Vom Nachtdienst und dem Ende des Nesthäkchen - Status

 „Mondkind, wenn Du in Deinem Dienst nichts zu tun hast – ich weiß, das kommt selten vor - bring nochmal Deinen Patienten ins Doppler, wir schauen uns an, ob die ACI wirklich zu ist.“
In der Notaufnahme sind bei der Übergabe noch zwei Patienten, aber die hat die Kollegin aus dem Tagdienst schon fertig betreut, von daher habe ich tatsächlich nichts zu tun, hole mir den Patienten und schaue mir das Gefäß zuerst selbst an, ehe ich den Oberarzt rufe. Das ist eine gute Gelegenheit, um selbst zu lernen. Er zeigt mir dann noch, wie ich einen Crossflow erkenne, was ich noch nicht ganz verstanden habe, ich muss mich damit am Wochenende nochmal auseinander setzen. „Mondkind, wenn ich Dir alles zeige, dann brauchst Du bald keine Oberärzte mehr…“, kommentiert er. „Schön wär’s“, entgegne ich.
Bei ihm klingelt das Telefon. Er knurrt etwas. „Mondkind, die Kardiologen haben um 16:30 Uhr ein Konsil angemeldet. Sie hatten den ganzen Tag dafür Zeit, aber sie machen es jetzt. Ich muss weg, kannst Du für mich das Konsil machen?“, fragt er. „Ja klar“, entgegne ich.

Mein erster Patient des Dienstes ist also ein russisch sprechender Patient, der wirklich kein einziges Wort deutsch oder englisch spricht. Irgendwer will herausgefunden haben, dass er eine Beinschwäche hat – allerdings schon seit heute früh. Aber selbst mit Zeichensprache versteht er gar nicht, was  ich von ihm will. „Wir machen ein CT und schauen uns an, ob wir einen Schlaganfall sehen“, erkläre ich dem Stationsarzt. „Lysieren können wir eh nicht, wir sind aus dem Zeitfenster raus und darüber hinaus hat er einen Heparinperfusor laufen und nicht genug Punkte im NIHSS, dass sich die Indikation für eine CT – Angio ergibt. Wenn ich Zeit habe, mache ich nachher ein flottes Doppler.“

Wenn ich Zeit habe… - der war gut. Danach geht es nämlich los mit Patienten in der Notaufnahme. Zwischendurch habe ich eine junge Patientin, die ein wenige Wochen altes Kind hat. „Mein Mann ist draußen mit dem Kind und das wird wohl langsam wieder Hunger haben“, sagt sie zwischendurch. „Darf ich hier vielleicht stillen?“, schiebt sie hinterher. Zu dem Zeitpunkt ist gerade niemand anders in der ZNA. „Hängen Sie es nicht an die große Glocke mit Corona und Co, aber klar“, entgegne ich. Die Krankenschwester geht den Mann holen. Es entsteht ein kleines Gespräch zwischen uns, als der Mann da ist. „Darf ich so indiskret fragen, ob Sie auch Kinder haben?“, fragt er mich. „Ich habe nicht mal einen Freund“, erkläre ich, während ich ein seltsames Ziehen in der Herzgegen spüre.

Gegen 21 Uhr klingelt das Telefon mit einer externen Nummer. Ich warte eigentlich auf den Radiologen, aber die Nummer sieht nicht nach dem Radiologen aus. Also melde ich mich mit meinen Standardspruch. „Alles gut Mondkind, ich bin es…“, höre ich die Stimme meines Oberarztes, mit dem ich vorhin noch im Doppler war. „Kannst Du vielleicht nochmal nach der Thrombektomie von heute Nachmittag schauen? Nicht, dass die eingeklemmt… - und wenn Du Zeit hast, schreib ein EKG, sie hatte kürzlich erst einen Herzinfarkt.“ „Mache ich, wenn ich nachher auf die Station gehe“, entgegne ich. „Ist viel los?“, fragt er. „Ich bin bei Patient sechs“, sage ich. „Und es ist erst 21 Uhr“, füge ich hinzu. „Du hast einen Hintergrund Mondkind, wenn zu viel los ist, soll der Dir helfen. Wenn das so weiter geht, schicke ich Dich morgen früh nach der Frühbesprechung schon nach Hause…“

