Mein Jahr 2020
2020
Ein Jahr, das alle Katastrophen irgendwie vereint hat. Den meisten
Menschen wird es als das „Pandemie – Jahr“ in Erinnerung bleiben. Für mich wird
es immer das Jahr bleiben, in dem einer der beiden wichtigsten Menschen in
meinem Leben beschlossen hat, für immer zu gehen.
Das Jahr, in dem ich begriffen habe, dass so viele Dinge – gerade die
zwischenmenschlichen Dinge – endlich sind, dass nichts planbar ist, dass am
Ende nicht mehr, als der Moment bleibt.
Hätte mir Jemand erzählt, als ich die letzten Zeilen des
Jahresrückblicks 2019 geschrieben habe, was passieren wird, ich hätte es nicht
für möglich gehalten. Dass man mit so viel Verlust, Schuld, Sehnsucht und
Schmerz leben kann und am Ende des Jahres doch noch steht.
Wie immer, wird die Jahresreflektion ein längerer Blogpost, den ich dieses Jahr auch nur in Etappen schreiben konnte. Also kuschelt Euch in eine Decke, holt Euch einen Tee und dann könnt Ihr Euch mit mir auf eine kleine Reise durch dieses turbulente Jahr begeben.
Eine der Wände im Flur. So ganz, ganz langsam wird die Wohnung hier Stück für Stück ein "zu Hause". "Es muss Deine kleine Burg werden", hieß es mal. Wird es... - irgendwann |
Fangen wir mal von vorne an.
Januar.
Meine Zeit auf der Stroke Unit ist endlich. Das wusste ich. Ich
wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich würde weg rücken müssen
von der potentiellen Bezugsperson und wenn wir es bis dahin nicht geschafft
haben würden, nicht zwingend die Arbeit als Grundlage zwischen uns zu brauchen, würde
das ein Schlussstrich werden. Ich wusste auch, dass die Notaufnahme - der Ort meiner nächsten Rotation - und ich
mutmaßlich keine Freunde werden würden. Ich hatte dieses unplanbare Chaos einer
Notaufnahme ja schon im PJ mitbekommen – so zu arbeiten ist ein bisschen der
Mondkind’sche Alptraum.
Ende Januar kamen dann auch endlich die Rotationspläne. Die Kollegen
hatten mich in den Tagen zuvor noch beruhigt, mir erklärt, dass ich schon mal
mindestens ein Jahr auf der Stroke Unit bleiben werde. Pustekuchen – ab März
würde ich in der Notaufnahme sitzen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich das
fachlich und menschlich bis dahin auf die Reihe bekommen sollte.
Februar.
Das Februar – Highlight war meine erste Fortbildung in einer Großstadt
einige hundert Kilometer von uns entfernt. Von uns Dreien die gefahren sind,
war ich die Einzige, die an dem Anreisetag arbeiten musste. Schon halb vier am
Nachmittag („Mondkind, nimmst Du einen halben Tag Urlaub heute…?“ ;) ) habe ich
die Klinik verlassen und dann sind wir zu Dritt weiter in den Süden gefahren.
Abends kurz vor 22 Uhr kamen wir an,
haben unsere Taschen erstmal in dem Hotel abgestellt mit diesem grünen Fußboden
unter der Dachschräge, das man über einen Hinterhof betreten musste und haben
die Stadt etwas unsicher gemacht. Es würden dieses Jahr die einzigen Tage
bleiben, die neben der Fortbildung etwas von Urlaubsflair hatten. Gerade noch
so vor der Pandemie.
Tagsüber haben wir uns spannende Vorträge über EEGs und immer mal
wieder eingestreut psychiatrische Themen angehört. Ein bisschen war es wie in
alten Zeiten, wie ich da so zwischen den beiden Kollegen im Hörsaal saß und
überall fleißig mitgeschrieben wurde.
Jeden Abend waren wir in einer anderen Kneipe und ich hätte vorher
nicht gedacht, dass mir das tatsächlich gefallen könnte. Irgendwann mitten in
der Nacht kamen wir – oder zumindest ich – völlig übermüdet heim, dann noch
schnell Haare waschen, dem Freund eine Sprachnachricht machen und dann ins
Bett.
Hörsaal - Atmosphäre |
Das Hotelzimmer unter der Dachschräge mit dem grünen Fußboden |
Im Lauf des Februars sind die potentielle Bezugsperson und ich ein Stück zusammen gerückt. Ich habe das auch nochmal ein bisschen forciert, ihn ein bisschen genervt mir gegenüber mal zu einer Entscheidung zu kommen. Eigentlich fiel die ganz ursprünglich mal positiv für mich aus, aber zur Umsetzung ist es erstmal nicht mehr gekommen – da kam erst der Job und später die Pandemie dazwischen.
Das Ende vom Februar hatte es in sich. Ich war völlig panisch mit diesem Wechsel in die Notaufnahme. Bin ich dem was da passiert, gewachsen? Werde ich die potentielle Bezugsperson doch verlieren? Wie stabil ist das? Erstmal endete der Monat auf jeden Fall mit einer Katastrophe. Eine bis dahin gute Freundin hat den Bogen überspannt, das Vertrauen zu sehr ausgenutzt, das ich ihr zu schnell geschenkt habe. Da sind Mails hin und her gegangen, von denen ich im Traum nicht gedacht hätte, dass es die geben könnte, dass es sich jemand wagen könnte, sich so sehr in das Privatleben anderer einzumischen. Mails, bei denen ich dann nur noch auf copy gesetzt wurde, nur noch zuschauen konnte, was passiert. Die Konsequenz war, dass die Freundin erstmal hochkant aus meinem Leben geflogen ist und ich die nächsten Monate damit verbringen würde, die Beziehung zur potentiellen Bezugsperson zu retten.
Good bye Stroke Unit |
März.
Die ersten Tage im März waren anstrengend. Ich saß im Büro der
potentiellen Bezugsperson, musste irgendwie erklären, wie es zu dieser
Eskalation kommen konnte und habe natürlich die komplette Verantwortung für
alles was passiert ist, auf meine Schultern nehmen müssen.
Gleichzeitig hatte ich plötzlich fünf Tage die Woche, mindestens acht
Stunden am Tag das Diensttelefon in der Kitteltasche, das in der Lage war zu
jeder Sekunde aus einem relativ routinierten Treiben eine absolute
Notfallsituation zu erstellen.
In den ersten beiden Wochen hatte ich teilweise bis zu 20 Patienten am
Tag; wenn es blöd lief, kamen vier Stroke Angel auf einmal. Manchmal
hatte ich acht oder neun Patienten gleichzeitig zu betreuen. Jeder der laufen
konnte, saß vor der Notaufnahme und hat auf die Untersuchungen gewartet und
weil das trotzdem zu viele Patienten für unsere Neuro – Notaufnahme waren,
lagen akut eingetroffene Stroke Angel manchmal bei den Internisten. Teilweise
hatte ich keinen Überblick mehr, habe die Schwestern los geschickt um meine
Patienten zu suchen.
Wenn ich das Diensttelefon dann um 16:15 Uhr los war, ging die
Dokumentation los, die ich bis dahin meistens überhaupt nicht geschafft hatte.
Nicht selten saß ich in diesen ersten Tagen des März bis 22 Uhr auf der Arbeit.
Mir fehlte die Routine und dann war da so viel Angst, dass ich mich erstmal ein
bisschen runter fahren musste, bis ich überhaupt in der Lage war, mich wieder
an den Computer zu setzen und etwas zu machen.
Ich hatte keine Zeit mehr, mich über eine heran nahende Pandemie zu bilden, bei den Frühbesprechungen war ich wochenlang nicht, weil jeden Tag pünktlich um kurz nach acht ein Patient kam. Ende März wurde das öffentliche Leben herunter gefahren und wäre das nicht passiert… - keine Ahnung, ob ich die Notaufnahme – Zeit da gepackt hätte. Von ein auf den anderen Tag herrschte Stille in der Notaufnahme, es kamen beinahe nur noch Stroke Angel.
Schreckliche Zeit; der Mondkind'sche Alptraum - der nächstes Jahr leider wiederkommt |
Ende März war es auch, dass offensichtlich wurde, dass es dem Freund
immer schlechter ging. Bis zum Beginn der Pandemie war er ein gestandener Mann,
der zwar eine Menge Mist im Leben erlebt hat, aber der all das gut in seine
Biographie eingebaut hat. Zuletzt aus all dem was passiert ist etwas machen
wollte, indem er Ex – In – Mitarbeiter wird.
Aber dieses plötzliche Nichtstun, dieses Zurückgeworfen werden auf
sich selbst, hat ihn doch umgehauen. Dann sind noch ein paar Probleme zu Tage
gekommen, von denen er geglaubt hat, dass ich ihn dafür verurteile, aber die in
der Pandemie nicht mehr zu verbergen waren. Es ging so schnell bergab mit ihm –
so schnell kam man außenrum gar nicht mehr hinterher. Ich war sein wichtigster
und einziger Kontakt; wir haben ausnahmslos jeden Tag nach der Arbeit
telefoniert – egal wie lang mein Tag war. Aber das konnte nur ein Tropfen auf
den heißen Stein sein; ich war eben die meiste Zeit des Tages nicht verfügbar.
Da blieb am Ende nur die Psychiatrie.
(Wer sich jetzt übrigens fragt, warum er auf dem Blog beinahe nie
erwähnt wurde: Er war einer der beiden Menschen, denen ich die Blogadresse
gegeben habe. Einer hat sie aus beruflich – therapeutischen Gründen bekommen
und eben der Freund. Und ich mag das immer nicht, wenn die Leute über den Umweg
des Blogs lesen, was bestimmte Situationen mit ihnen in mir auslösen. Das
schafft auch Raum für Missverständnisse. Deshalb wurde das Meiste, das mit dem
Freund zu tun hatte in all den Jahren nie erwähnt).
Die Welt stand auf, die Mondkind ging unter - wie jedes Jahr |
April.
Der April war relativ ruhig. Zwar wurde die Notaufnahme irgendwann
wieder voller, aber nie wieder so voll wie zu Beginn meiner Notaufnahme – Zeit.
Zwischen der potentiellen Bezugsperson und mir war es relativ ruhig; wir
mussten immer noch Gras wachsen lassen über die Ereignisse vom lezten Tag des Februars.
Der Freund war in der Psychiatrie, bis oben hin voll gestopft mit
Medikamenten und nicht mehr der Mensch, den ich mal gekannt habe. Jedes
Telefonat hat mir das Herz zerrissen. Seine Konzentrationsspanne reichte
maximal zehn Minuten; Pseudodemenz ließ grüßen, ich musste mir anhören: „Aber
Mondkind, wenn ich dement werde, was willst Du denn dann mit Jemanden wie
mir…?“ Er hat überhaupt nicht mitbekommen, wie sehr mich solche Kommentare
verletzt haben, teilweise kam mir das fast wahnhaft vor. So oft musste ich mich
selbst während der Telefonate auf eine Bank setzen. Habe ihm dann erklärt, dass
das nur die Krankheit und die Medikamente sind und dass es mir unabhängig davon
völlig egal ist und dass ich definitiv bei ihm bleibe, egal was passiert.
So sehr ich auch verstehen konnte, dass er nicht in der Klinik bleiben
wollte und nachvollziehen konnte, dass das Psych KG ihn sehr belastet hat, so
froh war ich auch, dass er dort sicher war.
Manchmal lag ich abends im Bett und habe geweint um diesen Menschen,
den ich da gerade völlig an die Krankheit verloren habe. Ich musste für ihn da
sein, das wusste ich. Aber der stabilste Halt im Privatleben war gerade nicht
mehr da und ich musste nicht nur mich selbst, sondern irgendwie uns beide tragen
und daneben hat die Arbeit den letzten Funken Energie aus mir heraus gezogen.
Hochspannung. Jeden Tag. Mindestens acht Stunden.
Mai
Zwischenzeitlich war der Freund mal ein paar Tage aus der Klink raus
gewesen, aber das hat überhaupt nicht funktioniert. Also musste er dann doch
wieder stationär aufgenommen werden.
In der zweiten Hälfte des Mais hat es mich auch nochmal zurück in die
Studienstadt gezogen. Ich war mittlerweile selbst völlig am Ende. Nach meiner
Notaufnahme – Zeit war ich seit wenigen Tagen auf einer neuen, peripheren
Station, war dort noch völlig überfordert. Zwar waren die Patienten da im
Normalfall nicht todkrank, aber faktisch ohne Oberarzt arbeiten zu müssen nach
knapp einem halben Jahr im Job, war eine Herausforderung für sich. Ich wusste,
dass mir die ersten Dienste im Rücken hingen, ich arbeitete mittlerweile in
einem anderen Gebäude als die potentielle Bezugsperson und habe nebenbei
versucht täglich für den Freund da zu sein. Und von dieser ganzen Tragödie um
den Freund wusste bis dahin niemand etwas.
Wenn ich heute nach viel Reflektion drüber nachdenke: „Er war halt
nicht der Vorzeigeschwiegersohn“, fasste die potentielle Bezugsperson letztens
zusammen. Nein, war er nicht. Ich hatte massive Angst vor diesem Stempel einer
„Psycho – Freundschaft“, dass man mit so etwas ja wohl rechnen müsse, dass ich
da auf verlorenen Posten kämpfe, dass ich mir doch lieber mal einen
Assistenzarzt suchen soll. Ganz unbegründet war das alles nicht, wie wir im
Verlauf des Sommers noch sehen sollten. Aber dadurch wusste niemand, was ich im
Hintergrund neben den schnellen Wechseln im Job und der Überforderungssituation
dort, sonst noch alles treibe – nicht mal die potentielle Bezugsperson oder der
ehemalige Herr Kliniktherapeut.
Mitte Mai habe ich auch den Herrn Kliniktherapeuten sogar nochmal
gesehen. Meine stille Hoffnung war gewesen, dass die mich da einfach in der Klinik aufnehmen,
erstmal raus aus dem Alltag, weil ich nicht mehr wusste, wie das alles gehen
soll, aber das haben sie nicht getan. Auch der sehr geschätzte Herr Psychiater
konnte in der Situation nicht helfen.
Tags darauf saß ich mit einer Freundin in der Altstadt am Fluss. Es
war ein recht warmer Tag gewesen, aber mir war von der ganzen Erschöpfung ganz
kalt. Es sollte für dieses Jahr mein letzter Besuch am Fluss sein. Und wer
weiß, wann ich da wieder hingehen kann, in die Altstadt, in der der Freund und
ich über die Jahre in so vielen Cafés gesessen haben.
Damals waren der ehemalige Herr Kliniktherapeut und ich noch ein Team - warten auf ihn in der Tagesklinik |
Das letzte Mal in der Altstadt... - nach der Katastrophe konnte ich dort bis heute nicht mehr hin |
Das Ende des Besuchs beinhaltete auch den kleinen Disput, der am Ende
zu einem Riesending geworden ist, den ich mir nie verzeihen werde. Normalweise
hatte der Freund in der Studienstadt die erste Priorität. War der Erste, der
anmelden durfte, wann er mich sehen wollte. Nur hatte er dieses Mal verlauten
lassen, dass er nicht möchte, dass ich ihn in dieser Verfassung sehe. Ich habe
ihn versucht zu überzeugen, dass mir das nichts ausmacht und mich die Monate
selbst müde gemacht haben. Aber er wollte nicht. Und ich dachte, dass ich es
dann respektiere – das muss man auch können.
Kurz bevor ich wieder zurück musste, hat er sich doch umentschieden.
Aber da habe ich es nicht mehr rein packen können in den Tag. Ihm war das
plötzlich so wichtig, dass er gesagt hat, dass er dann eben in die Studienstadt
zum Hauptbahnhof kommt, damit wir uns wenigstens noch am Zug sehen. Allerdings
hatte ich dieses eine Mal eine Zugverbindung über eine etwas kleinere
Nachbarstadt gewählt, weil das einfach preislich günstiger war. Also ging das
auch nicht. Ich werde mir das nie verzeihen. Niemals.
Wenn ich heute – im Zug der Jahresreflektion nochmal mein
Reisetagebuch vom Mai durchlese – dann klingt es so grausam, dass man von Glück
reden kann, dass ich das überlebt habe. Der Freund und ich – wir waren beide zu
dem Zeitpunkt völlig am Ende. Wir konnten nicht so füreinander da sein, wie wir
es gebraucht haben. Und wussten nicht, dass unsere Tage, die wir noch gemeinsam
auf der Erde verweilen, gezählt waren. Dass wir in die unumkehrbare Katastrophe
laufen. Wir konnten uns beide immer gegenseitig aufbauen; wenn einer nicht mehr konnte, war der andere die Schulter zum Anlehnen. Aber wir haben nie bedacht was passiert, wenn wir mal beide gleichzeitig nicht mehr können.
"Ich steh seit einer Stunde schon am Gleis. Die Hände sind am Kaffee eingeeist." - Revolverheld. Und das... - das waren so sehr wir. Auf den Bahnhöfen, an denen Abschied und Begegnung so nah waren. |
Übergang Mai zum Juni.
Was ich in der Zeit gemacht habe, weiß ich nicht mehr, ehrlich gesagt.
Ich wusste, dass es dem Freund schlecht geht. Aber dass das passiert,
war graue Statistik. Letztes Telefonat zwischen uns. Im Kurpark. Ich auf der
Bank. Blick aufs Wasser. Sonne. Der Blick auf den Teich vor mir war etwas ungewöhnlich, weil ich auf
dieser Bank sonst nicht saß. Da fiel dieser Satz in dem Telefonat, der drei
Stunden Diskussion nach sich zog. Den ich Monate später begleitet von vielen
Tränen im Büro des Oberarztes das erste Mal laut aussprechen würde. Der Freund
hat mir versprochen, dass er sich meldet. Dass
er sich nichts antut. Und ich… - habe ihm geglaubt.
Es gibt tatsächlich ein Foto während unseres letzten Telefonats. Da saß ich mal auf einer anderen Bank im Kurpark; demzufolge eine andere Perspektive auf den Teich und die Weide |
Ich weiß noch, dass ich mit dem Handy in der Hand Abende lang die
Wohnung auf und ab gelaufen bin. Ihn alle 10 Minuten versucht habe anzurufen,
manchmal 20 Mal am Tag. Dass mich die Mailbox wahnsinnig gemacht hat. „Hi ich
bin gerade unterwegs…“ So ging es los. Ich kann es jetzt noch mitreden. Als ob
das etwas geändert hätte; die zehn Minuten zwischen den Anrufen.
Ich wusste nicht, wo ich dieses Thema ansprechen kann. Immerhin wusste
bis dato niemand etwas von einem Freund und erst recht keiner davon, dass wir
so bald zusammen ziehen wollten. Irgendetwas stimmte da nicht. Und tief im Inneren
wusste ich, was passiert war. Ich hatte so sehr Angst, dass ich mit unter
gehe, wenn das eines Tages offiziell wird.
Eigentlich war es schon nach dem letzten Kontakt mit dem Freund, dass
die potentielle Bezugsperson mir erklärt hat, dass sie nicht so für mich da
sein kann, wie ich das brauche. Da konnte ich jetzt nicht damit um die Ecke
kommen, dass ich einen Freund vermisse.
Der Herr Therapeut hatte nie viel Zeit und mit ihm musste ich schon
die Geschichte mit der potentiellen Bezugsperson verarbeiten, der die Idee war, nochmal ein bisschen von diesem Familien - Flair nachzuholen, das in meiner Familie auf so grausame Weise unter gegangen war. Abgesehen davon
hat der Freund ja mal in der Psychiatrie in dem Haus gearbeitet. Und ich wollte
mich irgendwie noch nicht auf dieses dünne Eis und in die moralische Frage
begeben, ob ich mit ihm über das Verschwinden eines Menschen reden kann, den er
vom Sehen her vielleicht kennt, aber einige seiner Kollegen auf jeden Fall sehr
viel besser. Und was hätte ich sagen sollen? Wie hätte ich mein Versagen erklären sollen? Und vielleicht lebte er ja doch noch und hatte nach dem Streit nur keine Lust auf mich?
