Weihnachten

Eigentlich hatte ich am 24. Dezember einen Weihnachtsblogpost schreiben wollen.
Wirklich.
Aber dann wurde es irgendwie stressig in den letzten beiden Tagen.

Deshalb kann ich nun nur schreiben zu hoffen, dass alle Leser auch in diesem Jahr ein paar ruhige Stunden für sich gefunden haben – und vielleicht hilft es immer zu erinnern: Es muss nicht alles gut sein. Ein guter Moment in diesen Tagen ist vollkommen ausreichend.


 

24. Dezember
Ich habe heute Visitendienst. Eigentlich sollte der laut Vorgaben des Chefs in diesem Dezember nur vier statt der sonst üblichen acht Stunden lang sein. Die Vorstellung schon um 14 Uhr das Gebäude verlassen zu dürfen, hat etwas.

Da ich ja nun ein paar Tage Urlaub im Vorfeld hatte, gehe ich vorher auf meiner Station vorbei und nehme die zu korrigierenden Briefe aus meinem Fach mit. Das lohnt sich – das Fach quillt über und ich werde mindestens eine Stunde damit beschäftigt sein.
Auf der Station ist es relativ ruhig. Jeder, bei dem es irgendwie vertretbar war, wurde Weihnachten nach Hause geschickt und auch sonst gibt es gerade keine Katastrophen auf der Station.

Halb 2 ruft mich die Kollegin an. Sie findet bei einem Patienten, der über die Notaufnahme gekommen ist, ein Gefäß mit dem Ultraschall nicht – ob ich nochmal schauen könnte. Erstmal stelle ich fest, dass jemand diese komplett verstellte Duplexsonde wieder richtig eingestellt hat, was mich sehr freut – das letzte Mal hatte ich sehr damit zu kämpfen. Dann suchen wir eine Weile zusammen das Gefäß, was bei schwierigen anatomischen Verhältnissen nicht ganz einfach ist. Aber schließlich finden wir es doch.
Als wir zusammen mit der Patientin gegen 14 Uhr wieder die Notaufnahme betreten, ist die in der Zwischenzeit voll geworden. „Mondkind, glaubst Du mir, dass ich weinen möchte…?“, fragt sie und schaut mich an. Ja, glaube ich ihr. Wäre es mein erster Dienst, würde ich auch weinen wollen. Ich habe heute Nachmittag sowieso nichts mehr vor und beschließe ihr noch ein wenig zu helfen. Allerdings wird das dann zum Fass ohne Boden. Jedes Mal – sobald ein Platz in der Neuro – Notaufnahme wieder frei ist – kommt ein neuer Patient. Nicht jeder hat im Endeffekt etwas Neurologisches – einen verschiffe ich in die Kardiologie, die Kollegin gibt unterdessen jemanden in die Innere ab. Drei Patienten schicken wir zeitgleich – nachdem wir einen Schlaganfall ausgeschlossen haben – mit  derselben Diagnose eines peripheren Schwindels nach Hause.

Irgendwann gegen 18 Uhr schauen wir etwas ungläubig an. Das letzte Jahr was es am 24. Dezember still in der Notaufnahme. Die anderen Fachabteilungen haben auch fast nichts zu tun, aber jeder Patient auf dem Arrivalboard wird heute neurologisch. Die Kollegin telefoniert nochmal wegen einiger Patienten mit dem Hintergrund. Ungefähr 10 Minuten später öffnet sich die Tür und unser Hintergrund – Oberarzt erscheint im Raum, schmeißt seine Jacke über den Stuhl und sagt: „Sie klangen verzweifelt am Telefon. Also – wo kann ich helfen? Soll ich Doppler machen, Briefe schreiben?“ So ein lieber Oberarzt – unfassbar.
Gegen 19 Uhr sind noch zwei Patienten übrig geblieben, die Kollegin versichert mir, dass sie jetzt alleine zurecht kommt (wenn ich ihr noch ihr Sandwich bringe, das auf der Station liegt, weil wir beide bis dahin weder zum Essen noch zum Trinken gekommen waren) und ich kann nach Hause gehen.

Eigentlich war der Tag nicht schlecht. Auch, wenn das natürlich anders geplant war. Aber es hat mir auch gezeigt: Die anderen haben auch so ihre Sorgen in der Notaufnahme. Ich bin da nicht alleine. Die anderen finden auch mal ein Gefäß nicht. Die anderen wollen da auch nicht alleine sein. Ich bin nicht komisch, weil mir das Angst macht.

Am Abend schaffe ich es nur noch kurz etwas zu essen; mein Kopf dröhnt. Dann verschwinde ich in Richtung Bett. 

 


25. Dezember
Heute wieder Visitendienst. Und heute muss ich wirklich einigermaßen pünktlich weg.

Die Neuaufnahmen von gestern sind noch etwas zerknittert, dass sie ihr Weihnachten nun auf der Stroke Unit feiern müssen und ich sehe mich schon so einige Entlassungen gegen ärztlichen Rat machen, aber am Ende bleiben sie doch.
Zwei Patienten machen mir heute ein bisschen Sorgen – bei einem bin ich mir so unsicher, dass ich vorsichtshalber mal noch den Hintergrund anrufe.

Zwischendurch rufe ich den ersten Dienst an und frage, ob ich helfen kann. Aber er entgegnet, dass die Aufnahmen heute gestaffelt kommen, nicht alle auf einmal – und er das deswegen gut im Griff hat.
Gegen halb drei verlasse ich das Gebäude, düse nach Hause, ziehe mich schnell um, schwinge mich wieder auf den Sattel und düse weiter. Heute schaffe ich die Strecke tatsächlich in der geplanten Zeit, ohne wie ein Schlamm – Männchen auszusehen und ohne mich großartig zu verfahren.

Als ich auf die Einfahrt abbiege, kommt er mir schon entgegen; einen Sacke voller Holzspäne in der Hand. „Mondkind Du kannst mir gleich mal helfen, die Pflanzen vor dem Erfrieren in den nächsten Tagen zu schützen.“ Gemeinsam machen wir den Garten winterfest; die größeren Pflanzen und der kleine Baum werden in Säcke gesteckt, die am Stamm zusammen gebunden werden. Kurz reden wir darüber, wie die Dienste der letzten beiden Tage waren. „Mondkind, wir planen übrigens, Dich wieder rüber zu holen…“ „Und wo soll ich dann arbeiten?“, frage ich misstrauisch, obwohl ich die Antwort fast kenne. „In der Notaufnahme…“, entgegnet mein Gegenüber. „Aber ich möchte nicht in die Notaufnahme…“, entgegne ich entsetzt. „Ach Mondkind, Du kannst doch auch nicht weiter auf der peripheren Station arbeiten…“, sagt er. Naja, wieso nicht? Es ist irre viel zu tun und ich bin am Rand der Belastbarkeitsgrenze, aber die Patienten sind meistens nicht so todkrank, dass sie sofort sterben könnten, wenn man irgendetwas nicht tut. Februar oder März, sagt er, werde ich kommen müssen. Ich weiß, ich kann dagegen nichts sagen. Aber ich frage mich schon, warum man nicht einmal in Ruhe gelassen wird und in einem Team, das man irgendwann kennt und in dem man sich eine Stellung erarbeitet hat, vor sich hinarbeiten kann. Dieses Jahr musste ich auch im März in die ZNA. Jeden Tag von halb 8 bis halb 5 das Diensttelefon; über zwei Monate fast nie in der Frühbesprechung oder auf Fortbildungen. An die Zeit habe ich kaum noch Erinnerungen. Mich hat diese Notaufnahme in einer unfassbaren Geschwindigkeit kaputt gemacht, wie der ein oder andere Leser vielleicht noch weiß und eigentlich kamen COVID und der Lockdown mir sehr gelegen – da war es ein paar Tage ruhiger und ich konnte Kraft tanken. Daneben ging es dem Freund immer schlechter, für den ich auch nicht da sein konnte, wie ich es gewollt habe – auch wenn ich mich bemüht habe. Aber ich konnte nicht mehr. „Notaufnahme ist wie jeden Tag Dienst…“, sagten die Kollegen mal und das stimmt halt wirklich. Meistens habe ich erst nach dem Tag dokumentieren können; es gab Abende, da saß ich bis 22 Uhr dort. Planbar war nichts; das war auch schlimm. Auf der Station kann man Entlassungen schon mal vorbereiten, wenn man weiß, man muss früh gehen. Das geht da nicht. Das Leben stand still; es war auch die Zeit, in der das lose therapeutische System (also Seelsorger und ambulante Therapeutin) auseinander gefallen ist. Ich konnte zu deren Zeiten einfach nicht – oder ich wusste zumindest nicht, ob ich konnte. Und all das wird im nächsten Frühling wieder kommen. Die Welt steht auf, die Mondkind geht unter. Wie fast jedes Jahr im Frühling. Und wie sehr wünsche ich mir einen Job, der einfach mal nur ein Job ist. Und kein ganzes Leben.

Ich habe gestern Abend versucht nicht so viel darüber nachzudenken; das hat auch gut geklappt. Ich kann es nicht ändern und einfach aussteigen kann ich auch nicht, wie wir in diesem Jahr eindrücklich gelernt haben. Hoffen wir nur, dass der Körper das mitmacht, der aktuell immer noch sehr geschwächt ist. Aber es sind die Sorgen von der Mondkind von in zwei oder drei Monaten.
An sich war der Abend gestern nämlich wirklich schön. Meine Trotteligkeit wurde mir glaube ich verziehen. Es gab Raclette und wir mussten das natürlich vorbereiten. Ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, Champignons zu schälen. Ich halte die immer unter das Wasser und dann ist gut. Und das war nicht die einzige Sache, die… - etwas neu für mich war. Ich glaube, manchmal merkt man das einfach doch, dass ich jahrelang keine Küche hatte und jetzt nicht wirklich Zeit habe, mich mit dem Kochen zu beschäftigen.

Aber es hat sich wirklich sehr stimmig angefühlt mit dem Weihnachtsbaum im Hintergrund, wir drei um den Tisch, als das Raclette dann heiß war, war mit auch nicht mehr kalt (obwohl ich in eine echt dicke Jacke gewickelt war). Es sind relativ unkomplizierte Gespräche; die reden auch beide recht viel – da brauche ich nicht so viel zu erzählen. Umgekehrt muss ich aber auch nur wenige Themen umschiffen.
Ich glaube am Ende sind solche Situationen immer Erinner – michs an mich selbst. Einfach mal ein paar Stunden Pause von diesem ständigen Gedankenkreisen um den Freund, um die Beschäftigung mit seinen letzten Wochen und Monaten, an die ich kaum noch Erinnerungen habe. Das was ich dort erlebe, ist ein Zipfelchen Leben. Ein „Hey übrigens Mondkind – so könnte das werden, wenn Du irgendwann mal einen Platz gefunden hast.“ Ein bisschen Motivation zum Durchhalten und Weitermachen, die mir sonst so gern abhanden kommt.

Und irgendwie ein ganz kleiner Beweis, dass der „Mondkind – Riecher“ doch nicht ganz verkehrt ist. Dass es im Zusammenhang mit diesem Menschen ein Stück „zu – Hause – Gefühl“ geben könnte, haben die Mondkind – Antennen früh begriffen. Nur, dass ich das noch erleben könnte – das habe ich zwischenzeitlich nicht mehr gedacht. Ganz leise im Hinterkopf tickt aber doch ein: „Mondkind, wenn der Freund das wüsste… - er würde Dich köpfen…“ Er war immer recht eifersüchtig und das wäre eine Situation gewesen, die Streitpotential gehabt hätte.

Mit einer Punktlandung war ich dann um 21 Uhr wieder hier. Und bin dann nach den zwei anstrengenden Tagen sehr glücklich ins Bett gefallen. Solch ruhige Stunden sind eine Seltenheit in den letzten Jahren an diesen Tagen gewesen.
Es sind unruhige Nächte aktuell. Zwei Alpträume, dazwischen stundenlang wach. Heute habe ich Kopfschmerzen und fühle mich sehr platt. Ich glaube, ich werde mich heute etwas schonen – es ist ja schließlich auch immer noch Weihnachten. Ab morgen wollte ich eigentlich mal etwas Produktives tun. Es ist nur so die Frage… - ob es gerade wirklich um Produktivität geht. Oder, ob es darum geht, den Jahreswechsel bestmöglich zu überstehen und im Januar wieder einen guten Einstieg in den Job zu finden.

 

Mondkind

 

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