Mein bester „Telefon – Freund“ ist in dieser Nacht ein Klinikum in einem Kurort nicht weit von hier entfernt, die keine Neuro haben. Denen nehme ich gleich mal zwei Patienten ab.
Und irgendwann gibt es noch einen Schockraum. Ein Patient ist in der Sauna einfach umgekippt, man hat fragliche motorische Entäußerungen beobachtet. Das riecht eigentlich alles nach konvulsiver Synkope oder einem erstmaligen Anfall (aber warum sollte der gerade in einer Sauna passieren?), was mich aber stört ist, dass er – nachdem er irgendwann auf der Fahrt ins Krankenhaus im Rettungswagen erst wieder zu sich gekommen ist – in der Aufnahmesituation vollständig reorientiert ist, aber immer noch Wortfindungsstörungen hat und paraphrasiert. „Wir machen CT und Angio“, sage ich zu den Radiologen. „Nicht, dass da doch ein Ast in der linken Media zu ist…“. Ich denke fieberhaft über die Lyse nach – im Zeitfenster wären wir. Kurze Zeit später haben wir das Ergebnis. Beidseitige hochgradige ACI – Stenosen, aber keine Infarktdemarkation oder Gefäßverschlüsse. Ich gehe nochmal zum Patienten. Die Zeit hängt mir im Rücken. Wenn ich ihn lysiere, dann jetzt. Die Sprache hat sich nochmal gebessert. Ich rufe meine Oberärztin im Hintergrund an. „Sprich mal mit ihm und halt das Telefon daneben“, fordert sie mich auf. Wenig später entscheidet sie: Zu wenig Ausfall für eine Lyse. Man darf ja auch die Risiken nicht vergessen. Ich hasse solche Grenzfallentscheidungen. Wenn die Menschen eine Hemiparese haben, ist es klar. Aber wenn man ein, mit Mühe und Not zwei Punkte auf der NIHSS – Skala zusammen kratzt und das Ganze eher rückläufig ist, würden zwei verschiedene Oberärzte manchmal zwei verschiedene Entscheidungen treffen. Im Verlauf ist die Symptomatik dann doch zum Glück vollständig rückläufig. Ich nehme ihn mit einer hämodynamischen TIA auf. Vielleicht ist er wirklich synkopiert und dann war es blöd mit den Stenosen. (Für die fixe Idee ihn zu stroken wird der Chef meinen Hintergrund und mich am Morgen danach loben).

Es ist schon nach Mitternacht, bis ich auf die Station komme, bei der Thrombektomie vom Nachmittag vorbei schauen kann und dann schnell aus dem Hinterausgang ins Freie schlüpfe. Ich warte eigentlich seit knapp zwei Wochen auf eine Mail und so langsam frage ich mich, ob ich schon wieder etwas falsch gemacht habe, dass man mir nicht schreibt. Eine Mail finde ich nicht, dafür aber ein paar liebe Worte der Mutter des Freundes. Sie hatte mich vor einiger Zeit mal gefragt, wie es im Job so läuft und ich hatte ihr ein bisschen etwas geschrieben. Ein Satz, den sie schreibt ist: „Von Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie sehr gut und erfolgreich in Ihrem Team integriert sind und von "Nesthäkchen" nicht mehr die Rede ist.  Freut mich sehr!“
Es sind so wärmende Worte, die gleichzeitig so weh tun. Vor einem Jahr saß ich immer noch in der Klinik und wusste, dass irgendwann nach der Entlassung die ersten Dienste auf mich zukommen. Die zu schaffen war Voraussetzung dafür, wenigstens im Job bleiben zu dürfen. Ich konnte mir nicht vorstellen, das schaffen zu können. Und so generell und überhaupt dachte ich ja letztes Jahr im Juni noch: „Wenn ich an irgendetwas im Leben so richtig scheitern werde, dann ist das der Job.“ Wer sich erinnert: Ich bin suizidal geworden über die Aussicht diese Dienste machen zu müssen, weil ich so Angst hatte mit meinem Unwissen reihenweise die Patienten umzubringen. Das fand jeder immer total überzogen, es war aber meine Realität. Heute weiß ich: Wenn ich an einer Sache richtig gescheitert bin, dann ist das mein Privatleben. Und während man das Kapitel eines Jobs im Notfall auch schließen kann – das habe ich damals natürlich nicht so gesehen – kann man das mit dem Privatleben nicht so einfach. Seine Mutter hat Recht – ich bin mittlerweile im Team gut integriert und bei einem nicht existenten Sozialleben ist das viel wert. Dennoch bin ich vor weiteren Rotationen – man hätte mich als nächstes gern auf der Intensivstation – nicht geschützt. Die Intensivstation bei uns ist sehr für sich, da macht man auch keine ersten Dienste mehr, sondern Intensivdienste, was wieder etwas anderes ist. Und ich hoffe, dass ich da so bald noch nicht hin muss. Es ist doch gerade okay so, wie es ist. Diese Woche musste ich irgendwie zwischen Stroke Unit, Notaufnahme und Diensten hin und her springen und es war okay für mich. Ich mache, was man mir aufträgt ohne plötzlich riesige Panik zu bekommen. Ein „Geh man in die Notaufnahme und hilf da“, wäre vor einem Jahr noch eine Katastrophe für mich gewesen; jetzt stört es mich nicht mehr.
Das Privatleben ist aber – vor mehr als einem Jahr nach einigen Wochen Hoffen und Bangen – von einem Tag auf den anderen plötzlich stehen geblieben. Und ich weiß nicht, ob ich nochmal dort anknüpfen kann, wo ich mal gewesen bin. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal die Füße in die Studienstadt setzen werde. Und ich weiß nicht, wie das dann werden wird. Ich werde die meisten Menschen – ob ich die nun privat oder im professionellen Rahmen kennen gelernt habe – selbst wenn ich wieder dort bin, nie wieder sehen. Der Tod des Freundes hat nicht nur ihn unwiederbringlich von dieser Erde genommen, er hat auch das Band zu vielen anderen Menschen und zu meiner eigenen Vergangenheit unwiederbringlich getrennt. Ich kann nicht mehr der Mensch sein, der ich mal war. Ich kann nicht mehr zurück in das alte Umfeld - auch wenn sich das natürlich bis heute mutmaßlich auch geändert hätte - aber ich bin mir sicher, es hätte ein paar lose Bänder gegeben, an denen man immer nochmal hätte ziehen können, um sich auszutauschen und um zu wissen, dass die Vergangenheit noch irgendwo zwischen uns schwebt. Die Bänder sind zerrissen in dem Moment, in dem er gestorben ist. Das konnte ich lange nicht glauben, aber ich habe es im Verlauf erlebt, dass da nichts mehr zu retten ist und wir auf völlig verschiedenen Ebenen miteinander sprechen. 

Ich mitten in der Nacht. Und ja, theoretisch ist da ein Bett im Hintergrund 😅

Zurück zum Dienst… -  Händeln von zwei Welten. Meiner eigenen, in die Gedanken in die mich gerade die Mutter des Freundes hinein geschmissen hat und der Verantwortung für alle neurologischen Patienten in dieser Nacht.
Es wird bereits hell, als endlich mal Ruhe einkehrt und ich mich versuche, aufs Ohr zu legen. Früher hatte ich ja immer einen Schlafanzug mit – mittlerweile weiß ich nicht mal, ob ich mich umgezogen haben werde, bis der Alarm los geht. Also lege ich mich einfach in voller Montur aufs Bett und bin so müde, dass ich innerhalb von wenigen Minuten schlafe. Aber nicht lange. Nur wenig später geht der Alarm. Knapp eine Stunde vor der Übergabe. Ich hoffe so sehr, dass es irgendwer mit Rückenschmerzen ist. Ich spüre, wie mein Herz gegen meine Brust hämmert und frage mich, ob es vielleicht irgendwann einfach stehen bleibt, weil es keinen Platz mehr in meinem Brustkorb hat. Das Arrivalboard zerschlägt indes meine Hoffnungen. „Vigilanzminderung und Hemiparese“. Ist die Frage, ob der Patient aus dem Altenheim kommt und der Rettungsdienst mal wieder irgendwo eine Hemi gesehen hat, oder ob das wirklich echt ist. Wenig später kommt der Patient. Hemi links, Herdblick nach rechts, Vigilanzgemindert. Das ist echt. „Okay, wir fackeln nicht lange, ins CT“, sage ich dem Rettungsdienst. Wir sehen: Beginnende Infarktdemarkation und M1 – Verschluss. Meine Oberärztin im Hintergrund ist auf dem Weg zur Klinik und schaut bei mir vorbei. „Ich würde vorschlagen, wir rufen die Neuroradiologen an, ob die da noch etwas retten können. Vielleicht wollen die dann noch ein Perfusions – CT“, sage ich. Wir erreichen den Neuroradiologen nicht sofort. „Fahr doch schonmal das CT“, schlägt die Oberärztin vor. „Ich weiß nicht, ob das noch Sinn macht mit der Intervention“, sage ich. Irgendwann nach dem CT habe ich den Neuroradiologen in der Leitung. „Das hat keinen Sinn mehr, da gibt es nichts zu retten. Und das Perfusions – CT hätten Sie sich sparen können…“ Ja gut… - okay. Erstmal nehme ich ihn auf die Stroke Unit, aber im Verlauf wird es palliativ werden.

Wenig später sitze ich in der Frühbesprechung und berichte mit klopfendem Herzen von der Nacht. Ich habe doch immer Angst, dass der Chef Fehler findet. Zwar bereite ich mich auf die Übergabe immer gedanklich vor und berichte schon so, dass das neurologisch zusammen passt – aber alles unterschlagen kann man auch nicht. Bei dem Patienten von der Früh berichte ich nicht, dass wir noch ein Perfusions – CT gemacht haben. Das findet nur mein Oberarzt später heraus und ist ein bisschen entsetzt, aber er verzeiht es mir. Weil die Infarktdemarkation für ein ungeübtes radiologisches Auge eben nicht ganz deutlich war und wir eine halbe Stunde gebraucht haben, um den Neuroradiologen an die Strippe zu bekommen. Und es seine einzige Chance gewesen wäre.

Gegen 10 Uhr besprechen wir noch alle meine Neuaufnahmen von der Nacht auf der Stroke Unit. Die Kollegen haben zu tun heute. Während es die letzten Nächte relativ ruhig war, musste ich mitten in der Nacht die Neurochirurgen wecken und sie um Betten bitten.
„Und jetzt geh nach Hause Mondkind, ich möchte Dich – wenn ich in einer viertel Stunde komme – hier nicht mehr sehen“, sagt mein Oberarzt. „Ich wollte noch schnell einen Brief für den Patienten schreiben; ich denke er geht bald“, sage ich über einen meiner Patienten. „Eigentlich hatte ich das heute im Dienst machen wollen, aber… - ich habe es nicht geschafft.“ „Mondkind, ich kann auch fünf Sätze schreiben. Geh nach Hause…“

Diese Morgen nach dem Dienst sind komisch. Ruhe auf den Straßen. Nur ein paar Rentner. Ich sammle alle Kraft zusammen und gehe noch schnell bei der Apotheke vorbei, um endlich mal einen digitalen Impfpass zu holen. Sollte ich doch mal irgendwann kurzfristig die Gelegenheit bekommen in die Studientadt zu reisen oder die Mutter des Freundes 200 Kilometer weit weg von hier zu besuchen, um mit ihr endlich mal auf den Friedhof zu gehen, wäre das Ding praktisch.

Danach falle ich ins Bett. Stehe bis Samstagmorgen nur noch kurz zum Duschen und essen zwischendurch auf.
Es ist ein komischer Sommer. Ich war schon lange nicht mehr den ganzen Sommer nicht unterwegs. Habe selten so viel gearbeitet, wie aktuell. Und habe selten so sehr gespürt, dass Ablenkung alles ist, was bleibt. Weil ich verzweifle, wenn ich darüber nachdenke, wo ich hin soll. Wer geblieben ist. Mit wem ich die Studienstadt besuche. Und wie das sein wird zu spüren, dass nichts geblieben ist.

Mondkind

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