Es gab schließlich nichts Offzielles. Wie soll man Menschen eine seit mehr als fünf Jahren währende Beziehung mal so eben schnell erklären - wo doch auch die Menschen in meinem näheren Umfeld glaubten, mein Privatleben zu kennen? Ich wusste es nicht. Habe still gehofft, auf ein Wunder.
An eine Situation kann ich mich noch erinnern aus diesem Monat. Ich
habe gerade eine Lumbalpunktion bei einem Epilepsie – Patienten gemacht, als
mich der dienstplanverantwortliche Oberarzt angerufen hat. „Mondkind, Du musst
ab August erste Dienste machen; ich setze Dich in den Verteiler, wenn ich den
Plan für den August freigebe.“
Gefühlt war das mein Todesurteil. Diese krasse, im Nachhinein völlig
überzogene Angst, die ich seit Jahren, seit Zeiten des Studiums vor dem ersten
Dienst aufgebaut hatte, explodierte. Wir hatten doch Pläne. Der Freund und ich.
Aber so würde es nichts werden. Naheliegende Lösungen fielen mir nicht ein. Das war, als sei
ich mit einem Magneten mit dieser Mauer verbunden, auf die ich da zurasen und
an der ich zerschellen würde. Da war die Hoffnung, dass man irgendwie diese
Mauer sprengen kann. Aber ich wusste nicht wie. Und ganz gelegentlich habe ich
mich wirklich gefragt, was der Freund ohne mich tun wird, nicht wissend, dass ich ihn nicht mehr bedenken muss. In dieser Zeit gab es für mich kein Jahresende mehr. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit.
An den Rest des Monats habe ich keine Erinnerungen mehr. Vermutlich habe ich versucht mit einem völlig überlasteten Hirn Epilepsie zu lernen. Aber ich habe einfach keine Erinnerungen mehr.
Juli.
Der dritte Juli. Der meine
eigene Zeitrechnung in den Stillstand gebracht hat. Dieses Ereignis, das dafür
gesorgt hat, dass die Lücke zwischen meinem eigenen Stillstand und der sich
weiter drehenden Welt jeden Tag ein Stück größer und ein Stück unerträglicher
wird.
Morgens kurz nach sechs. Unbekannte Nummer auf meinem Handy. Ich
wusste es. Ich wusste, dass es um ihn geht. Dass sich jetzt entscheidet, ob ich
das tragen kann, oder nicht. Der Freund ist tot. Er kommt nicht wieder. Alles was jetzt noch offen ist, wird so bleiben bis ans Ende meiner Zeit.
Und ich wusste, dass ich auf der Stelle zusammen klappe, wenn ich
nicht versuche, mich auf der Arbeit abzulenken.
3. Juli 2020. Der Tag, der alles für immer verändern sollte. |
Es war ein Freitag. Frühbesprechung.
Im Innen war es mehr Funktioniermodus, als nach Außen hin sichtbar war.
Ich habe über Rückenschmerzen – Patienten und Epilepsie geredet, als ich nach
spannenden Patientenfällen gefragt wurde. Irgendetwas aus dem Repertoire
schöpfen. Auch wenn ich mir gar nicht sicher war, ob ich in dieser Woche
überhaupt einen Epilepsie – Patienten gehabt habe.
„Mondkind, ich sitze unten in meinem Büro“, war am Ende des Tages die
Ansage von meinem Epilepsie – Oberarzt, nachdem er mich mehrfach gefragt hatte,
ob ich darüber reden will, was mich offensichtlich so unter Schock stellt. Ich
weiß noch genau, wie ich leise angeklopft habe, den Kopf vorsichtig zur
Tür herein geschoben habe. Er war noch mit Telefonieren beschäftigt, hat mir
mit einer Handbewegung gezeigt, dass ich mich schon mal auf den Stuhl neben ihm
setzen soll.
Es hat ewig gedauert, bis ich es sagen konnte. „Mein bester Freund ist gestorben…“ „Wie ist er gestorbenen Mondkind?“, war die nächste Frage. „Er hat sich das Leben genommen…“, war das Einzige, das ich nach langer Zeit sagen konnte. „Nein, Du hättest nicht arbeiten kommen sollen…“, war der erste Kommentar, bevor er sich nach hinten gegen die Lehne seines Stuhls fallen ließ und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hat. „Kannst Du erstmal zu Deiner Familie Mondkind?“, war die Frage. „Nein“, habe ich entgegnet. „Ihr habt kein gutes Verhältnis?“, war die Schlussfolgerung meines Gegenübers. Ich habe den Kopf geschüttelt. „Dann sind Freunde natürlich umso wichtiger“, hat er erklärt, ehe ich einen halbstündigen Vortrag über schwer depressive Menschen gehört habe.
Für alles was danach in den nächsten Tagen passiert ist, waren diese
wenigen Sätze die Wichtigsten, die gesprochen wurden. Der Epilepsie – Oberarzt
und ich, wir kamen schon seit 2018 sehr gut miteinander zurecht, kannten unser
jeweiliges Privatleben bis dahin aber kaum.
Er hat das gesehen, was da gerade zählte: Die Mondkind, die ihren
Freund auf ganz tragische Weise verloren hat. Und so wurde das in den nächsten
Tagen auch dem Chef kommuniziert. Die potentielle Bezugsperson hatte Urlaub und
konnte sich nicht einmischen – rückblickend betrachtet wäre das vermutlich kaum
hilfreich gewesen.
In den nächsten Tagen habe ich gelernt, wie wertvoll ein
funktionierendes Helfersystem sein kann. Der Epilepsie – Oberarzt hat alles mit
dem Job geregelt. Das Einzige das ich tun musste war, nicht mehr zur Arbeit zu
kommen. Eine andere Kollegin hat eine befreundete Hausärztin gefragt, ob sie
mich krankschreiben und mal kurz mit mir über das Erlebte sprechen kann – also
war ich drei Tage später mit dem Zug in den Nachbarort unterwegs, um mir die
erste Krankmeldung meines Lebens abzuholen. Und der ehemalige Herr Kliniktherapeut
wusste auch Bescheid, hat mich zwischendurch mal angerufen, gefragt, wie weit
ich so bin und hat mich durch halb Deutschland zu sich gelotst.
Es war ein ganz komisches Gefühl. Ich war das nicht gewohnt, dass man
sich um mich sorgt. Aber Niemand wollte, dass ich irgendwo alleine war und
solange das noch so war, hatte ich sehr fürsorgliche Mitmenschen um mich herum.
Psychiatrie. Dass ich da so schnell landen könnte, hatte ich ein paar
Tage vorher nun doch nicht auf dem Schirm, auch wenn das immer wieder
Diskussionsgegenstand war, weil mir das Jahr bis zu diesem Zeitpunkt immer mehr
Kraft geraubt hat. Ich kann
mich noch genau an den Moment erinnern, in dem der ehemalige Herr
Kliniktherapeut mich rüber zur Aufnahme gebracht hat. Blaue Schuhe, lila T –
shirt. Schneller Schritt. Wenige Worte.
„Ich glaube,
ich bin die stabilste therapeutische Beziehung, die Frau Mondkind je hatte“,
hat er dem aufnehmenden Arzt erklärt. Wow… - das ist ja mal ein Statement,
dachte ich mir so. Und hoffte still, dass er sich dann auch der Verantwortung
bewusst ist.
Geschützte Station. Ohne den besten Freund. Mit der Frage, ob ich den Job behalten kann, ob ich jetzt endgültig auch noch die potentielle Bezugsperson verliere, meine Wohnung, all die Unabhängigkeiten, die ich mir in Jahren mühevoller Kleinarbeit aufgebaut hatte. Aber auch: Sicherheit. Beim ersten Mal auf dieser Station war ich auch irgendwie froh, vor dem Leben abgeschirmt zu sein. Alles was wichtig war, bewegte sich auf Stationsebene. Was draußen in der Welt passierte, war überfordernd und unerheblich.
Hilfreich war ein Gespräch mit dem Ergotherapeuten. Was ich damals
erzählt habe, war noch weit von der Wahrheit entfernt, weil ich vor lauter
Schuld- und Schamgefühlen nicht ehrlich sein konnte, aber er hat dem Freund
überhaupt Raum gegeben. Der erste halb – kontrollierte Zusammenbruch, der uns
beide glaube ich etwas überfordert hat. Danach habe ich erstmal drei Stunden
geschlafen vor Erschöpfung, aber diese Phasen an der Grenze des Aushaltbaren,
die Präsenz der Freundes, der Raum um über ihn zu reden – das war das, was ich
brauchte.
Dazwischen habe ich immer mal wieder ganz kurz die Nase ins Außen
gesteckt. Ein Telefonat mit dem Seelsorger, Gespräche mit meinem damaligen
Epilepsie – Oberarzt zu dem ich allein deswegen ehrlich sein konnte, weil klar
war, dass er das Haus in wenigen Tagen verlässt. Seine Mischung aus
aufrichtiger Anteilnahme und enger Führung mit Sätzen wie „Mondkind, wir können
Dir hier alle nicht helfen. Deswegen musst Du dort bleiben, wo Du jetzt bist
und Dich auf die Behandler einlassen“, waren Gold wert. Dann gab es noch ein
weniger schönes Telefonat mit der potentiellen Bezugsperson, die nicht damit
einverstanden war, dass ich einfach nur wieder nach Hause wollte – aber die,
wie ich über drei Ecken erfahren habe und wie er das später auch mal selbst
gesagt hat – eigentlich nur in großer Sorge war.
Verlegung. Auf die Offene. Auf die Station, auf die ich wollte. Wo
auch der ehemalige Herr Kliniktherapeut arbeitet. Er hat mal irgendwann
erzählt, dass er im Bereich Suizidalität forscht – da muss ich doch richtig bei
ihm sein, habe ich mir so gedacht. All die Fragen, die kann er nicht zum ersten
Mal hören. Und dann ging es ja auch immer noch ein bisschen um meine eigene
Suizidalität.
Der erste Morgen auf der offenen Station. Einzelzimmer. Luxus, nachdem
es auf der geschützten Station wie im Taubenschlag zuging. Samstag. Stille auf
der Station. Mein erster Blick fiel aus dem Fenster in die Baumkronen vor dem
Haus. Tränen. Warum kann ich das noch sehen und Du nicht? Was siehst Du jetzt?
