Von einer Dienstnacht
Mal wieder ein 24 – Stunden – Dienst von Donnerstag auf Freitag.
Ich komme um 10 Uhr auf die Arbeit, schaue kurz nach meinen Patienten
auf der Schlaganfallstation und dann geht auch schon die Visite los. Heute
entlassen wir viele Leute wahlweise nach Hause oder in die Reha, deshalb ist
die Station am Nachmittag dann halb leer gefegt und wir schreiben alle Briefe
wie die Verrückten.
Am Nachmittag kommen wieder ein paar Patienten über die Notaufnahme.
In mein Zimmer kommt kurz bevor ich zum Dienstantritt in die Notaufnahme muss
noch ein Patient, der gekrampft haben soll. „Okay, noch kurz Medikamente
angeben, dem Patienten Hallo sagen und dann in die Notaufnahme“, denke ich.
Aber so einfach ist es mal wieder nicht. Dialysepflichtig, erst seit wenigen
Monaten, seitdem die Krampfanfälle, die lange als Kreislaufkollaps gewertet
wurden. Eine abenteuerliche Medikamentenliste für einen Dialysepatienten und
eine Frau von der ich – wenn sie schon mal da ist – noch kurz eine
Fremdanamnese einholen kann. Und dann muss ich noch flott eine Dialyse für den
nächsten Tag über unser Krankenhaus für den Patienten organisieren. Weil ich
dann etwas spät dran bin, kommt der Kollege der tagsüber die ZNA hatte hinter
zu mir ins Arztzimmer gelaufen und bringt mir das Telefon. „Versteckst Du Dich hier?“,
fragt er. „Nein, ich musste mich nur noch kurz um einen Dialysepatienten
kümmern, ich wäre sofort gekommen“, entgegne ich. „Aktuell ist es ruhig
Mondkind, Keiner ist in der Notaufnahme“, sagt der Kollege. „Ruhigen Dienst…“
Ich dachte eigentlich schon, dass ich vielleicht noch schnell meine zwei Briefe schreiben könnte die noch bis morgen ausstehen, aber da habe ich die Rechnung ohne die Notaufnahme gemacht. Fünf Minuten später klingelt mein Telefon. „Mondkind da kommt in 10 Minuten ein Schockraum. Junge Dame, Zustand nach Treppensturz, Verdacht auf Querschnitt.“ Na super. Im Endeffekt ist es alles sehr schräg. Kein einziger Kratzer vom Treppensturz, aber die Patientin gibt an, die Beine nicht heben zu können und kein Gefühl in den Beinen zu haben. Meine kleinen Tricks, die ich mittlerweile kenne legen den Verdacht einer funktionellen Störung nahe, aber das ist immer so eine Sache. Ich rufe meinen Oberarzt an und spreche mit den Neurochirurgen. Die Traumaspirale ist unauffällig und wir beschließen: Kein Notfall – MRT. Aussitzen.
Bis 21 Uhr sehe ich sieben Patienten. Zum Glück ist nichts davon eine
komplette Katastrophe und erfordert meine sofortige Aufmerksamkeit, denn was
mich an diesem Abend tatsächlich mehr fordert als die Patienten, ist der Kampf
um die Betten. Die Internisten und die Unfallchirurgie sind schon wieder
abgemeldet und irgendwann spricht sich herum, dass ich die Einzige bin, die auf
ihrer IC – Station noch freie Betten hat. Nur leider ist meine IC – Station eine
überregionale Stroke Unit; wir sind für fünf Landkreise verantwortlich und wir
müssen aufnehmen und auch immer aufnahmebereit sein. Ich kann nicht meine
letzten Betten mit Außenliegern anderer Fachrichtungen belegen. Eigentlich.
Mein Oberarzt hatte am Nachmittag noch mit dem Chef der Internisten
telefoniert und ihnen ein oder zwei Betten versprochen; ich hatte es nicht mehr
genau mitbekommen. Jedenfalls bestehen die Internisten auf ihre beiden Betten,
meine Schwestern steigen mir aufs Dach, weil sie natürlich auch nicht gut mit
internistischen Polytraumen umgehen können. Dazwischen rufen mich noch
verzweifelt die Unfallchirurgen an, bei denen eine Patientin auf der
Normalstation mit dem Blutdruck abgerauscht ist und ein IC – Bett braucht, das
die nicht mehr haben. „Sie müssen mir helfen – ich muss sie sonst mit
Notarztbegleitung in eine andere Klinik verlegen und dann fährt der Notarzt aus
dem Landkreis die Verlegung und kann sich in der Zeit nicht um andere Patienten
bei uns kümmern.“ Am Ende gebe ich ihm ein Bett. Aber nur unter der Maßgabe,
dass ich – sollte ich jetzt noch einen akuten Schlaganfall bekommen – das Bett
sofort zurück bekomme und er sich dann eben doch um eine Verlegung seiner
Patientin kümmern muss.
Es ist schon fast Mitternacht. Ich rase noch mal bei der jungen Dame,
die von der Treppe gestürzt ist, vorbei. „Waren Sie schon zur Toilette?“, frage
ich sie. „Ja“, entgegnet sie. „Das heißt Sie können aufstehen?“, frage ich. „Ja….“,
entgegnet sie gedehnt. „Dann versuchen wir das jetzt“, erkläre ich. Sie steht
auf mit mir. Läuft. Auf Zehenspitzen, auf den Fersen, steht auf einem Bein. Nix
mit motorischem Querschnitt. Auch die Sensibilitätsstörungen sind rückläufig.
Ein Glück…
Danach rase ich weiter auf die Kardiochirurgie sechs Stockwerke höher,
wo noch ein Konsil auf mich wartet, als mich die Schwestern von meiner Stroke
Unit anrufen. „Mondkind, der eine Patient krampft schon wieder“, sagen sie. Ich
nenne zwei Medikamente, die sie geben sollen. Und schärfe ihnen ein mich
anrufen, falls er nicht aufhört in den nächsten fünf Minuten. Ich bete, dass er
nicht mal irgendwann in den Status rutscht. Seit zwei Tagen betreiben wir
Diagnostik auf Turbo – Geschwindigkeit, kippen alles an Antiepileptika in ihn
rein, das man rasch aufdosieren oder zumindest überbrückend nehmen kann und er
hört trotzdem nicht auf. Ich bin gerade wieder auf dem Weg auf die Station, als
das Telefon erneut klingelt. „Mondkind, wir haben ein Blutbad.“ Ein deliranter
Patient hat sich die Nadel gezogen und das ganze Bett ist voller Blut. Schnell
beseitigen wir das Schlimmste, ich mache noch eine Hb – Kontrolle und bete,
dass wir jetzt nicht noch anfangen müssen zu transfundieren. Der Hb ist aber
zum Glück nicht weit gesunken.
Nach ein paar weiteren kleinen Wehwehchen ist es schon fast zwei Uhr.
Ich sitze mit einem Kaffee mal zumindest an einem der beiden Briefe, die ich
bereits am Nachmittag des Vortages hatte schreiben wollen. Aber langsam kehrt
Ruhe ein in dieser Nacht. Auch wenn ich trotzdem nicht schlafen werde.
Aber das war ein guter Dienst. Keine kompletten Katastrophen. Alles am
Ende irgendwie händelbar. Heute mal eher organisatorische als medizinische Katastrophen. Kommt auch vor.
***
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Ausblick von der Stadtmauer. Wer genau hinschaut erkennt die Gebäude der alten Klinik auf dem Berg. |
Nächster Morgen. Nach der Frühbesprechung, wo mein nächtliches Bettenmanagement
abgenickt wurde und alle Konsile und Aufnahmen besprochen wurden, sitze ich im
Arztzimmer, schreibe meine Briefe fertig und werte noch ein paar EEGs aus.
Patientenverteilung. Der Oberarzt kommt hinter uns ins Arztzimmer. „Wie
sollen wir es machen – soll ich noch mit auf Visite?“ „Nein Mondkind, Du gibst
Deine Patienten heute ab… - wobei Dir natürlich wieder ein dreiviertel der
Station gehört…- aber Du hast Sonntag schon wieder Dienst.“ „Die halbe Station“,
korrigiere ich und übergebe meinen Kollegen die Patienten.
Urlaubsplanung.
Eigentlich hätte ich Montag und Dienstag frei. Um die ich nicht
gebeten habe, die einfach irgendwer in den Urlaubsplan geschrieben hat. Hätte
eine Kollegin mich nicht drauf hingewiesen, hätte ich es nicht mal gemerkt.
Zwei Tage bringen mich aber gar nicht weiter. Denn wenn ich Sonntag Dienst habe
und somit nicht mal ein langes Wochenende komme ich in der Zeit weder in die
Studienstadt noch dazu, das Grab des Freundes zu besuchen, zumal ich Montag müde
sein werde.
Der Oberarzt weiß schon von den neusten Sorgen. Angst. Ich bin
empfindlich geworden seit dem Tod des Freundes und sofort wenn etwas in meinem
Umfeld nicht normal läuft, habe ich Angst. Diejenigen die das mittlerweile
wissen sagen schon: „Keine Angst Mondkind, es ist niemand gestorben“. Und für
diesen Hinweis, der mich beruhigt, bin ich immer sehr dankbar. Das ist aber zumindest eine konkrete, wenn auch wenig rationale Angst.
Was allerdings sehr gemein ist seit einer knappen Woche, ist so eine
ganz diffuse Angst. Ich könnte hier die Wände hoch gehen, wenn ich alleine zu
Hause bin, weil ich das Gefühl habe, dass mit mir oder um mich herum etwas ganz
Schlimmes geschieht, das ich nicht mehr händeln kann. Da ist die Arbeit eine
gute Ablenkung – es geht mir besser, wenn ich mich mit den Sorgen der Patienten
auseinander setzen kann.
„Mit diesen beiden Tagen Urlaub kann ich ohnehin nichts anfangen und
ich werde wahnsinnig zu Hause. Darf ich auf die Arbeit kommen?“, frage ich
meinen Oberarzt. Er klärt es noch, aber wahrscheinlich ja. „Und genau deshalb
ist das was wir besprochen haben alternativlos Mondkind“, schließt er unsere
Diskussion. Klinikdiskussion. Seit Wochen. Ich möchte es eigentlich nicht. Zu
tief sitzen die negativen Erfahrungen mit dem Umfeld, obwohl ich schon denke,
dass es vielleicht in einer neuen Klinik, die meine Geschichte noch nicht
kennt, besser werden kann. Und irgendwie genieße ich das mittlerweile doch –
trotz auch immer wieder auftretender Rückschläge – mit beiden Beinen im Job zu
stehen und wenn ich nachts über die Flure rase, dann fühle ich mich manchmal
schon sehr privilegiert, dass ich in der Lage bin zusammen mit meinem Oberarzt
im Hintergrund die Neurologie in unserer Umgebung durch die Nacht zu führen.
Aber privat wird nichts besser. Eher das Gegenteil.
Auf dem Heimweg laufe ich ausgerechnet dem Chef der Psychosomatik über
den Weg. Dem, den ich irgendwann im Oktober oder November letzten Jahes
gegenüber saß. Einer der ersten Menschen im professionellen Helfersystem, der
mich nicht von vorher kannte. Der mich nur mit dem Verlust des Freundes kennen
gelernt hat. Der nicht so kritisch war. Der nicht gesagt hat: „Hat sie vorher nicht
oder nur sehr wenig drüber gesprochen, kann entweder nicht so schlimm sein oder vielleicht hat der
Typ auch einfach nie existiert.“
Wir werden uns ein „Hallo“ zu. Ich frage mich, wer ich für ihn bin.
Die Neurologin, die ich eben auch bin. Oder diejenige, die ihren Freund
verloren hat. Und ein Jahr später offensichtlich immer noch steht. Oder schon
wieder.
Mondkind
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