Die Frage nach der Berechtigung eines Grashalms zwischen verbrannter Erde

Schuld.
Ist ein Thema, das mich vielleicht nicht so offensichtlich, sondern ganz gemein von hinten immer wieder einholt.

„Mondkind, wir würden Dich gern einladen am ersten Weihnachtsfeiertag. Bist Du dabei?“

Und nach ein paar organisatorischen Mails: „Aber nimm diesmal die richtige Strecke…“
Also nicht mehr wie ein Schlamm – Männchen dort ankommen.

Nach allem was im Sommer passiert ist, hätte ich das nicht für möglich gehalten, dass so etwas noch passieren kann. Dass diese Idee von einem „Ersatz – zu – Hause“ doch noch – zumindest temporär – aufgehen kann. Jedenfalls ist Weihnachten schon ein ziemliches Familien – Ding und dass ich dort Raum einnehmen darf, das ehrt mich. Dass ich ein Mal sagen kann: Ich habe das nochmal erlebt, nachdem ich es mir so viele Jahre gewünscht habe. Wie lange auch immer das so bleibt.
Es wird hoffentlich gut funktionieren – aber das letzte Mal war das sehr reibungslos und so unkompliziert irgendwo dazu gehören zu dürfen, in irgendeiner Mitte zu sein – da hat sogar der Schmerz im Herz einer Mondkind mal Pause. Atmen. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Ist so unendlich viel Wert. Schenkt Hoffnung. Dieses Zipfelchen bunter Farben. Auf ein Leben, wenn die Zeiten besser werden.
Ich weiß nicht, wann ich das das letzte Mal gesagt habe, aber ich freue mich auf diesen Weihnachtstag. (Nachdem im Dienst hoffentlich nicht viel los war, denn nachdem ich hundert prozentig davon überzeugt war, dieses Jahr zu Weihnachten nirgendwo sitzen zu dürfen, war es für mich kein großes Problem an Weihnachten Visitendienste zu übernehmen…)

Nach dem Plan, den der Freund und ich letztes Jahr nach Weihnachten gemacht haben, hätte in diesen Tagen der Freund da sein sollen. „Nächstes Weihnachten ist mir das mit den Familien – Konventionen relativ egal. Da verbringen wir Weihnachten einfach zusammen…“, hat er mir letztes Jahr entnervt und geschafft in einer Sprachnachricht am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags erklärt. Weihnachten… - das war und ist nämlich immer so eine Sache. Entweder man hockt mit der Familie unter dem Baum oder man hat alleine zu sein – aber Weihnachten ist normalerweise nicht das Fest der Freunde und solange wie wir beide keine Familie sind, war das schwer dem Umfeld zu erklären, dass wir die Tage für uns haben wollen. Aber letztes Jahr ist es für uns beide so dermaßen schlecht gelaufen, dass wir es beide leid waren.

Und jetzt… - jetzt wird es irgendwie anders werden, als angedacht. Aber vielleicht – hoffentlich – trotzdem schön. Und dennoch wäre das nie passiert, wenn der Freund nicht gestorben wäre. Die potentielle Bezugsperson und ich wären nicht so nah aneinander gerückt; hatte er mir doch im Juni erklärt, dass er für mich nicht der Mensch sein kann, den ich brauche.
Habe ich ein Recht darauf, obwohl er nicht mehr da ist, trotzdem ein paar schöne Stunden zu Weihnachten zu verbringen? Obwohl ich vielleicht nicht alles getan habe, das ich für ihn hätte tun können? Obwohl keiner weiß, was passiert wäre, hätte ich beim ersten Verdacht den Rettungsdienst informiert? Ist es erlaubt aus den Trümmern, die nach dem Erdbeben noch da sind, ganz vorsichtig wieder etwas zu basteln? Sich ganz vorsichtig die ersten grünen Halme auf dieser verbrannten Erde anzuschauen und einfach nur glücklich darüber zu sein, nachdem ich es doch war, die so versagt hat?


 

Der Verstand sagt: Ja. Es muss irgendwie weiter gehen. Ich muss raus aus diesem Stillstand, aus diesem Glauben, dass ich ausschließlich gegen das Vergessen kämpfen muss und ewig büßen muss für das, was ich getan – oder besser nicht getan – habe.
Die Gefühle sagen: Nein. Das ist wie Verrat. Überleg Dir, wie er das gefunden hätte. Er hat die potentielle Bezugsperson sowieso immer sehr kritisch betrachtet, weil er eine Rivalität unterstellt hat, die nie existierte. Die potentielle Bezugsperson war ein bisschen fehlender familiärer Rückhalt, er hatte eine ganz andere Ebene als ein Seelenverwandter und Freund. Aber ich kann mir lebhaft vorstellen, was ich mir anhören müsste würde er mitbekommen, wo ich dieses Jahr zu Weihnachten bin.

Mondkind

P.S.: Man muss sich ja schon überall rechtfertigen, aber COVID - technisch ist das sicher unproblematischer, als den  engsten Familienkreis zu besuchen. Theoretischerweise hätten wir auch wenige Stunden zuvor gemeinsam Dienst haben können. Also Treffen in Clustern... - und der einzige, zwischenmenschlich reale Kontakt, den ich gerade habe. Ein mini - bisschen Nähe braucht die Seele schon. 

Bildquelle: Pixabay

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen