Der erste "erste Dienst"

Der erste „erste Dienst“  ist Geschichte. Und ich lebe noch. Und das meine ich ganz wortwörtlich. Der erste Dienst… - das war immer dieser „Endgegner“. Die Überzeugung, dass das Punkt ist, an dem die Medizin und ich aneinander scheitern. Und der Punkt, an dem ich am Leben scheitern werde. Unverrückbar war diese Grenze in meinem Kopf. Dieses Roulette – Spiel mit dem Leben.

Der Reihe nach.
Sonntag. Eigentlich hatte ich sogar relativ gut geschlafen in der Nacht. Ich glaube, es gibt irgendwann diesen Punkt, in dem irgendetwas in mir umschaltet. Keine Emotionen mehr, keine Ängste. Eine Panikattacke nach der anderen bringt mich nicht weiter. Einmal die Luft anhalten, einmal ins kalte Wasser springen. Einfach nur funktionieren und irgendwie ist alles endlich. Irgendwann werde ich auftauchen und es ist vorbei.

Übergabe in der Notaufnahme. „Mein“ Oberarzt. Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter. Ein unausgesprochenes „Mondkind Du rockst das…“ Und dann verschwindet er mit dem viel erfahreneren Kollegen in Richtung Stroke Unit, um die Visite zu machen.
Ich drehe das gefürchtete Diensttelefon ein paar Mal in der Hand. Ganz unterschwellig dezentes Herzrasen. Hatte ich immer mit diesem Telefon. Das die Fähigkeit hat, innerhalb von Sekunden alles aufzurütteln, innerhalb von Sekunden die Information die übermitteln, dass es jetzt um Leben und Tod geht, dass jetzt alle Prozesse laufen müssen – egal ob mit oder ohne Oberarzt.

Wenig später ruft die Triage an. „Mondkind wir haben hier eine Patientin, die war eigentlich für die Internisten, aber jetzt berichten die Rettungssanitäter von einer Sprachstörung und einer Armschwäche. Magst Du mal vorkommen…?“ Ich rase nach vorne. Neurologisch schlecht ist die Patientin nicht, die erst gestern bei einer terminalen Niereninsuffizienz zur Dialyse war, eine Anämie hat und von ihrem Allgemeinzustand eben eingeschränkt ist. Eine Armschwäche kann ich auch nicht objektivieren. Sie kann mir alle Dinge benennen, die ich ihr vor die Nase halte. Aber so ab und zu, ganz diskret wahrnehmbar, fehlt ihr ein Wort. Ich rufe den Oberarzt an. Deswegen neurologisch machen oder konsiliarisch bei den Internisten mitbetreuen? Wir nehmen sie, beschließt er.
Erstmal Fieber messen. Und… - Volltreffer. Über 38 Grad. Ich untersuche sie fix – jetzt natürlich vermummt und mit FFP2 - Maske, während die Schwester den Corona – Schnelltest macht. Und… - kaum eine Stunde in der Notaufnahme, da haben wir den Salat. Corona – Schnelltest positiv. Hat ja nicht lange gedauert, bis man wieder mit einem Bein in der Quarantäne steht.
Am Ende geht es in das CT, wo wir nichts Schlimmes am Gehirn sehen. Bei erhöhten Entzündungsparametern und Fieber sind die Wortfindungsstörungen am Ehesten im Rahmen dessen zu interpretieren. Sie bekommt noch ein Röntgen der Lunge und dann geht es auf die Corona – Station.