Möchte ich Baumkronen ohne Dich sehen? Warum lebe ich, warum bist Du tot? Und
lebe ich nur, weil Du tot bist? Und gleichzeitig habe ich ganz viel Dankbarkeit
gespürt, dass ich auf dieser Station sein durfte, dass die Seele vielleicht ein
bisschen heilen darf. Dass ich getragen werde, offene Ohren finden werde, dass
ich mich nach all dem Chaos der Monate davor ein bisschen ausruhen darf.
Ich werde nicht vergessen, wie ich da in meinem Bett lag, die Decke
bis zur Nasenspitze und einfach nur geweint habe in einer Mischung aus
Dankbarkeit, Erleichterung, unendlicher Traurigkeit und Schuldgefühlen. Und
irgendwann mein Herz gespürt habe, das ganz ruhig im Takt schlug. Wir waren
sicher, wir waren angekommen, es würde besser werden. War eine ganz tiefe
Grundüberzeugung.
Wenige Tage währendes Glück: Einzelzimmer |
Therapeuten - Tee am Start... |
Die tiefe Hoffnung und Überzeugung, dass das wahr ist. Denn jetzt brauchte ich ihn wirklich. Bis heute liegt dieser Zettel immer in Griffweite. |
Es war noch vor meinem ersten Einzeltermin beim ehemaligen Herrn
Kliniktherapeuten, dass mich die Oberarztvisite aus dem Konzept gebracht hat.
Bekanntgabe des Entlasstermins an Tag vier auf dieser Station. Ich weiß nicht,
ob jemals wer so früh dran war damit. Man konnte doch noch nicht wissen, wie
sich das alles entwickelt. Von einer Sekunde auf die andere habe ich da wieder
so viel Druck gespürt, irgendwie hatte es auch den Beigeschmack, da im Grunde
unterwünscht zu sein. In wenigen Wochen hatte die Mondkind – unabhängig davon,
was ihr passiert war – wieder zusammengesetzt und funktionstüchtig zu sein.
Ich habe im Anschluss fast zwei Wochen innerlich und äußerlich gegen
den Entlasstermin gekämpft – oder zumindest dagegen, dass er so sehr in Stein
gemeißelt war. Genützt hat das am Ende nichts – außer, dass alle irgendwann
frustriert davon waren und ich als Patientin eindeutig am kürzeren Hebel saß
und nur die Chance hatte, mich damit anzufreunden.
Das Nächste, um das ich kämpfen musste war darum, mit meiner
Geschichte gehört zu werden. Es wurde über weite Strecken so getan und
kommuniziert, als sei der Tod des Freundes ein Randgeschehen. Es kam mir vor,
als müsste ich mich an jeder Ecke dafür rechtfertigen, traurig, geschockt und
bestürzt darüber zu sein.
Alle Hoffnungen lagen auf Herrn Therapeuten. Wir brauchten eine Weile
zum warm werden. „Wir kennen uns ja jetzt auch schon eine Weile. Ich hätte da
eine Bitte: Vertrauen Sie mir…“ Nichts leichter als das Herr Therapeut, aber
würden Sie mir im Umkehrschluss bitte zuhören?
Alleine auf "unseren" alten Wegen spazieren gehen. Habe ich - wenn ich die Kraft hatte - sehr geliebt in der Klinikzeit |
Er war mein winziges Stückchen „heile Welt“, mein Beweis, dass
„typisch Mondkind“ funktionieren kann, dass ich irgendwann das Leben leben darf,
das ich mir gewünscht habe. Er hatte einen maßgeblichen Teil daran, dass die
Dinge über die Jahre so geschehen sind, wie sie passiert sind. Er war die
Antwort im Hintergrund auf die Frage des Seelsorgers: „Woher nehmen Sie Ihre
Kraft?“
Und plötzlich war all das verschwunden. Das Ausmaß dieses Verlustes zu
begreifen, die Endgültigkeit und die Konsequenzen hat Wochen gedauert; dauert
bis heute an und selbst jetzt finden sich immer wieder neue Aspekte, die mich
jedes Mal aufs Neue erschlagen.
Ein Garant für gute Momente: Die Stationskatze Tavor. Mit viel Glück und Geduld hat sie sich auf dem Schoss eingegraben. Ein schlagendes Herz unter der Hand und ganz viel Liebe. |
Und dann kam die Woche, die alles zum Einstürzen brachte – gerade nachdem ich das Gefühl hatte, dass ich mich da doch soweit es eben möglich war – mit der Situation angefreundet hatte. Trauerarbeit mit dem Seelsorger, für das Jobproblem den sehr geschätzten Herrn Psychiater, der meine Situation eher objektiv beurteilen konnte als Menschen, die den Ort in der Ferne von vornherein nur schlecht finden. Und Innere – Kind – Arbeit mit dem ehemaligen Kliniktherapeuten.
Der Erste war der Seelsorger, der angekündigt hat, dass er ab jetzt
einen Monat im Urlaub ist. Aber befunden hat, dass ich ja in der Klinik erstmal
sicher bin. Das war grundsätzlich keine falsche Einschätzung, aber wenn
Trauerarbeit nur mit dem Seelsorger möglich war, ein wichtiges Ventil, das da
versiegte. Ich könnte versuchen das Thema wieder auf das Klinik – Team
umzulenken, aber dass das funktioniert, war nahezu aussichtslos.
Dann kam das Geschreibsel – Verbot in der Klinik. Und da wurde mir
ganz eindeutig gezeigt, dass die Mondkind, was Machtkämpfe in der Klinik
angeht, am kürzeren Hebel sitzt. Ich weiß auch bis heute ehrlich gesagt nicht,
wie das Geschreibsel an die Oberärztin gekommen ist, weil ich es eigentlich nur
unter dem Versprechen raus gerückt habe, es nicht weiter zu geben. Es waren
immer sensible Worte und für den Therapieprozess war das mehr als hilfreich –
aber die waren nicht für alle Augen der Klinik bestimmt. Ich habe so getan, als
würde mir das nicht viel ausmachen, um die Verletzbarkeit meiner Person nicht
weiter zu erhöhen, aber eigentlich wusste ich in dem Moment: Der
Klinikaufenthalt ist gelaufen. Wenn man mir mein Sprachrohr nimmt, weil man
das, was eine Mondkind zu sagen hat, auch offensichtlich nicht hören will und
sich hinter schwammigen Begründungen versteckt wie: „Wir glauben, dass das ein
Bewältigungsmechanismus ist und das wollen wir unterbinden“, dann kann es
nichts mehr werden. Dann können wir weiter über oberflächlichen Kram reden,
über den ich reden kann, aber nicht mehr über das, was die Mondkind – Seele
berührt. Weil ich nun mal leider nicht die Fähigkeit habe, das ad hoc in Worte
zu packen.
Und dann hat die potentielle Bezugsperson die erste Mail geschickt,
die mich völlig raus gehauen hat. Ich weiß es noch genau, wie ich nachts im
Badezimmer saß, weil ich mal wieder nicht schlafen konnte und in die Mails
geschaut habe – er hat häufiger mal nachts geschrieben. Wie ich fünf Mal auf
den Absender geschaut habe, mich mit dem Handy auf den Boden gesetzt habe und
das Gefühl hatte, dass die letzte stehende Säule bricht. Auch er wählt seine
Worte immer mit Bedacht und was ich da gelesen habe war auch kein Führen am
engen Zügel. Das war einfach nur unangebracht und verletzend.
All das ist innerhalb von wenigen Tagen passiert; maximal fünf oder
sechs Tage waren es.
Und danach bin ich wochenlang in einen Zustand gerutscht, den ich über
so lange Zeit noch nie von mir kannte: Schweigen.
Ich konnte einfach nicht mehr. Ich konnte nicht alleine sein mit all
dem Schmerz, gegen die Mauern kämpfen, die da vor meine Nase gestellt wurden
unter dem Vorwand das Beste für mich zu wollen. Es wurde so getan, als sei ich
absolut unmündig und gestört, nur weil ich in die Patientenrolle gerutscht war,
nur weil mir der Freund gestorben ist und ich nichts dagegen machen konnte.
Alles was ich gebraucht hätte wären offene Ohren gewesen und alles was man mir
gegeben hat, war Taubheit auf beiden Ohren.
Über Wochen musste mein Gegenüber ständig nachfragen, was ich denn
gesagt hatte. Ich saß manchmal mit den anderen auf der Dachterrasse, aber
konnte nichts mehr sagen. In der Ergotherapie hat mich die Lautstärke nach fünf
Minuten überfordert. Gesprochen habe ich mit dem Personal nur noch, wenn ich
musste. Ich konnte nicht mehr. Ich war einfach zu müde.
Die Erklärungsversuche bei der potentiellen Bezugsperson verliefen im
Nichts, ich habe immer wieder eins auf die Mütze bekommen bis ich mit vielen
Tränen eine Mail geschrieben habe, die eine Grenze zwischen uns gesetzt hat.
Für den ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten habe ich das Geschreibsel Wort für
Wort auswendig gelernt, um es in der Therapiestunde vortragen zu können. Ging
es doch auch so oft um die Wortwahl, um das Ungesagte zwischen den Zeilen. Aber
er konnte mich leicht aus dem Konzept bringen und deshalb hatte das auch nicht
wirklich Sinn.
Und alles was ich zu dem Zeitpunkt gebraucht hätte, wäre nur ein feste
Umarmung und ein „wir lassen Dich nicht alleine Mondkind“ gewesen.
Irgendwann fielen sowohl die Stationsärztin, als auch die Oberärztin
aus.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie der vertretende Stationsarzt
vor mir saß und für den vertretenden Oberarzt von seinem Übergabezettel
vorgelesen hat: „Aufnahme aufgrund einer Überforderungssituation auf der
Arbeit.“ Nicht ganz falsch, aber am aktuellen Thema vorbei. Was mich denn im
Moment am meisten belaste, wollte der Oberarzt wissen. „Der Tod des Freundes“,
habe ich entgegnet. Woraufhin die beiden sich ratlos anschauten und im System
scrollten.
Der vertretende Stationsarzt war ein bisschen wie mein Epilepsie –
Oberarzt. Er hatte den Vorteil, mich vorher nicht zu kennen. Deshalb konnte er
eher die Ereignisse des Sommers sehen, die mich so sehr bewegt haben.
Diese beiden letzten Wochen vor der Entlasswoche waren in all dem
Chaos ein ganz kleines bisschen Frieden und Hoffnung. Ich kann mich an einen
Nachmittag erinnern, an dem ich bei dem vertretenden Stationsarzt im Büro saß
und er mich aufgefordert hat: „Frau Mondkind, erzählen Sie mal ein bisschen
über den Freund. Über gemeinsame Erlebnisse, Gespräche…“ Es war eines der
schwierigsten Gespräche dort, die ich hatte. Aber auch eines der Tragendsten.
„Frau Mondkind – wir bringen Sie da durch. Aber Sie brauchen einfach
noch ein bisschen Zeit…“, war die Zusammenfassung am Ende seinerseits. Dieser
Satz trägt so viel emotionale Wärme, dass ich darüber stundenlang weinen
musste. Und ich hatte den Auftrag für das Wochenende ein bisschen nachzuspüren
in unseren gemeinsamen guten Momenten, die wir hatten.
Das war am Freitag vor der Entlassung. Da keimte in mir doch nochmal
ein bisschen Hoffnung auf. Wenn das Ärzteteam in der Woche danach dasselbe sein
würde, hatte ich eine Chance, dass die mich nicht einfach in dem Zustand nach
Hause schicken.
Die Woche danach waren „unsere“ Oberärztin und Stationsärztin wieder
da. Da war mir im Prinzip schon klar, dass ich keine Chance mehr hatte.
Holprige letzte Gespräche. Mit dem Herrn Kliniktherapeuten. Es war ein Drehen
umeinander. Und am liebsten hätte ich gesagt: „Ihr könnt mich so nicht gehen
lassen. Das ist einfach nicht Euer Ernst…“
Am Tag vor der Entlassung gab es nochmal ein Gespräch mit der
Oberärztin. Die das überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, dass ich am Tag
darauf gehen sollte. Sie dachte, wir hätten noch eine Woche. Aber wir haben uns
geeinigt, das durchzuziehen. Weil es auch für die organisatorisch nicht anders
ging und ich nicht auf eine andere Station wollte.
Und dann kam jener Donnerstag. Ich habe nur noch auf den Brief und den
Ambulanztermin für das Rezept gewartet. Die Koffer standen im Pflegezimmer,
mein Bett war schon von der Nachfolgerin besetzt. „Frau Mondkind kommen Sie
nochmal bitte mit“, hat die PJlerin, die mich nochmal eingesammelt hat, mich
aufgefordert. Und selbst wenn ich das heute – Monate danach – schreibe, läuft
es mir noch eiskalt den Rücken herunter.
Irgendwie befand man das mit der Entlassung dann doch nicht mehr für
so gut. War aber wohl auch darauf vorbereitet, dass ich mich nicht auf eine
andere Station verlegen lasse. Plötzlich wurde mir unterstellt, dass
Suizidalität ein völlig neues Thema sei, obwohl ich damit wochenlang gegen
Wände geredet habe. Ich habe in den 24 Stunden davor nichts Neues mehr gesagt
und trotzdem war jetzt der Punkt, an dem man der Meinung war, mich gegen meinen
Willen auf die geschützte Station verlegen zu müssen, obwohl das wochenlang
keinen interessiert hatte. Ich habe versucht mich zu erklären, rational zu
begründen, aber das brachte alles nichts. Rückblickend betrachtet auch deswegen
nicht, weil die das überhaupt nicht wollten. Es ging in dem Moment nicht (mehr)
um mich – es ging um verwaltungstechnische und rechtliche Abläufe. Da konnte
ich sagen was ich wollte, das war nicht der Gesprächsgegenstand. Nach acht
Wochen gegenüber den Menschen, die einen einst gebeten haben zu vertrauen, so
sehr ausgeliefert zu sein, so sehr zu spüren, dass sie – wenn sie wollen – die
komplette Macht über mich haben – war das zweite Trauma nach dem ersten Trauma.
Die Psychiatrie, die trotz allem bis zum Ende ein Ort von Sicherheit gewesen
war, hat ihr Bild für mich innerhalb von Sekunden gedreht.
Ich hatte keine Chance. Entweder freiwillig auf die Geschlossene oder
mit Psych KG. Aber Geschlossene wird es auf jeden Fall, auf welche Art auch
immer. Die Oberärztin wusste schon, warum sie auf meine Bitte hin nicht mehr
erschienen ist – solche Entscheidungen sind nämlich Oberarzt – Entscheidungen.
Das war alles nicht haltbar, was sie da gemacht haben.
Wie man acht Wochen Therapie innerhalb weniger Stunden zunichte macht... |
Geschlossene. Das Mondkind – Hirn musste funktionieren. Von Null auf
Hundert. Innerhalb von Sekunden. Aufrecht gehen, mit fester Sprache sprechen.
Begründen. Es war der Tag genau zwei Monate nachdem der Freund gestorben war –
was erwartet man, wie es mir geht? Jemandem an einem Tag wie diesem nicht mal
zuzugestehen, dass das Hirn etwas überfordert sein darf, ist die größte
Ignoranz dem Thema gegenüber, die man an den Tag legen konnte.
Während dieses Gesprächs mit dem Stationsarzt war es, als würde ich
mir selbst zusehen. Als würden die Kinder am Rand des Raums stehen und mit
offenem Mund zuschauen, wie die erwachsene Mondkind das Ruder übernimmt und uns
alle aus dem Matsch zieht. Die Kinder hatten es offensichtlich vergeigt,
„typisch Mondkind“ war gerade nicht mehr angesagt – das hier war die Realität
und da brauchte es keine emotional überforderten und bedürftigen Kinder,
sondern Jemanden, der sich gegenüber der Welt behaupten kann.
Ich weiß, wie es läuft im Krankenhaus. Keine geschlossene Station
nimmt Jemanden gegen den Willen, wenn es keine Begründung gibt, die zwingt. In
meinem Fall war das – und ich bin dem Stationsarzt bis heute dankbar, dass ich
wenigstens erfahren habe, was die auf meiner Station sich da für gequirlten
Müll ausgedacht haben – dass ich wohl irgendwelche Tabletten gesammelt hätte
während des Aufenthaltes. Wie auch immer das gehen soll, wenn man die Tabletten
beim Personal einnehmen muss. Abgesehen davon dürfte das mit den Medikamenten,
die ich da einnehmen musste, schwer sein sich umzubringen – das sollte eine
Medizinerin wissen. „Es tut mir auf einer persönlichen Ebene sehr leid für Sie,
weil ich Sie auch gut verstehen kann…“, hat der Stationsarzt eingeleitet um mir
zu sagen, dass ich mal zumindest noch eine Nacht bleiben muss. Auf fachlicher
Ebene konnten die keine andere Entscheidung treffen; das verstehe ich heute
schon.
Das Abendessen um 18 Uhr habe ich gerade noch geschafft, danach war
ich so erschöpft, dass ich den Kopf nicht mehr aus dem Kissen heben konnte. Ich
habe nur gehofft, dass keiner vom Personal merkt, wie fertig ich davon bin,
plötzlich wieder stark sein zu müssen.
Am nächsten Tag am späten Nachmittag durfte ich gehen. Gegen
ärztlichen Rat. Komisches Gefühl, obwohl ich verstehe, dass der sehr geschätzte
Herr Psychiater, der in dieser Woche ausnahmsweise Oberarzt dieser Station war,
die Verantwortung in dieser komischen Geschichte auch nicht haben wollte. Ich
habe sehr gehofft, ihn nochmal sprechen zu können, aber er hatte leider keine
Zeit.
Mit den Koffern das Klinikgelände zu verlassen, hat sich ein bisschen
wie eine Flucht angefühlt. Und, als würde ich eine ganz große Säule verlieren.
Die Klinik war für mich lange ein Ort von Sicherheit und ein Ort, an den der
Freund und ich auch viele gemeinsame Erinnerungen hatten. Nun war auch das
Gelände zu einem Ort des Schreckens geworden.
Wenn ich die „Highlights“ dieses Klinikaufenthaltes zusammen fassen soll, komme ich da auf wenig. Die Aufnahme mit dem ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten, wo er einfach an meiner Seite war und ich das nicht alleine machen musste. Zwei Gespräche mit dem Ergotherapeuten auf der geschützten Station. Vor dem Klavier des Herrn Musiktherapeuten liegen – ich hatte das Gefühl, ich sterbe in diesem Schmerz und gleichzeitig hat mich die Musik so wunderbar umarmt. Der ehemalige Herr Kliniktherapeut, der nach einer heftigen Stunde am Morgen am Nachmittag nochmal hoch kam, um nach mir zu schauen – da war einmal dieses Gefühl, gesehen zu werden. Und der vertretende Stationsarzt, der eine zitternde, weinende Mondkind ertragen hat, sein Ohr und seine Zeit kurz mir und dem Schmerz geschenkt hat und sich Geschichten angehört hat von einem Menschen, den er nicht kannte.
Auch einer der guten Momente... - diesen Blumenstrauß hat eine ehemalige Mitpatientin mir mitgebracht |
Heute – mit etwas Abstand – glaube ich, dass wir da alle so sehr
aneinander gerasselt sind, weil ich noch nicht begriffen hatte, dass mich der
Tod des Freundes nachhaltig verändert hat. In gewisser Hinsicht habe ich mehr
Konturen, habe recht früh danach irgendwelche Spleens entwickelt, die im
Gesamtkontext gar nicht so unnormal sind, aber die ich eben an mir selbst nicht
kannte.
Ich war und bin ein anderer Mensch nach den Ereignissen. Nicht mehr
dieses Puzzleteil, das man kannte. Und kam damit überhaupt nicht zurecht. Heute
glaube ich, man hätte mir auch ein bisschen mehr helfen müssen diesen Menschen
zu akzeptieren, der ich geworden bin. Ich kann doch nicht die Erste sein, die
nach so einem Erlebnis in der Klinik ist. Hätte man nicht vielleicht einen
Erfahrungswert nutzen können, um mir da auch in meinem Erleben zu helfen?
