Therapieupdate: Von Subjektivität und Objektivität

Heute hatte ich zur Abwechslung mal eine sehr erkenntnisreiche Therapiestunde und deshalb möchte ich hier mal wieder etwas darüber erzählen.

Stundenbeginn. Mein Kopf ist ein einziges Wirrwarr. Weil ich gedanklich in den letzten Tagen schon von einem Thema auf das Nächste gekommen bin und es am Ende alles rund wird, aber ich muss das bei ihr von vorne entwickeln. Geschreibsel gibt es bei ihr nicht.

Ich fange erstmal damit an, mich ein bisschen aufzuregen. Über die Planung der Spätdienste auf der Stroke Unit. Weil ich zwar Spätdienste übernommen habe – und zwar ungefähr ein Viertel der Dienste des Monats, was für einen Monat Aushilfe mehr als genug ist – und man mich aber trotzdem in drei Tage eingetragen hat, wo ich aufgrund von Therapie und AGUS – Treffen nicht kann. Ohne mich zu fragen. Weil man weiß: Die Mondkind macht eh immer alles. Und insbesondere die fehlende Kommunikation hat mich so aufgeregt, dass ich deswegen schlaflose Nächte hatte. Es geht ja noch weiter mit dem Urlaubsplan, in den ich für zwei Tage Ende August wieder ungefragt eingetragen wurde. An einem Montag und Dienstag, wenn ich den Sonntag davor Dienst hatte; das gibt nicht mal ein langes Wochenende. Und dann wurden dafür aus einer Urlaubswoche im Oktober einfach so – auch ohne wenigstens Bescheid zu sagen – drei Tage raus gestrichen. Es geht so nicht. Ich möchte nicht der Spielball meiner Kollegen sein.
Das Problem mit dem Urlaub habe ich noch nicht gelöst, erstmal musste ich die drei Spätdienste aus der nächsten Woche weg tauschen. Nach drei Tagen Diskussion ist es mir gelungen. Aber jetzt habe ich ein sehr schlechtes Gewissen, und denke, dass alle maximal genervt sein müssen. Weil die Idee halt wahrscheinlich war, dass ich es einfach mache – ich tue ja fast alles, das man mir gefragt oder ungefragt aufträgt. Und irgendwie denke ich mir so: Naja ich bin ja sowieso schon eine Zusatzbelastung für alle mit meinem ständigen Mittwochstermin – da muss ich mich jetzt irgendwie anpassen und habe eigentlich nichts zu melden. Und habe ich ein Recht dazu zu versuchen, andere auf diesen Spätdienst zu schieben? Ich würde dafür ja auch andere Spätdienste nehmen, wo ich eher kann, aber trotzdem…
Darf ich meine Bedürfnisse vor die der anderen Menschen stellen? Die vielleicht noch Familie und Co händeln müssen, während ich nur mich selbst händeln muss? Darf ich beschließen, dass es mir zu viel ist, nach einer Therapie einen Spätdienst zu machen? Darf ich mich überhaupt mal auf die Hinterfüße stellen und rebellieren?
Und schon wird dieses simple Dienstproblem eine ganz elementare Frage, die es eben verdient hat in der Therapie besprochen zu werden. Darf ich Raum einnehmen? Darf man mich sehen? Darf ich nein sagen? Nicht aus einer Laune heraus, sondern weil es wirklich für mich wichtige Gründe dafür gibt?

Die Frage ob ich Raum einnehmen darf, bringt mich auch zum Freund. Ich kann mich erinnern, ich saß mal bei einem Psychosomatiker in der Studienstadt zu einem Vorgespräch (am Ende hat er mit dem ständigen Hin und Her zwischen dem Ort in der Ferne und der Studienstadt befunden, dass man mich da nicht gut kontinuierlich unterstützen kann) und irgendwann meinte er: „Was Sie beschreiben, nennt man Einsamkeit.“ Ich wollte es ihm nicht glauben. Damals war ich doch nicht einsam.
Ich kann mich erinnern auf dem Heimweg habe ich so sehr geweint in der Bahn, weil dieses Klinikgelände, auf dem ich zuvor war, so sehr emotional aufgeladen ist und ich das dann mit einem Bahnunfall in der Stadt und einer ungewiss langen Wartezeit irgendwie plötzlich nicht mehr verpacken konnte. Ich habe dem Freund dann geschrieben (oder er mir, ich weiß es nicht mehr). Jedenfalls hat er dann angerufen und meinte fast vorwürflich: „Mondkind ich habe Dir doch gesagt, dass ich Dich da hoch begleite, weil ich wusste, dass es für Dich schwierig wird. Aber Du wolltest es ja nicht.“ Und ich weiß, wie ich mir dachte: Ich hätte schon gewollt. Aber was hätte es ihm genützt? Er gurkt in eine Richtung 30 Minuten durch die Stadt mit mir, wartet während des Gesprächs und gurkt zurück – wie undankbar ist das denn? Nur weil mich das Klinikgelände emotional überfordern könnte, ich könnte mich ja auch einfach zusammen reißen. Da habe ich einfach selbst beschlossen, dass es ihm das nicht wert sein sollte.

