Blitzlichter
Und dann wachst Du nachts auf.
Und plötzlich ist es einfach da.
Plötzlich sind da Dinge in meinem Kopf, die ich so lange vergessen
hatte. Sequenzen von ein bis zwei Sekunden, die lange nachwirken. Weil es nicht nur die Erinnerungen
von damals sind, sondern auch ein Lebensgefühl. Und dass man sich so lange
nicht erinnern konnte, hatte wohl Gründe.
Bahnhof. Zwischen dem Ort in der Ferne und der Studienstadt. Anfang
Juli letztes Jahr. Tränen in meinen Augen, späte Stunde, dunkel. Eine ehemalige
Mitpatientin, die ich schon ewig nicht gesprochen hatte fragt, wie es mir geht.
Ausgerechnet an diesem Tag. „Ich bin auf dem Weg in [die Studienstadt]. Warum
das so sei, wollte sie wissen. Und dann hab ich’s ihr gesagt. Und dass ich da
gerade fast sterbe auf diesem Bahnhof, weil ich sonst immer an dieser Stelle um
diese Zeit, während ich auf den Bus gewartet habe, mit dem Freund telefoniert
habe. Und dass das jetzt nicht mehr geht und das so brutal bewusst macht, dass
sich hier gerade alles ändert. Sie ruft an und bleibt am Telefon. Ewig. Damit
ich nicht eingehe dort. Obwohl sie arbeiten muss am nächsten Früh. Und es
mitten in der Nacht ist und der Bus darüber hinaus noch eine Stunde Verspätung
hat.
Ich bin ihr so dankbar. Manchmal sind solche Psychiatrie –
Bekanntschaften unbezahlbar.
Ich an einem Tisch. Vor mir mein Laptop. In den ich einfach alles
tippe, was mir so durch den Kopf geht. Weil das viel ist. Weil ich non – stop reden
könnte, aber das gerade nicht geht. Neben mir eine Tasse mit Therapeutentee. Auf meinen Ohren Johannes Oerding - "wenn Du gehst" auf Dauerschleife.
Und irgendwie ist es okay. Es interessiert niemanden, wer hier was
tut, alle von uns sind so mit sich selbst beschäftigt, dass es nicht auffällt,
dass ich dort sitze, weine und schreibe. Auf der geschützten Station.
Und irgendwie wünsche ich mir diese Zeit zurück. In der die Welt auf
zwei Flurlängen begrenzt war, in der ich ganz sicher war, weil man da auch
einfach nicht weg konnte und umgekehrt halt niemand, der dort nicht hingehörte,
auf die Station drauf konnte. Ich kann es nicht mehr ertragen, dieses „Mondkind
der Patient in Zimmer Zwei will noch etwas von Dir und der in Zimmer Fünf
auch.“ Und letzte Woche habe ich mir die Geschichte vom Suizid einer Tochter
einer Patientin angehört und natürlich bin ich verständnisvoll, höre zu, stelle
ab und an mal eine Frage, aber so leid es mir tut: Irgendwie denke ich mir auch
„lasst mich alle in Ruhe.“ Ich kann nichts mehr geben, das ich einfach nicht
mehr habe.
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Ich kann mich erinnern... Vielleicht auch durch dieses Bild... |
Bahnhaltestelle. Irgendwo in der Nähe der Uni. Irgendwann zu
Studienzeiten. Wohin ich unterwegs war, weiß ich nicht mehr.
Lebensgefühl.
Das damals so anders war. Mir war immer klar, dass ich nie alt werde.
Weil ich die ersten Dienste nicht erleben werde. Ziel ist es vielleicht es mit
Hilfe von viel Therapie und Unterstützung, es bis dahin zu schaffen. Nichts was
ich entschieden habe, war für die Ewigkeit entschieden. Leben von Woche zu
Woche, von Monat zu Monat. Bindungen konnten nicht zu eng werden. Um die
Menschen vor mir zu schützen. Der Umzug in den Ort in die Ferne sollte das
letzte Kapitel werden. Das letzte kurze Kapitel.
Jeder Sommer war ein Geschenk. An mich. Dass ich es nochmal geschafft
hatte, einen zu erleben. 2019 würde der letzte Sommer werden. Dass ich bis
Sommer 2020 ohne Dienste hinkomme, wäre wohl unwahrscheinlich. Der Abschied von
der Studienstadt damals war auch ein bisschen ein Abschied vom Leben. Dass doch
noch irgendwie ganz gut geworden war auf den letzten Metern.
Mein Hirn explodiert. Ich kann es nicht mehr händeln. Weil es mir auch
so viel Angst macht. Weil da irgendetwas so sehr zerbricht, dass ein Funken
mehr mich gerade auf den Boden schmeißen würde.
Und gestern spät nachmittags sitze ich mit der potentiellen
Bezugsperson im Pausenraum. Erzähle. Von den Blitzlichtern. Weil ich es nicht
mehr schaffe bis Mittwoch. Er sitzt entspannt in der Ecke und hört tatsächlich
mal relativ ruhig zu, wie ich meine Blitzlichter zusammen bastle.
Und dann reden wir über Damals. „Mondkind seit wann hattest Du
eigentlich den Plan Dich umzubringen?“, fragt er irgendwann. „Lange. Weiß ich
gar nicht genau. Ich glaube ich habe darüber schon als Kind nachgedacht, aber
so richtig konkret wurde es dann als ich in ersten Praktika gemerkt habe, dass
dieser Job einfach falsch für mich ist und ich geglaubt habe, dass ich eher die
Patienten umbringen werde, als dass irgendetwas anderes passiert. Zwischendurch
gab es immer mal so wackelige Zwischenposten. Wie das Examen oder solche Dinge.
Das war immer so ein „weiß ich nicht was passiert.“ Aber der ersten Dienst war
der definitive Endpunkt. Und der wäre es ja auch fast geworden.“ Warum ich mein
halbes Leben sterben wollte, fragt er mich. „Ich glaube, die Schwelle für die
Suizidalität war unglaublich niedrig. Ich hatte nichts, an dem ich hing. Für
das es sich gelohnt hat. (Und paradoxerweise hing ich wohl auch nicht genug am
Freund, so ehrlich muss man sein). Vielleicht ist das nur ein Teil der
Erklärung. Aber dadurch bin ich bei Problemen schnell immer wieder dahin
gerutscht. Es gab und gibt keinen Gegenpart.“ Und – so merkt er an – ist es
natürlich auch eine bequeme Exitstrategie und kann Ängste besser im Zaum
halten.
Wir kommen von einem aufs andere Thema. Und irgendwann fragt er mich,
warum ich es immer und immer wieder alles erzählen muss. „Geht es nicht nur
darum, sich selbst interessant zu machen und damit am Ende auch gegen die
Einsamkeit vorzugehen?“, fragt er mich. „Naja, ich glaube es gibt wesentliche
interessantere Themen, mit denen man Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, als
der Suizid des Freundes“, gebe ich zu bedenken. „Für mich geht es eher darum,
dass jetzt zum Beispiel gerade diese Erinnerungen so viel Druck in mir
erzeugen, dass ich es nicht alleine tragen kann. Und es zu erzählen bedeutet,
es ein Stück von mir weg zu rücken. Jetzt steht es irgendwo zwischen mir und
Ihnen. Und das verbessert meine Lage zumindest insoweit, als dass ich das
Gefühl habe, dass ich es irgendwie aushalten kann. Das ist vielleicht egoistisch
gedacht. Aber ehrlich.“ Lässt er so stehen.
Klinik. Mittlerweile ist er mit dem Thema fast so penetrant wie mit dem „Mondkind Du brauchst ein Auto.“ Ich versteh’s nicht. Bisher war das immer die allergrößte Katastrophe und wahlweise absolutes Versagen oder ein „Die Mondkind macht Sonderurlaub“, wenn ich wieder in der Klinik saß. Und mittlerweile drängt er regelrecht darauf, dass ein Mal in der Woche 50 Minuten Therapie absolut nicht ausreicht. „Mondkind, wenn Du mir schon erzählst, dass Du Dir eine Welt von zwei Flurlängen zurückwünscht, weil Du mehr Ansprechpartner brauchst und Dich das alles so überfordert, dann verstehe ich nicht, warum Du immer Gründe gegen die Klinik findest.“ Weil ich nicht vertrauen kann, dass sich die Meinung nicht doch wieder ändert. Weil ich nicht glauben kann, dass es dann keine Diskussionen mehr über eine psychiatrische Hängematte gibt. Weil diesen Menschen nochmal so zu verlieren wie letzten Sommer die größte Katastrophe wäre.
Ich habe irgendwie Angst.
Dass es langsam zu viel wird. Um das zu tragen.
„Mondkind, Du solltest mal auf unsere Station kommen, dann würdest Du
mehr lachen“, sagte eine Kollegin gestern zu mir. Ich schaue sie nur an. Lächle
müde, während ich mich zusammen reißen muss, dass sich die Augen nicht mit
Tränen füllen.
Noch ein Spätdienst, eine kurze Nacht und ein Frühdienst bis ich die
Therapeutin sehe. Schaffen wir, oder?
Und dann… ? Dann denken wir weiter…Donnerstag 24 - Stunden - Dienst... - ist erst nach dem Wegpunkt.
Mondkind
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