Was ich gesucht habe, war Halt, offene Ohren, Menschen, die mir helfen
dieses Ereignis irgendwie zu integrieren. Was ich bekommen habe, waren Mauern,
Widerstand und taube Ohren. Das konnte nicht passen. Nur konnte ich das damals
noch nicht sehen, weil mich erst viel eigene Reflektion – auch durch die
Beschäftigung mit dem Thema durch Bücher und Dokumentationen dahin gebracht
hat. Ich habe nur mit Unverständnis und Rebellion gegen das Behandlungskonzept
reagiert; ich konnte aber nicht sauber argumentieren, weil ich keine Ahnung hatte,
was da gerade mit mir passiert.
Der Umgang des Umfelds hat mich über lange Zeit absolut schockiert – und tut es eigentlich bis heute. Denn egal ob das Puzzleteil aussieht wie früher oder nicht – klar ist, dass man nach solchen Ereignissen am allermeisten zwischenmenschlichen Halt braucht. Den habe ich so sehr, so verzweifelt gesucht und lange nicht bekommen.
Der ehemalige Herr Kliniktherapeut und ich… - da werde ich noch Monate
dran zu knacken haben. Dieses schematherapeutische Nachbeelterungskonzept – da
sind halt die Kindanteile auch voll drauf angesprungen. Plötzlich war da ein
Mensch, der gesagt hat: „Ich bin für Euch da. Ich unterstütze Euch…“ Das war im
Prinzip ein Satz, auf den die seit Jahren, sicher mehr als ihr halbes Leben
gewartet haben. Ich habe diesem Menschen blind vertraut. So nach dem Motto: Ist
Therapeut, muss ein guter Mensch sein. Dass auch er einfach gehen könnte, dass
er all die Erfahrungen, die ich immer wieder machen musste, wiederholen könnte,
obwohl er um die Fragilität weiß, obwohl er darum weiß, mit wie viel Angst im
Hintergrund die Kindanteile vertrauen – das hätte ich nicht erwartet.
Über ein Jahr, auch zwischen den Aufenthalten, hat er mich begleitet
und plötzlich war er einfach so nicht mehr da. Ich bin ja schon sehr froh, dass
ich nicht wegen des vermeintlich stabilen therapeutischen Systems in der
Studienstadt geblieben bin – erstmal die Doktorarbeit fertig zu machen und
nebenbei eine stabile, therapeutische Bezugsperson zu haben, war ja
zwischenzeitlich – gerade als die potentielle Bezugsperson ihre unmöglichen
Mails geschrieben hat – schon ganz schön verlockend.
Die letzte Mail habe ich irgendwann im November geschrieben. „Ich habe
mir so gedacht, vielleicht darf ich noch ein letztes Mal in die Tasten hauen“,
so ging sie los. Ich habe sie nochmal gelesen, im Zug des Jahresrückblick –
Geschreibsels. Die ist sehr gut geworden. Viel Ehrlichkeit, viel
Selbstreflektion, ein Stück weit Abgrenzung. So, dass er selbst entscheiden
kann, ob er das als Ende auffasst, oder nicht.
Ich glaubte eigentlich – selbst im Zuge des
Jahresrückblickgeschreibsels – dass er das getan hat. Und Ende Dezember kam
dann doch noch eine Mail. Er war wohl selbst schwer beschäftigt, möchte sich
aber im neuen Jahr melden. Na ich bin gespannt. Ich glaube nicht - so sehr ich das auch im Moment bräuchte mit diesem sich immer wieder eindrehenden Hirn durch den Tod des Freundes - dass wir
irgendetwas wie ein Übergangskonzept entwickeln können, bis ich endlich mal
einen neuen Therapeuten habe – ich weiß nicht mal sicher, ob das von meiner
Seite aus nach der Aktion im Sommer noch möglich ist. Werde ich nochmal so
ehrlich zu ihm sein können, wie ich mal war? Und Zeit dafür hat er mit Sicherheit nicht mehr. Allerdings können wir vielleicht
nochmal ein bisschen aufarbeiten, was da im Sommer eigentlich passiert ist,
jetzt wo beide Seiten mehr Abstand haben und mehr reflektieren konnten.
Vielleicht muss ja nicht die Psychiatrie für ewige Zeiten jetzt ein Ort sein,
um den ich einen kilometerweiten Bogen mache. Die hat mir ja auch mal sehr
geholfen; das muss man schon auch zugestehen.
Aber etwas, das ich auch gelernt habe dieses Jahr ist, dass es sicher
sehr weh tut, wenn Menschen einfach gehen – gerade wenn man gehofft hat, dass
die Menschen noch eine Weile bleiben. Wenn man aber über drei Ecken von diesem
Menschen hört, weiß, dass er atmet und lebt, ist das in dem Schmerz über den Verlust
manchmal trotzdem viel wert. Ich wünsche grundsätzlich niemandem, den ich mal
gekannt habe, etwas Schlechtes. Denn das man sich mal so sehr vertraut hat,
hatte zu dem Zeitpunkt immer gute Gründe. Und da es – wie schon so oft gesagt –
keine Garantien im Leben gibt, sind alles was bleibt manchmal Erinnerungen und
das Wissen, dass wir beide noch auf der Erde verweilen, sich unsere Wege eben
nur nicht mehr kreuzen. Und ich hätte bis vor sechs Monaten nicht gedacht, dass
man neben dem Schmerz für diesen Zustand doch auch dankbar sein kann.
Trotz allem irgendwie noch hoch im Kurs in Krisenzeiten: Therapeuten - Tee |
Es war Nacht, als ich zurückkam in den Ort in der Ferne nach der
Entlassung aus der Klinik. Die Tür zu meiner Wohnung aufgeschlossen habe. Mich
erstmal völlig erschöpft auf das Sofa gesetzt habe. Die Post hatten die
Nachbarn auf dem Tresen in der Küche gestapelt. Ansonsten sah die Wohnung
genauso aus, wie ich sie hinterlassen hatte. Knapp 24 Stunden Zeit, bis der
Wecker mich für den ersten Arbeitstag wieder aus dem Bett schmeißen würde.
Und mir ging es kein bisschen besser als ziemlich genau zwei Monate
davor. Die letzten drei Tage hatten alles an Energie gefressen, das ich
vielleicht trotz allem wieder regeneriert hatte.
Endlich... - nach viel Chaos zurück im Ort in der Ferne, in der Heimat |
Alter Arbeitsplatz. „Bitte liegen lassen“ war der Schriftzug, den eine
Kollegin auf Klebezettel an alle möglichen Dinge auf meinem Schreibtisch
geklebt hatte. Ich hatte kaum meine Jacke über die Stuhllehne gehängt, da wurde
ich begrüßt mit: „Mondkind, Du hast heute um 9 Uhr einen Termin beim Chef. Ich
wollte es Dir Freitag noch nicht sagen…“
Der Adrenalinspiegel schon mal wieder kurz vorm Explodieren. Ich habe
nochmal bei der Sekretärin angerufen, um das auch wirklich zu bestätigen – eine
Mail oder einen persönlichen Anruf hatte ich nicht bekommen. „Ja das stimmt.
Und wenn Du zu früh bist, soll ich Dir einen Kaffee anbieten“, hat sie
entgegnet.
Wenige Minuten später trabte ich also rüber in den Neubau ins Büro der
Sekretärin. Wobei das Herz schon schnell genug geschlagen hat und ich das mit
einem Kaffee nicht zum Dekompensieren bringen wollte, weshalb ich den dankend
abgelehnt habe.
Wenig später tauchte der Chef im Büro auf. Dahinter „mein“ Oberarzt,
die potentielle Bezugsperson. Den hatte ich hier so schnell nicht sehen wollen,
nach allem was passiert war. Ganz kurz habe ich mich gefragt, wie wir uns jetzt
begrüßen sollen. Und dann hat er mich einfach in den Arm genommen. Ganz, ganz
komisches Gefühl. Seine legändere „psychiatrische Hängematte“ hängt mir bis
heute in den Ohren, wenn wir uns sehen.
Ich musste kurz mit dem Chef in seinem Büro reden, ehe er beschlossen hat, dass wir
jetzt „meinen Oberarzt“ mit zum Gespräch holen und ihn angerufen hat. „Bitte
nicht…“, habe ich mir nur gedacht. Und dann saß ich da. Mit Chef und leitendem
Oberarzt; ein bisschen unbeholfen. Und kam mir vor wie ein unmündiges Kind,
über dessen Kopf man jetzt vernünftige Entscheidungen fällen muss. Fairerweise
muss man sagen, dass mir angeboten wurde, die periphere Station zu verlassen,
„mein“ Oberarzt wollte das sogar. Aber ich wollte nicht. Zu tief war das
Misstrauen. Lieber Abstand und periphere Station – so schwer es auch war.
Die erste Woche hat man noch schützend die Hand über mich gehalten.
Ich musste hunderte Mails sortieren, durfte während der Arbeitszeit zum
Hausarzt gehen, den der Chef mir besorgt hat (und ohne seine Hilfe hätte ich
hier in der Stadt nie im Leben einen Hausarzt gefunden, den ich bis dahin nicht
hatte). „Mondkind, nicht mehr als acht Patienten“, habe ich von dem dann für
mich zuständigen Oberarzt täglich gehört.
„Mondkind, wir schauen jetzt mit Diensten. Du sagst mir, was Du Dir
zutraust. Und erstmal keine Nächte. Du musst jetzt schlafen nachts…“ Und das
vom dienstplanverantwortlichen Oberarzt – ich war gerührt von so vielen lieben
Worten, von so viel Fürsorge. Damit hatte ich nicht gerechnet – schon mal gar
nicht vom dienstplanverantwortlichen Oberarzt, der schließlich meine geplanten
ersten Dienste ersetzen musste.
Zurück im Medizineralltag... |
Natürlich war das nicht lange haltbar. Wir haben nun mal – wie fast alle Häuser – Personalknappheit. Und wir brauchen Kollegen, die Dienste machen. Schon am zweiten Wochenende habe ich wieder gearbeitet, bald hatte ich wieder doppelt so viele Patienten, wie man haben sollte. Aber zumindest die erste Zeit konnte ich mich immer wieder – wenn ich zu später Stunde noch über die Neuro gefegt bin – erinnern: Mondkind, es war nicht so selbstverständlich, dass Du das so bald wieder tun darfst – ich habe nicht wenige Menschen erlebt, die über ihre dekompensierte Psyche in die Arbeitslosigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit gerutscht sind. Und es ist auch nicht selbstverständlich, dass Du so lieb wieder aufgenommen wirst. Ja, es ist verdammt anstrengend und es macht nicht immer Spaß, aber Du kannst Dich glücklich schätzen.
Therapeutisch bin ich ins Nichts gefallen. Die ambulante Therapeutin
war mutmaßlich deswegen ein bisschen pikiert, weil sie von der ganzen Situation
im Sommer nichts mitbekommen hatte, der Herr Kliniktherapeut war nicht mehr
verfügbar, die Aussagen des Seelsorgers waren wenig hilfreich. Die ehemaligen
Freunde hatten sich rar gemacht – ich war sehr einsam.
Es blieb nur das Büro des Oberarztes. „Mondkind, ich habe jedes Wort
so gemeint, wie ich es geschrieben habe“, musste ich mir zu Beginn anhören. Es
hätte nicht viele Menschen gegeben, die eine zweite Chance bekommen hätten. Für
die ich mich nochmal in die Nesseln gesetzt hätte, bei denen ich mich nochmal
angreifbar gemacht und riskiert hätte, dass man dieses fragile Herz aus Glas,
das schon tausendfach gesprungen war, nochmals auf den Boden schlägt.
Er war eine Ausnahme. Ein Parkspaziergang, in dem ich erstmals von dem
„wir“ mit dem Freund erzählt habe. Von diesem „verbotenen typisch – Mondkind –
Leben“, das ich da hatte und für das ich geglaubt habe, von allen verurteilt zu
werden.
Er hätte mich nicht verurteilt, sagte er. Und – das war eigentlich
wichtiger – dass er das alles nicht gewusst und die Mails niemals so
geschrieben hätte, wenn er darum gewusst hätte. Das reichte einer Mondkind als
Entschuldigung.
Im Herbst hatte ich nochmal ein paar Tage Urlaub und kam dazu, mich um
die Wohnung zu kümmern. Nur irgendwie musste ich auch feststellen, dass sich
viele Gedankenmuster eingeschlichen hatten über die Wochen, die ich weder
bedacht hatte und die auch nicht besonders hilfreich waren.
Das Leben fühlte sich zunehmend dadurch schwerer an, dass ich jeden
Tag mehr Diskrepanz zwischen dem letzten gemeinsamen Stand, den der Freund und
ich hatten und dem Jetzt gespürt habe. In der Klinik war ohnehin alles anders,
aber jetzt wurde es deutlicher.Veränderungen und Vorwärts gehen in diesem "neuen Leben" waren nur unter größtem inneren Widerstand möglich.
Allerdings hatte die Wohnung bislang nicht mal einen Esstisch. „Okay,
wir machen einen Deal…“, habe ich ihm irgendwann abends erklärt. „Ich verändere
die Wohnung und stelle einen Esstisch in das Wohnzimmer und mal endlich
Barhocker an die Bar in der Küche und Du bekommst Deinen Platz auf dem
Esstisch.“
Kurze Zeit später sah es wesentlich wohnlicher aus. Die Kerze neben
dem Bild ist jeden Morgen das erste Licht, das brennt und abends das letzte
Licht, das hier erlischt.
Esstisch, Deko, die Kerze und das Foto. Der neue Mittelpunkt meiner Wohnung |
Überhaupt hatte ich das erste Mal seitdem der Freund gestorben war,
meinen Kopf für mich. Und zum ersten Mal habe ich nicht nur darüber geredet,
sondern mich auch damit beschäftigt. Ich habe mir Bücher zum Thema besorgt,
Dokumentationen und Vorträge geschaut. Das erste Mal das Gefühl gehabt, dass
mein Erleben berechtigt ist. Dass es vielen anderen in meiner Situation genauso
geht. Dass viele die gleichen Fragen stellen, dieselben Antworten suchen, im
selben Schock stehen. Jede Geschichte ist anders und nein, wir waren nicht zehn
Jahre verheiratet und wir hatten keine fünf Kinder, die ich nun alleine groß
ziehen muss, aber er war in der turbulentesten Phase meines jungen Lebens bei
jedem Schritt dabei gewesen, hat mich in allem unterstützt, was ich getan habe,
war die wichtigste Person im privaten Umfeld. Ich habe erstmals ein Gespür
gehabt von: „Es ist berechtigt zu trauern.“ Und es war verdammt stark, zwei
Monate danach wieder zu 100 Prozent im Job zu stehen. Das, was alle da von mir
erwartet haben, war keine Selbstverständlichkeit – auch wenn man mir das so
vermitteln wollte.
Und wenn ich das nochmal entscheiden müsste mit dem Jetzigen Wissen:
Ich würde das nie wieder so machen. Ich würde mir mehr Zeit nehmen für die Erinnerungen mit ihm und ihn auf jeden Fall dort wo seine sterblichen Überreste jetzt sind, besuchen fahren.
Oktober
Erst ganz langsam und dann immer mehr sind die potentielle
Bezugsperson und ich wieder aufeinander zu gerückt. Nach langen Arbeitstagen
durfte ich manchmal von der peripheren Station rüber in den neuen Campus
laufen, zaghaft an die Tür klopfen und mich wenig später auf einen Stuhl in
seinem Büro fallen lassen. In einem dunklen, kleinen Zimmer habe ich nach
Monaten das erste Mal die komplette Geschichte erzählt. Mit allen Wahrheiten.
Allen Versäumnissen. Habe einfach so in die Stille hinein geredet, die nur
durch eine gelegentliche Nachfrage und durch ein nachdenkliches Trommeln des
Zeigefingers auf den Bürotisch vor ihm unterbrochen wurde.
„Mondkind Du brauchst einen Therapeuten. Das ist alternativlos…“ War
das Urteil. Die erste und einfachste Idee war die Psychosomatik bei uns im Ort.
Der Chef hat es organisiert, dass ich einen Termin beim Chef der Psychosomatik
bekommen hatte. Bisher kannte ich diesen Menschen nur aus Vorträgen und jetzt
sollte ich ihm gegenüber sitzen… Ganz schwer im Oktober. Wieder die Geschichte
erzählen. So ehrlich wie möglich. Mit Aussparung einiger Details. Ich war
klatschnass geschwitzt in diesem Raum, in dem ich mit zwei Meter Abstand der hageren
Gestalt gegenüber saß, die durchgehend Notizen auf ihrem Klemmbrett gemacht
hat. Helfen konnte er mir nicht. Dass ich einen Therapeuten brauche, steht wohl
außer Frage – er hielt mich nicht mal für sicher arbeitsfähig – aber die
Psychosomatik und die Neuro stehen in zu engen Kontakt, als dass man da ruhigen
Gewissens eine neurologische Assistenzärztin behandeln könnte. Ich wurde mit
einer Liste von Therapeuten in der Umgebung entlassen. Fand „mein“ Oberarzt
damals völlig daneben, dieses Resultat. Die Liste hat eine ehemalige
Mitpatientin für mich abtelefoniert; ich bin ja so ein Telefon – Phobiker.
Leider ohne Erfolg.
Ansonsten habe ich mir viele Gedanken gemacht. Irgendwie wurden die
Fragen immer mehr statt weniger. Wenn ich abends nach Hause gegangen bin und
der Himmel das letzte Fünkchen Rot am Horizont getragen hat, habe ich mich so oft
gefragt, ob wir noch denselben Himmel sehen.
Die Tage vergingen, ich habe versucht zu funktionieren, lag abends
regelhaft mit meinen Kopfhörern auf dem Boden und dachte ich könnte nicht mehr
atmen, weil es mich so sehr zerlegt. Funktionieren, einfach nur irgendwie den
Job schaffen – das war alles, was zählte.
Ob wir wohl noch denselben Himmel sehen... ? |
November.
Anfang November mussten die Dienstpläne für den Dezember geschrieben
werden. Obwohl ich eigentlich erstmal „nur“ die Wochenend – Vistendienste
machen sollte, musste ich trotzdem kommen. Dienstplan machen ist anstrengend
mit einer handvoll, viel zu wenigen Assistenzärzten. In Minuten, in denen jeder
nur versucht die persönliche Arbeitsbelastung etwas herunter zu drücken, damit
man nicht kaputt geht an diesem Monat. Und mit all den Kündigungen ging der
Dienstplan natürlich nicht auf. „Mondkind, was ist mit Dir?“, kam irgendwann
die gefürchtete Frage. Sekunden später hatte ich den ersten „ersten Dienst“ für
Dezember am Hals.
Erstmal war es die altbekannte Schockstarre aus dem Sommer. Eigentlich
hatte mir die Klinik ja noch für acht Monate eine Dienstbefreiung geben wollen
– dazu war es nach meinem wenig ehrenhaften Abgang dort nicht gekommen. Und
jetzt musste ich mich damit abfinden, mich gegen die Dienste nicht wehren zu
können.
Ein paar Tage hat die Sache mit der Suizidalität wieder etwas lauter
an die Tür geklopft, hat die alte Blindheit hervorgerufen, in der es nur mich
und die Angst gibt. „Aber das kann es doch jetzt nicht gewesen sein“, habe ich
mir gedacht. Ich hatte ja nun noch mehr Verantwortung als früher auf meinen
Schultern. Der Freund kann nur im Jetzt gehalten werden, Erinnerungen können
nur weiter getragen werden, wenn diejenigen, die ihn am Besten kannten, leben.
Ganz langsam hat sich über die Tage meine Einstellung dazu gedreht.
Ich muss noch von irgendwelchen positiven Dingen dieses Jahr berichten können,
ich muss mich der Angst stellen, sonst wird sie nicht weniger. Ich möchte nicht
von den Kollegen als diejnige gesehen werden, die sich vor den Diensten
versteckt – dass es so viel Angst ist, können die ja nicht wissen, für das
Außen wirkt es vermutlich eher faul. Ich werde das machen und ich werde das
überleben.
