, bei der man langsam mal das Wort „potentiell“
streichen kann, hat gestern nochmal eine lange Mail bekommen, weil ich diese
Gedanken nicht alleine tragen konnte.
„Schwierig, sehr schwierig“, war der erste
Satz. Ich hoffe, er findet die Tage nochmal Zeit zum Reden, zum Zuhören und
Mittragen – auf jeden Fall war das gestern sein Plan. Auch sagt er, dass ich
jetzt ganz dringend professionelle Hilfe brauche, um endlich mal anfangen zu
können, das aufzuarbeiten – was ja bis jetzt nicht im Ansatz geschehen ist. Er
möchte sich nochmal kümmern nach dem Jahreswechsel. Und ich… - hoffe irgendwie
auf schnelle Lösungen. Auch, wenn ich mir nicht sicher bin, wie lange ich
brauchen werde die Geschichte mit allen schmerzhaften Einzelheiten einem neuen Menschen
zu erzählen, der sich „Therapeut“ schimpft.
Als wäre das nicht genug, gibt es mal wieder
familiäre Unstimmigkeiten.
„Ruf mich an, wenn Du wach bist“ von meiner Mum
ist sicher nicht sehr beruhigend. Nachdem sie die letzten Tage schon mit meiner
Schwester angeeckt ist, versucht sie es jetzt bei mir weiter. „Mondkind, Du
musst ganz dringend heute kommen und Dich um mich kümmern.“ Puh ja… - ohne Auto
zu Corona – Zeiten im Lockdown quer durch Deutschland, wo ich am 2. Januar auch
wieder arbeiten muss... Ich würde auch nur zwei Tage das allergrößte Chaos
aufräumen, das ich dort vorfinden werde. Auf taube Ohren stoßen hinsichtlich
vernünftiger medizinischer Behandlung und vom Sozialdienst eingeleiteten
Unterstützungsmaßnahmen. Und würde mir dann vermutlich anhören, dass ich nicht
genug getan habe. Und dass das gar nicht geht, wieder in die Ferne zu gehen. Wo
sie mich auch hier nicht mehr sehen will. Während ich in der Klinik war, wurde
im Hintergrund eine Kündigung geschrieben, die ich nur noch hätte abgeben
müssen, wie ich viel später erfahren habe. Und dann wäre das Leben hier vorbei
gewesen. Zu versuchen einem solche weitreichenden Entscheidungen in einer Phase
von akuter Trauerreaktion und Depressionen überzustülpen, in einer Zeit, in der
man ohnehin kaum denken kann, ist schon grenzwertig.
Flucht nach vorne, war vor Jahren das Einzige,
was ging. Nach Jahren emotionaler Erpressung, einer unglaublichen emotionalen
Kälte in diesem Haus, in dem es Dinge wie gegenseitigen Respekt, Liebe, Vertrauen,
ein Gefühl von Geborgenheit einfach nicht gab.
Bis heute fragt sie nicht, wie es mir geht mit
allem, was passiert ist in diesem Jahr. Bis heute ist mein Oberarzt meine
Bezugsperson. Bis heute höre ich nicht: „Mondkind, ich weiß, dass der
Jahreswechsel für Dich dieses Jahr auch sehr schwierig ist, aber könntest Du
vielleicht bitte…“ Bis heute höre ich nur: „Du musst mir helfen und als Tochter
macht man so etwas.“
Ja stimmt, macht man. Aber vielleicht nicht nach jahrelangem Autonomiekampf, der drei Mal in der Psychiatrie geendet hat, der bis heute tiefe Narben auf der Seele trägt, der jegliches emotionale Grundvertrauen weg genommen hat.
Und jetzt sitzt Mondkind hier mit Tränen in den Augen. Warum muss es immer scheiße und schwer sein? Mittlerweile hat die Mutter ihr Handy ausgeschalten; ich habe sie nochmal zurück gerufen. Was – nachdem ich über einen Monat lang jeden Tag mehrmals den Anrufbeantworter des Freundes gehört habe – emotionale Folter ist. Und das weiß sie sehr gut.
Mondkind
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