Mein Tag geht weiter. Eine Dame, die mehrfach gestürzt ist in den letzten Tagen, teilweise gestolpert, teilweise mutmaßlich auch im Rahmen einer Synkope. Zuletzt ist sie auf den Kopf gefallen; jetzt kann sie ihr Bein nicht mehr bewegen. Erst kürzlich hatte sie eine Wirbelkörperfraktur. „Wir sollen jetzt also schauen, ob sie ein Subduralhämatom oder so etwas hat oder eine erneute Wirbelkörperfraktur“, fasse ich am Telefon dem Kollegen gegenüber zusammen. „Genau“, entgegnet dieser.
Aus allen Lyse- und Thrombektomie – Zeitfenstern sind wir ohnehin raus; also kann ich ganz entspannt Diagnostik machen. Beim Schallen der Halsgefäße bin ich mir etwas unsicher, aber sie liegt auch wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf der Liege. Nachdem ich den Oberarzt angerufen habe und wir sie zusammen zurecht gerückt haben, können wir eine Stenose ausschließen. Die Unfallchirurgen schauen drauf, die Kardiologen sind auch mit im Boot. Das Labor zeigt schon wieder erhöhte Entzündungszeichen.
Erstmal nehmen wir sie – nachdem die ganze Diagnostik erstmal nicht viel gezeigt hat – mit Verdacht auf Schlaganfall auf unsere Station auf. Am Nachmittag entwickelt sie dann noch Fieber und beschäftigt die Kardiologen und mich noch eine Weile, bis wir auch hier in der Bildgebung eine Verschattung des rechten Lungenlappens sehen. Also wieder Isolation, Antibiose, und COVID – Abstrich.

Während dessen haben der Oberarzt und mein Assistenzarzt – Kollege eine Patientin aus der Inneren übernommen mit ausgesprochen heftiger Meningitis unter Immunsuppression. In Rücksprache mit unserem mikrobiologischem Labor kippen wir nach der Nervenwasseruntersuchung eine Vierfach – Antibiose in die Frau. Am Abend wird sich der Schnelltest auf Pneumokokken positiv heraus stellen – also wieder Isolation. 

Seit über einem Jahr ist klar, dass mich dieser Anhänger durch meine "ersten Dienste" begleiten wird. Derjenige, der ihn mir geschenkt hat, ist auch nicht mehr an meiner Seite. Eine der Beziehungen, die den Tod des Freundes nicht überlebt hat. Aber ich schätze diesen Menschen immer noch sehr, denke oft an ihn zurück und daran, dass ich auch viel von ihm lernen durfe. Und deswegen fühlt sich dieser Anhänger in meiner Brusttasche, ganz knapp neben dem schnell schlagenden Herz, immer noch richtig an.

 

Und dann komme ich auch noch zu meinem ersten Konsil bei den Kardiologen. Ein Patient, der laut Kollegen eine Präsynkope erlitten hat und dabei auf den Kopf gefallen ist. Der Patient erzählt mir, dass er auf seinem Socken ausgerutscht ist. Na das ist ja mal etwas anderes. Er hat eine winzige Schürfwunde am Kopf. Ich untersuche ihn von oben bis unten – keine neurologischen Ausfälle. In Rücksprache mit meinem Oberarzt empfehle ich eine Bildgebung bei Zustand nach mehreren Stürzen zum Ausschluss von Blutung oder Fraktur.

Ab spätestens 6 Uhr am Abend brummt mein Schädel. Ich hatte viel Glück mit diesem Dienst und meinem Hintergrund. Zwar war ich non – stop beschäftigt; zum Einen brauchte ich etwas Zeit, um mich wieder in die Notaufnahme einzufitzen, zum anderen müssen immer Angehörigengespräche geführt, Nadeln gelegt, Aufklärungen gemacht werden, oder Doppler, die unter der Woche nicht geschafft wurden nachgeholt werden, wenn die Notaufnahme gerade leer ist – aber es gab keinen „richtigen“ Alarm. Keine Reanimationsalarm, keinen Stroke Angel, keine Lyse, keine Thrombektomie. Die Leute waren „brav“ und haben Nikolaus bzw. Advent zu Hause gefeiert. (Kann man das jetzt überhaupt als „richtigen“ ersten Dienst werten?)
Dennoch ist es eine Stunden dauernde Anspannung. Dieses Telefon, das alles von eine auf die andere Sekunde ändern kann. Diese vielen Patienten, die alle sehr krank sind, sonst wären sie nicht da, für die ich zuständig bin. Mein Magen hatte gefühlt die Größe einer Weintraube, weshalb mein Oberarzt schon Schwierigkeiten hatte, zwischendurch eine Mandarine in mich hinein zu bekommen.
„Was spürst Du?“, habe ich mich zwischendurch mal kurz gefragt, als ich über einen der langen Flure gerast bin. „Nichts…“, war die Antwort an mich selbst. Diese Situation, in der ich da gerade war, in der ich gelebt und überlebt habe, das war so eine Ausnahmesituation, der Moment, vor dem ich so lange Angst hatte – ich konnte nichts fühlen, ohne zu zerbrechen. Aber der Körper quittiert es.

Als abends um 22 Uhr, nach 12 Stunden Dienst, die Ablösung kommt, kann ich kaum noch stehen, kaum noch den Kopf drehen, ohne dass ich glaube, dass er zerspringt. Ich bin so dankbar für meinen Urlaubstag am Montag.

Heimweg. Diese dezente Hypomanie nach dem Dienst. Gefühlschaos aus dem Untergrund. Erleichterung. Das Gefühl, dass es mich doch sehr geschafft hat. Die Mauern, die ich diesmal alleine gesprengt habe. Der Kommentar von einem ehemaligen Mitpatienten aus der Klinik, der mir sagt, dass ich den Dienst irgendwann mal erwähnt hatte und er sich extra eine Erinnerung im Handy gestellt habe, damit er mir viel Erfolg wünschen kann. Was mich wiederrum zu Tränen rührt. Und gleichzeitig der Gedanke: „Warum kann ich Dich jetzt nicht mehr anrufen und sagen, dass ich es geschafft habe?“
Es ist ein komisches Gefühl zu spüren, dass das Leben weiter geht. Dass ich Dinge auch alleine schaffe, dass da immer noch Menschen auf dem Weg sind, wenn vielleicht auch nicht so nah, wie wir uns waren.

Zu Hause falle ich ins Bett.
Das erste Mal wache ich um 6 auf. Immer noch dröhnt mein Kopf, mein Rücken schmerzt, der Bauch tut weh… - wenn ich heute hätte arbeiten müssen, hätte ich schon eine halbe Stunde aufgestanden sein müssen. Das wäre nichts geworden. Da ist sie. Die Angst von gestern. Sowas von krass somatisiert.
Drei Stunden später geht es ein bisschen besser. Erster Kaffee. Etwas essen werde ich erst am Abend können. Da muss ich mich noch bessern - auf jeden Fall. Ich habe ja nach dem Dienst in den seltensten Fällen einen Tag frei.

Es ist komisch. Ich weiß noch nicht, was ich fühle. Ich weiß nur, dass ich heute den halben Tag geweint habe. Und nicht weiß wieso.
Diese Grenze ist erstmal übersprungen. Der Weg gegen die Angst wird noch lang, aber das war der erste und wichtigste Schritt. Über diese Grenze zu gehen, die ich nicht geglaubt habe, überleben zu können.
Ich habe es genau im Ohr. „Ich bin stolz auf Dich, meine Lieblingsärztin“. Das nicht mehr hören zu können, nicht mehr wissen zu können, dass er weiß, dass ich es geschafft habe, macht mich wahnsinnig. Es tut so unfassbar weh. Und gleichzeitig muss ich die Menschen wertschätzen, die da geblieben sind. Den Oberarzt, der auch einfach hätte um 12 nach Hause gehen können und bis kurz vor 20 Uhr in seinem Büro saß. Der mich nicht an die Hand genommen hat, damit ich lerne es alleine zu machen, aber der bis in die Abendstunden sofort verfügbar war, wenn ich unsicher war und der damit an meiner Seite gegen die Angst gekämpft und mir ermöglicht hat, an mir selbst zu wachsen. Man kann von ihm halten, was man will – aber ohne ihn wäre ich auch nicht dort, wo ich heute bin.

Und jetzt ist es wahrscheinlich ein Gefühlschaos. Aus Dankbarkeit, tiefem Schmerz, viel Trauer und auch der Erkenntnis, dass die Toten keine Zukunft sein können. „I’ve lost all my future memories“, war mal eine Aussage auf einem Vortrag von einer Frau, die auch einen Angehörigen durch Suizid verloren hatte. Aber dazu an anderer Stelle mehr. Mein Kopf streikt schon wieder.

Liebe Grüße
Und vielen Dank an alle, die an mich gedacht haben.

Mondkind

Kommentare

  1. Ich bin - unbekannterweise - stolz auf dich, dass du den ersten Dienst hinter dich gebracht hast. Achte auf dich, liebe Mondkind.

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    1. Danke Dir. Ja, ich versuche auf mich zu achten. Bis das mal Routine wird (und nicht jeder Dienst wird so ruhig sein), wird noch viel Zeit vergehen. Aber ich hoffe, dass ich das schaffe.

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