Eines Abends ein paar Tage später habe ich all die Überlegungen in
einer Mail an die potentielle Bezugsperson zusammen gefasst. Er fand das so
gut, dass er mir an dem Abend zugesagt hat, mein Hintergrund an dem Tag zu
sein.
Ansonsten habe ich viel gearbeitet im November. Immer wieder hatten
wir COVID – Stress auf Station; die Anzahl zu belegender Betten auf unserer
Station war im ständigen Fluss, sodass es kaum möglich war das Personal
gescheit zu planen. Wenn man Pech hatte, stand man mit zwei Stationen alleine
da; zusätzlich geplante Aufnahmen und Entlassungen.
Die potentielle Bezugsperson entpuppte sich als geduldiger Zuhörer;
sei es nun, ob es um mögliche Versäumnisse meinerseits, die Schuldfrage, oder
um leuchtende Fußspuren in der Tagesklinik der Psychiatrie ging.
Dezember.
Der 1. Dezember startete mit Schnee... ☃ Da haben sich die inneren Kinder sehr gefreut. |
Der Nikolaustag dieses Jahr wird mit Sicherheit in meine persönliche Lebensgeschichte eingehen. Der erste „erste Dienst.“ Nachdem ich vor Angst um diese Verantwortung vor einem halben Jahr noch suizidal über diesen Dienst geworden bin, bin ich mit einer erstaunlichen Ruhe da rein gegangen. Was kann ich noch verlieren, wenn ich nicht im Stande war, auf einen der beiden wichtigsten Menschen meines Lebens aufzupassen? Wie kann man sich noch mehr Schuld aufladen? Was schlimmstenfalls passieren könnte, ist eine überaus genervte potentielle Bezugsperson, weil die Mondkind das nicht so auf die Kette bekommt, wie sie es hätte tun sollen.
Dieser Anhänger lag über ein Jahr bei mir zu Hause und war immer genau für diese Dienste gedacht. Das nächste Mal werde ich ihn am 6. Januar brauchen. |
Es war sehr ruhig in diesem ersten „ersten Dienst“. Fast, als
hätte jemand von oben auf mich herunter geschaut und beschlossen, dass die
Mondkind nach über einem halben Jahr Pause erstmal wieder ein bisschen Zeit
braucht, um sich an die Abläufe in der Notaufnahme zu gewöhnen, an das
Diensttelefon in der Kitteltasche. Als müsse diese Erfahrung eine Gute werden,
als Ohmen für alles das, was da noch kommt. Nach 12 Stunden Daueranspannung und
einem dröhnenden Kopf war ich auf dem Weg nach Hause. Und das war der schwerste
Teil des Tages. Und wie schon mal irgendwo beschrieben: Es sind nicht die schweren Momente, in denen das Fehlen groß wird. Sondern die kleinen, glücklichen Momente, die man so gern geteilt hätte.
Es haben mich schon Leute gefragt, wie es war. Aber nicht
dieser Mensch, mit dem ich so lange über diesen Dienst diskutiert hatte, den
ich so gern angerufen hätte, dem ich so gern erzählt hätte, dass ich es endlich
geschafft habe. „Wenn ich den ersten Dienst geschafft habe, kannst Du kommen“,
habe ich ihm im Frühling erzählt. Laut der Planung von damals, hätte ich den
ersten Dienst im Juli, dann doch im August haben sollen, im September hätte er spätestns
da sein sollen. Ich wollte das nur unbedingt vermeiden, dass der Job oder ich
vor die Wand fahren und dann sitzt er hier an einem Ort, der ohne mich für ihn keinen Sinn ergibt.
Der Freitag vor dem dritten Advent. Unser – seit Wochen etabliertes –
Freitagabendbürogespräch. „Mondkind, hast Du Lust am Sonntag vorbei zu kommen?“
Bitte was? Mit so etwas hätte ich – nach allem was in diesem Jahr zwischen uns
passiert ist – im Leben nicht mehr gerechnet.
Am Sonntag darauf habe ich mich mit dem Fahrrad auf die Socken quer
über das Land ins Nachbardorf gemacht. Da war auch viel Angst. Was ist, wenn
das jetzt überhaupt nicht funktioniert? Diese Idee, die ich da mal hatte, die
Antennen, die bei diesem Menschen so sehr angeschlagen haben, weil er so viel
zwischenmenschliche Wärme um sich herum verbreitet.
Aber es hat gepasst. Ein bisschen Flair aus längst verloren geglaubten
Zeiten. So einfach. Und für ein Mondkind – Herz so unglaublich wertvoll. Das
allerschönste, was dieses Jahr noch hätte passieren können.
Eigentlich hatte ich die Aussicht dieses Jahr Weihnachten alleine
verbringen zu müssen. Kurz vor den Feiertagen gab es dann aber doch noch eine
Einladung von der potentiellen Bezugsperson. Einerseits habe ich mich sehr
gefreut, andererseits hatte ich aber auch ein bisschen Sorge, ob das so gut
ist, bei so einem, traditionell ja doch sehr familiären Fest, zu erscheinen.
Es war aber sehr schön. Erst haben wir den Garten winterfest gemacht,
dann haben wir uns beim Raclette aufgewärmt. Er und seine Frau bekommen das
schon sehr gut hin, mich da wie ein gern gesehener Gast wirken zu lassen; zu
keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl das fünfte Rad am Wagen zu sein. Ich
finde das immer noch absolut erstaunlich und rührend, dort als Mensch (wieder)
akzeptiert zu werden. Über manche Dinge gibt es einfach keine Diskussionen. Da
ist es klar: Die Mondkind gibt es nur so. Mein Vegetarierdasein zum Beispiel.
Was ist das in der Familie immer für ein Spießrutenlauf.
Ich habe das Gefühl manchmal möchte mein Herz dort einfach alles
nachholen, was viel zu lange gefehlt hat. Und dann speichert es diese
zwischenmenschliche Wärme ganz besonders tief ab, damit wir nicht mehr
vergessen, wie das ist.
Dennoch - auch die Familie hat es mir nicht leicht gemacht in diesen letzten Tagen des Jahres. Familiendrama vom Feinsten. Das auch sicher noch nicht vorbei ist. Und den Keil zwischen uns nur noch tiefer getrieben hat. Aber wie sagte der ehemalige Herr Kliniktherapeut mal: "Wissen Sie Frau Mondkind... - ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Sie sind eh das schwarze Schaf, schlimmer können Sie es nicht machen." Natürlich habe ich nie den Glauben und die Hoffnung auf eine funktionierende Familie verloren - dennoch habe ich diesmal scharfe Grenzen gezogen, habe mich nicht den erpresserischen Maßnahmen gebeugt und bin hier geblieben, statt aus völlig sinnlosen Gründen durch das halbe Land zu gurken. Aber schon ein paar Tage nach Weihnachten gibt es eine eindrückliche Erklärung für diesen emotionalen Hunger in mir und da bin ich selbst nachträglich noch froh und dankbar um diesen Weihnachtsabend, der ungefähr Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen war.
Natürlich war der Freund auch sehr präsent in diesen letzten Tagen des
Jahres. Das hat mich alles sehr erschöpft und insgesamt habe ich nicht all das
geschafft – oder eigentlich das Wenigste – von dem, das ich mir vorgenommen
habe. Aber ganz eventuell ging es darum auch nicht. Vielleicht ging es darum, Abschied zu
nehmen vom letzten gemeinsamen Jahr das wir hatten und von dem es keine
Aussicht darauf gibt, dass sich das nochmal wiederholen könnte.
Das ist auch die Antwort darauf, warum es für dieses Jahr keine Silvesterpläne gibt. Zwar finde ich es auch nicht schön, den Silvesterabend alleine zu verbringen, aber es hätte kaum Menschen gegeben, bei denen ich mich an diesem Abend, der auch nochmal ein bisschen ein Abschied ist, sicher gefühlt hätte. Vielleicht bei der potentiellen Bezugsperson - obwohl da auch die Restzweifel noch nicht ganz verschwunden sind - aber er hat ja nun auch anderes zu tun, als mich ständig in seine Familie einzuspannen. Wenn, muss er das vorschlagen. Und ich könnte auch nicht versprechen, ob es - selbst in Gesellschaft - ein Abend ohne Tränen wird.
Altes Foto... |
Ich hoffe, die potentielle Bezugsperson und ich, wir haben jetzt endlich mal eine Richtung festgelegt, die wir beibehalten. Es wäre schön, auch nächstes Jahr noch ein paar gute Momente außerhalb der Arbeit zu erleben.
Es wäre auch gut, endlich Mobilität zu erlangen (aber die potentielle Beuzgsperson drängelt da ganz gut). Mit einem Auto könnte ich in freien Stunden mal ins Moor fahren und eine Runde drehen. Endlich mal am Grab des Freundes vorbei, ihm all die Briefe bringen, ein Blümchen für ihn dort pflanzen, eine Kerze an sein Grab stellen. Das wäre mir sehr wichtig.
Und hinsichtlich der Arbeit… - es wäre einfach schön, wenn ich sicherer werden würde. Ein mulmiges Gefühl ja, aber keine riesige Katastrophe vor jedem Dienst. Und auch bitte eine kurze Notaufnahme - Zeit, damit das bloße Existieren nicht zu lang wird.
Ein bisschen mehr Energie wäre schön, ein bisschen mehr Freude im Leben, ein bisschen weniger Schuldgefühle. Vielleicht wäre endlich mal eine ambulante Therapie, mit einem Therapeuten, auf den ich mich nach allem was passiert ist auch einlassen kann, eine Überlegung.
Und – auch von der potentiellen Bezugsperson schon forciert – Haustiere. Zwei Katzen, sind so die Überlegung. Ich glaube, ich brauche endlich wieder Leben um mich herum. Da war zu viel Stille, zu viel Tod dieses Jahr. Ich brauche Farbe.
Und zum Schluss das Wichtigste: Ich wünsche mir sehr, dass alle Menschen die mir wichtig sind, nächstes Jahr um diese Zeit auch noch an meiner Seite sind. Und deren wichtigste Menschen auch. Oder, wenn das nicht möglich ist... - dass diese Menschen zumindest leben, atmen und auf ihre Weise glücklich sind.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen