Vor dem ersten Dienst und ein paar Erinnerungen
Die Mondkind sitzt am Tisch im Wohnzimmer.
Die Kerze brennt – wie immer, wenn ich zu Hause bin.
Neben mir liegen allerhand Zettel mit Verfahrensanweisungen aus
unserem Intranet, die ich Freitagabend zu später Stunde noch ausgedruckt habe.
Sie sollen mir nochmal ein bisschen Sicherheit geben. Vor morgen. Vor dem ersten
„ersten Dienst“.
Und das sind übrigens auch die Zettel, die ich für den Oberarzt
überarbeiten soll. Habe ich am Freitag am Rand in der großen Frühbesprechung
heraus gefunden. Mehr als 100 Dokumente sind das, die veraltet sind und eine
Aktualisierung brauchen. Ehrlich gesagt… - ich glaube, es wird wirklich das
Beste sein, meine freie Zeit so zu verbringen. Da lerne ich noch etwas nebenbei
– verschafft vielleicht Sicherheit vor den ersten Diensten.
Morgen ist Nikolaus. Und es sind diese Tage, die so feste Landmarken
im Jahr sind, die immer wieder Frage mit sich bringen: Was haben wir heute vor
einem Jahr gemacht? Der Freund und ich. Wie weit waren die Weihnachtsplanungen?
Es ist der Moment, in dem ich das Handy nehme. Den whatsApp – Verlauf suche,
der mittlerweile ein ganzes Stück nach unten gerutscht ist. Die letzte
Nachricht ist immer noch nicht durchgestellt und manchmal wüsste ich gern, wo
dieses Gegenstück, sein Handy, jetzt ist.
Ich scrolle nach oben. Ewig. Bei der Masse an Nachrichten. Bis ich im
letzten Dezember ankomme. Um die Nikolauszeit. Und als ich unseren Stimmen von
damals erlaube durch den Raum zu klingen, spüre ich ein Zipfelchen von dieser Welt,
die wir damals hatten.
Ich rekapituliere, dass es mir letztes Jahr im Dezember sehr schlecht
ging. Mittlerweile musste ich auf der Stroke Unit Spätdienste machen, habe mich
bisweilen völlig überfordert gefühlt ab 16:30 Uhr bis 21:30 Uhr für zwei
Stationen nach zweieinhalb Monaten im Job ganz alleine zuständig zu sein. Und
eigentlich wusste ich auch, dass der Spätdienst in der Notaufnahme aushelfen
muss. Und das auch freiwillig tun sollte. Und das nicht so gerne gesehen wird,
sich auf der Station zu verstecken. Aber ich hatte zu viel Angst. Vor der
Notaufnahme. Vor dem Drama da vorne. Um die Einhaltung von Zeiten, um die
Entscheidungen, um die Frage, wie man ein besseres Outcome hätte erzielen
können, obwohl bei manchen Patienten sicher am Ende die Frage bleibt, ob das
überhaupt möglich gewesen wäre.
„Mondkind, ab Januar solltest Du dann erste Dienste machen…“ Das war
ein Satz der potentiellen Bezugsperson in den ersten Tagen des Dezembers. Ich,
die bis dahin knapp drei Monate Berufserfahrung haben würde, noch nie in der
zentralen Notaufnahme gearbeitet hat, und unter viel innerem Widerstand gerade
mal die Stroke Unit alleine händeln kann.
Und dann… die Weihnachtszeit… - das war immer ein mittelschweres Drama. Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass es mit dieser Familie so schwer ist. Und an keiner Stelle im Jahr wünsche ich mir so sehr ein paar Tage lang heile Welt.
Die Klinikfrage stand mal wieder Raum. Wie des öfteren in all den Jahren. Meistens hatte ich mich am Ende dagegen entschieden. Weil da immer die Frage war, ob dieser Bruch im Alltag nicht am Ende mehr kaputt macht, als dass es heilt. Ich war in der Probezeit, erst ein paar Wochen im Job. Ich konnte viel verlieren.
Unsere Sprachnachrichten. Seine Stimme in meinem Ohr. Immer noch so
vertraut. Ein bisschen alte Welt.
Was wäre gewesen, hätte ich damals schon gewusst, dass unsere Zeit
miteinander so endlich ist…?
"Guten Morgen,
Du hast gestern Abend noch angerufen, aber ich habe schon gepennt –
ich hatte Fieber, aber heute ist es wieder viel besser. Ich hoffe, Dir geht es
auch besser. […] Dann, wenn ich Zeit habe, dann fahr ich mal rauf ins Klinikum
in die Cafeteria zum Mittagessen und vielleicht kann ich mich ein bisschen für
Dich umhören."
Und ein paar Stunden später:
"Hey also Folgendes,
ich war jetzt gerade essen in der Cafeteria, der [sehr geschätzte Herr
Psychiater] war da und dann habe ich noch meine Lieblingskollegin von der
Station gesehen und habe mir ihr noch ein bisschen gequatscht. Ich habe mich
mal umgehört, wie es da zur Zeit aussieht. Also, die Station ist relativ leer,
falls Du Dich also dafür entscheiden möchtest, geht es gerade. Sie hat gesagt,
erfahrungsgemäß kommen die Leute eher nach Weihnachten, weil sie sich noch so
durch Weihnachten durchschleppen. Also sieht es nicht schlecht aus. Und [der sehr
geschätzte Herr Psychiater]… - wenn er heute da ist, ist er vielleicht auch
zwischen den Feiertagen da. Überleg’s Dir einfach… - ich fahre jetzt noch in
die Stadt runter, erst ans Rheinufer und gehe in die Bibliothek…“
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letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt in der Studienstadt |
Am Ende habe ich dann sogar nochmal mit der Station telefoniert und die haben gesagt, dass eine Aufnahme über Weihnachten bis in die ersten Tage des neuen Jahres grundsätzlich denkbar wäre, wenn mir das über die gefürchteten Feiertage hilft. Ich dürfte auch tagsüber raus und könnte Freunde in der Studienstadt besuchen, aber vielleicht wäre das nicht schlecht, wenn ich in dieser emotional schwierigen Zeit meinen Zufluchtsort in der Klinik hätte und dort auch mit dem Personal die Tage reflektieren könnte.
Der Freund und ich haben dann abgemacht, dass ich dann ja tagsüber über Weihnachten - zumindest an dem Teil der Tage, an denen er nicht bei seinen Eltern sein würde - bei ihm sein könnte und dann halt abends zurück in die Klinik fahre. Von Hauptbahnhof zum Hauptbahnhof der Nachbarstadt, in der er zu dem Zeitpunkt wohnte, hätten wir 15 Minuten gebraucht.
Der Plan war wirklich ganz gut, die hatten dann irgendwann auf der
Station sogar ein Bett für mich organisiert… - bis der Chef darauf kam, dass
ich doch an Weihnachten Stroke – Dienste machen sollte. Drei Tage lang. Mein
Plan, das mit ganz wenigen Krankheitstagen zu schaffen würde damit nicht
aufgehen und wenn nur eine Ärztin geplant ist und die dann fehlt… - ganz
schlecht.
Deshalb wurde es dann eine Entscheidung gegen die Klinik und gegen ein
gemeinsames Weihnachten mit dem Freund. Um hier runter zu kommen, hatte er in
all dem Stress wenige Kapazitäten – es bleibt halt ein Familienfest. Und
ehrlicherweise habe ich ihm auch davon abgeraten – was hätte das genützt, wenn
er sich wegen mir gestresst hätte in vollen Zügen durch das halbe Land zu
gurken und ich sowieso acht Stunden auf der Stroke Unit festhänge…?
Die Erinnerungen an diese Zeiten, die noch gar nicht so lange her,
aber irgendwie doch längst vergangen sind, sind schwierig. Auf der einen Seite
mag ich die Erinnerungen. An den Freund, an seine Fürsorglichkeit, daran, dass
wir uns wirklich blind verstanden und unterstützt haben, wo wir konnten. Die
Erinnerungen an dieses Klinikgelände, das für uns beide eigentlich immer ein
Ort von Sicherheit war.
Auf der anderen Seite… - sind es so viele Tränen. So viel Schmerz, den ich fast physisch fühlen kann. Diese Welt von
damals ist auf allen Ebenen zerfallen. Der Freund weilt nicht mehr auf der
Erde, die Klinikerfahrungen des Sommers endeten mit dem zweiten Trauma nach dem
ersten Trauma.
Ich habe noch nie so wenig gewusst, wohin mit mir. Noch nie so wenig
Zukunft gesehen.
Stunden später streifen die Blicke die Workflows.
Sollte ich nicht allmählich minimal aufgeregt sein? Ich glaube,
irgendwo bin ich es. Ich habe heute Morgen schon allerhand Trotteligkeiten
getan. Die falsche Wäscheladung angestellt, das Fahrrad beim Einkaufen
vergessen anzuschließen, den Einkaufszettel im Laden verlegt… Irgendetwas ist
anders. Aber das kommt nicht mehr durch.
Arbeiten bis die Batterien komplett erschöpft sind oder gefangen in
diesem Schmerz. Dazwischen gibt es nichts. Kann ein erster Dienst noch etwas
schlimmer machen?
Ich melde mich bestimmt. Aber wahrscheinlich nicht mehr morgen mitten
in der Nacht. Da schlaft Ihr ohnehin alle. Drückt mir einfach die Daumen
Schönen Nikolaustag Euch!
Mondkind
Daumen sind gedrückt!
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