Und wenn ich so über die Einsamkeit, über die der Psychosomatiker und ich gesprochen haben nachdenke, dann überlege ich: Vielleicht gab es eine Zeit, in der ich tatsächlich nicht einsam war. Aber mich so gefühlt habe, weil ich entschieden habe, dass niemand seine Zeit für mich opfern sollte. Ich habe ihn selten gefragt, ob wir uns treffen können – selbst wenn ich mal Zeit hatte - weil ich immer dachte: Vielleicht hat er etwas Besseres zu tun. Allerdings, wenn er es vorschlägt; dann ist das etwas anderes, dann nehme ich nicht mehr Raum ein, als ich sollte.
Wenn ich so zurück denke – ich habe es vielleicht nicht ausreichend wahrgenommen – hat der Freund öfter mal gefragt, ob er hier runter fahren soll. Damals hatte er noch seinen Job und er hat immer gesagt: „Mondkind, auch wenn ich nur für einen Tag fahre, das ist es mir wert.“ „Bist Du verrückt – weißt Du wie ewig Du im Zug sitzt…?“, habe ich ihm dann immer gesagt und für ihn entschieden, dass es das nicht wert ist. Für ihn. Weil ich ehrlich gesagt zu müde war, die Tour andersherum zu fahren und zwischen Freitag und Sonntag mal schnell zu ihm hoch zu fahren. Und immer überlegt habe, dass er doch auch müde sein muss. (Keine Faulheit, kein Nicht – sehen – wollen, wirklich Müdigkeit. Ich bin schon lange sehr müde. Ein Besuch war etwas anderes, als hier zu wohnen, damit hatte ich lange meine Sorgen; gebe ich zu, aber ich hätte ihn gern öfter gesehen).
Das würde zumindest ein bisschen erklären, wieso ich auch vor Jahren – als der Freund noch gelebt hat – immer das Gefühl hatte, alleine zu sein. Auch der Blog dokumentiert das und für mich ist das heute ein ganz großes Rätsel, weil ich objektiv gesehen nicht einsam war. Es erklärt vielleicht auch ein bisschen, wieso das Umfeld mir eine nachträgliche Konstruktion der Geschichte zwischen dem Freund und mir unterstellt. Da war nichts konstruiert. Das war immer echt. Das haben wir auch gespürt. Aber wir haben es nicht vernünftig kommuniziert.

Und die Frage nach subjektiven Erleben und objektiven Tatsachen bringt mich zum nächsten Punkt. Ich habe letztens in einem Forum zum Thema Trauern mal Folgendes gelesen: „Meine Trauerbegleitung sagte mir ganz am Anfang, vieles muss so oft gesagt werden, bis man das Gefühl hat gehört worden zu sein.“ Bis man das Gefühl hat, gehört worden zu sein… Ich habe ehrlich gesagt nicht das Gefühl, dass ich ausreichend gehört worden bin. Obwohl ich – das muss man sich klarmachen – die Geschichte mit dem Freund und mir mittlerweile schon einige Mal erzählt habe; der potentiellen Bezugsperson sogar schon mehrfach. Aber klar – wenn ich mir überlege, dass er sich immer wieder dasselbe im Kreis anhört, während ich immer noch das Gefühl habe die Geschichte zum ersten Mal zu erzählen – vielleicht ist das ein bisschen wie Demenz für das Fühlen – dann kann ich schon nachvollziehen, warum er mittlerweile genervt davon ist. 


 

So… - heftige Gedankenschleifen und Gedankensprünge. Und dann soll sich nochmal jemand wundern, warum ich ständig müde bin, wenn ich nur Gehirnakrobatik betreibe oder über Krankenhausflure rase.
Die Therapeutin lobt mich erstmal, dass ich meine Grenzen aufgezeigt habe und mich gegen die Dienste gewehrt habe. Es ist okay, dass ich ein schlechtes Gewissen habe und es mir mit den getauschten Diensten aktuell ungefähr genauso schlecht geht wie vorher, aber es werde besser mit der Übung. Letzten Endes sei es wichtig die eigenen Grenzen und auch die der Anderen zu spüren, um sich selbst zu fühlen. Und ich arbeite genug, sagt sie. Es sei ein Unterschied, ob man mal aus triftigen Gründen wirklich nicht kann, oder ob man sich um die Arbeit drückt. Und es sei ja auch keinem geholfen, wenn ich dekompensiere, weil ich meine Termine nicht wahrnehmen kann.

Dass ich auch geglaubt habe für den Freund keine Last sein zu dürfen, sieht sie vor dem biographischen Hintergrund als völlig logisch an. Man hatte in dieser Familie am Besten unsichtbar zu sein, wie soll ein Gehirn – dass das gar nicht richtig reflektiert hat – da bei dem Freund plötzlich anders drauf sein? Vielleicht hätte er mich wirklich gern zu meinen Terminen begleitet – zur „normalen“ Therapie auf dem Unigelände durfte er mich ja auch bringen und wieder abholen, das war nicht weit, aber eben nicht durch die halbe Stadt. Vielleicht hätte er sich gern die Mühe für mich gemacht und wäre an einem Wochenende durch das halbe Land hin und her gegurkt, nur um mich ein paar Stunden zu sehen. Vielleicht wäre ich ihm das wert gewesen. „Er hat Sie wirklich sehr geliebt“, sagte seine Mutter. Ein Satz, der heute noch wärmt und gleichzeitig so unglaublich weh tut. Ich glaube, mich hat nie ein Mensch bedingungsloser geliebt, als er. Ob er mein eher ablehnendes Verhalten, was kein Ablehnen von seiner Person, sondern eher meiner eigenen Person war als persönliche Ablehnung interpretiert hat, kann keiner mehr sagen. Er könnte es sagen, aber er ist tot. Und das zerreißt mir seltsam das Herz. Ich wollte ihn nicht ablehnen. Ich wollte nur nicht, dass er sich für mich stresst.
„Vielleicht war er ungefähr genauso gestrickt wie Sie“, merkt Frau Therapeutin an. „Vielleicht hat er sich auch gedacht: Ich kann der doch jetzt nicht auf der Tasche liegen, wenn ich zu ihr ziehe und erstmal keinen Job habe und dann muss sie mich durchfüttern. Meine viel jüngere Freundin muss mich finanzieren.“ „Aber das mit dem Job wäre für mich kein Problem gewesen“, sage ich. „Obwohl ich weiß, dass er sich sehr dafür geschämt hat. Er hat es mir erst gar nicht gesagt, als er seinen Job verloren hat, obwohl es ihn unglaublich belastet haben muss, das weiß ich. Er hat es einfach irgendwie mit sich selbst ausgemacht und das hat mir so unglaublich leid getan, weil ich ihn für nichts verurteilt hätte. Mir ging es nicht um den Job, das Geld das er verdient hätte, oder um was auch immer. Ich wollte diesen Menschen in meinem Leben haben, unabhängig von allen äußeren Faktoren.“

Und hinsichtlich des Gefühls bislang nicht gehört worden zu sein, stimmt sie mir zu. „Es immer und immer wieder zu erzählen ist auch eine Form von Verarbeitung. Und Sie brauchen da einfach noch ganz lange Zeit. Aber mir können Sie es immer wieder erzählen.“ „Dafür reicht die Zeit aber nicht“, sage ich. „Zum Einen bringt mich das halt in der Therapie nicht weiter und zum Anderen könnte ich darüber jeden Abend einen kleinen Monolog halten."
Sie meint, sie muss sowieso demnächst einen Verlängerungsantrag stellen. (Irgendwie tut sie das ständig, das ist schon der Dritte, keine Ahnung, was sie da die ganze Zeit macht). Wir könnten eine „echte Psychoanalyse“ draus machen, schlägt sie vor. Dann hätten wir zwei Stunden pro Woche. Aber meinem Chef zu erklären, dass ich zwei Tage mittags mal flott weg muss… - mh. Muss ich mit der potentiellen Bezugsperson mal klären, wenn er nächste Woche nach seinem Urlaub hoffentlich wieder mit mir spricht…

Am Ende rede ich ganz kurz über die Studienstadt. Dass meine Schwester dort war. Nur wenige Fotos geschickt hat. Nur eins, um genau zu sein. Das vom Fahrrad. Und wenn ich es mir anschaue dann spüre ich, dass ich immer noch keinen Fuß in die Stadt setzen kann. „Ich glaube wirklich zu erleben, dass er diese Wege, die wir beide so gut kennen nicht mehr an meiner Seite läuft… - Ich weiß nicht, ob ich daran nicht zerbreche.“ Es eilt nicht, sagt sie. Wenn es an der Zeit ist. Vielleicht ist es das noch nicht. Obwohl ich es mir so sehr wünsche zurück zu kommen. In diese Stadt. Von der ich bei der letzten Abreise nicht wusste, dass die Rückkehr so schwierig sein würde und so lange dauern würde.

Und jetzt sitze ich hier und weine ganz viel. Irgendetwas bewegt sich da. Es tut mir leid, wenn ich gemein zu den Menschen um mich herum war, weil ich glaube, dass sie mich nicht hören, obwohl sie mich hören. Das kommt eben nur nicht an bei mir. Es tut mir leid, wenn ich den Freund verletzt habe, obwohl ich das nicht wollte. Weil wir das irgendwie alles nicht richtig kommuniziert haben, weil uns unsere Glaubenssätze vielleicht im Weg standen, weil es vielleicht schon Sinn macht wenn man sagt, dass zwei psychisch Kranke nicht versuchen sollten eine Beziehung zu führen. Und ich weine, weil ich nicht glauben möchte, dass wir das nie klären werden. Dass ich irgendwann einfach meine Füße in die Stadt setzen werde, spüren muss dass er fehlt und realisieren muss, dass ich den Menschen verloren habe, der mich bedingungslos geliebt hat.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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