Von Unsicherheiten und Fragen

Dienstplanbesprechung.
Es ist eines der ersten Male seit über zwei Jahren, dass ich mit einem Zettel dort sitze auf dem eine grobe Orientierung zu finden ist, wann ich gut Dienste machen kann. Und es sind genau diese kleinen Dinge, die beweisen: Da bahnt sich ein Leben im Hintergrund an. Es ist eine unbedeutende Kleinigkeit, die mir ein anderes Lebensgefühl vermittelt. Es ist nicht mehr egal, wann ich Dienste mache – denn intelligenterweise sollte ich an den Wochenenden versuchen zu arbeiten, an denen mein Gegenüber auch beschäftigt ist; sonst werden wir uns selten sehen. Am Ende funktioniert es nicht ganz wie gedacht – Dienstpläne machen hat bei uns auch immer viel mit Lautstärke zu tun – aber zumindest in Teilen.

Ansonsten hat sich die letzten Tage ein unglaubliches Chaos in meinem Kopf breit gemacht. Und ich will nicht sagen, dass das alles nur belastend ist oder, dass ich irgendetwas bereue von dem, was hier gerade läuft. Anstrengend ist es dennoch. 



 

Die Zeiten, in denen meine Gefühlsbreite auf einen Teelöffel gepasst hat, gehören aktuell der Geschichte an. Und dafür bin ich unglaublich dankbar. Ich komme nur kaum hinterher, weil sich das teilweise auch alle fünf Minuten ändert. Ich habe das alte Leben nicht vergessen. Und nicht aufgehört das zu vermissen. Und genieße gleichzeitig so viel von dem, was jetzt ist. Es ist so nah nebeneinander. Das ehrliche Lächeln auf meinen Lippen, manchmal einfach so, wenn mir ein Gedanke der Gegenwart in den Kopf schießt und der tiefe Schmerz, wenn ich an das denke, das ich verloren habe. Die Dankbarkeit für die Gegenwart, die Neugier auf das, was die Zukunft bringt und der Schmerz im Herz, wenn ich an meine Zeit in der Studienstadt denke. Das Wissen, dass der Freund immer in meinem Herz bleiben wird und gleichzeitig die Schuldgefühle, wenn ich an meinen Weg der letzten Wochen denke. Die Liebe für diesen neuen Menschen in meinem Herz, die da endlich sein darf und nicht mehr verborgen vor mir und vor der Welt bleiben muss und gleichzeitig die Frage, ob zwei Jahre genug sind, um diesen Schritt gehen zu können.

Es wird langsam umständlich in der Welt und auf dem Blog. Es gibt den lebenden Freund (naja, den Beziehungsstatus hat offiziell noch niemand definiert) und den verstorbenen Freund. Und wie soll die Liebe für zwei Menschen in ein Herz passen? Und ist das fair, wenn sich die Beiden mein Herz teilen müssen?
Die Mutter des verstorbenen Freundes hat zu Hause neben seinem Foto einen Stein liegen, auf dem steht: „Die Liebe ist das Einzige das mehr wird, indem wir sie verschwenden.“

Ich habe das nie so richtig verstanden, aber vielleicht verstehe ich langsam, nachdem ich heute Nacht sehr lange darüber nachgedacht habe. Vielleicht gibt es nicht ein begrenztes Reservoir von Liebe, vielleicht kann das Herz mehr leuchten und kräftiger schlagen und vielleicht bekommt Keiner von beiden nur die Hälfte.

Der lebende Freund und ich haben gestern noch beinahe ein Mitternachtstelefonat geführt – ich bin so unendlich dankbar für seine Geduld und sein Ohr – und irgendwann kam die Frage auf: Naja, warum wusste ich denn so manche – teils essentielle Dinge – von dem verstorbenen Freund nicht? Und dann habe ich lange darüber nachgedacht. Wo war der Fehler? Habe ich ihm nicht genug Raum zum Reden gegeben? Habe ich nicht genug Sicherheit vermittelt? Habe ich vielleicht nicht so gewirkt, als könnte ich die Last auf seinen Schultern mittragen? Oder habe ich vielleicht mit meiner Körperhaltung verurteilt, ohne dass ich es gewollt hätte? Konnte ich ihm nicht den Rahmen geben, den er für manche Themen gebraucht hätte? Denn über die Themen Reden wollen muss das Gegenüber ja selbst; ich kann ja niemanden verhören. Das hat auch keinen Sinn und das möchte ich nicht. Das Vertrauen in den anderen sollte reichen - aber auch das muss man vermitteln können.
Und wie kann ich das heute besser machen? Denn so hart wie es auch ist das zu sagen, aber gerade mit zwei Jahren Abstand und vielen neuen Erfahrungen seitdem: Ich sehe heute schon, dass einiges nicht optimal war. Er war meine erste Beziehung, jetzt entwickelt sich gerade die Zweite. Hoffentlich. Und irgendwie ist mir gestern Nacht klar geworden, wie unsicher ich auch mit der ganzen Situation bin.

Das Ende der ersten Beziehung meines Lebens steht wie ein Mahnmal in meinem Kopf. Und auch, wenn ich das dem lebenden Freund nicht zutraue – aber die Sorge, dass sich das wiederholt, die bleibt.

Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit. Es ist ein gegenseitiges an die Hand nehmen und manchmal nimmt der eine Mensch den anderen fester an die Hand und führt ein bisschen und ein anderes Mal ist es umgekehrt. Es ist ein Geben und Nehmen und ich habe Angst, nicht genug geben zu können. So tendentiell hatte ich viel Nachholbedarf im zwischenmenschlichen Bereich, der verstorbene Freund hat mir das so lebensnah wie möglich beigebracht und ich glaube, auch aus dem Beruf habe ich viel gelernt. Aber reicht das? Kann ich genug? Werde ich genug gelernt haben, um dieselben Fehler nicht ein zweites Mal zu machen?

Die letzten Wochen waren ein Kopfsprung in eine Welt, die ich so lange nicht mehr gesehen habe. Und ich spüre erst jetzt, dass das doch eine Menge mit sich bringt. Was okay ist. Nur ist es eben bisweilen verwirrend, verunsichernd, chaotisch, beängstigend. Aber auch bereichernd und lebendig.

Morgen habe ich Spätdienst, am Morgen steht allerdings erstmal ein sehr unliebsamer Termin an, der schon Potential hat, den ganzen Tag zu sprengen. Und dann geht es morgen Abend nach dem Dienst - ich hoffe so sehr, es gibt keine Katastrophen kurz vor dem Gehen  - nochmal in die Nachbarstadt, bevor wir uns zwei Wochen nicht sehen werden. Auf der einen Seite finde ich das furchtbar schrecklich. Auf der anderen Seite tut es uns vielleicht nicht schlecht. Vielleicht müssen wir nochmal spüren, ob wir uns wirklich so sehr vermissen und wenn wir das spüren – wie wir gemeinsam daran arbeiten können, dass wir uns nicht verlieren. Arbeit wird diese Beziehung in jedem Fall. Aber ich habe die Zuversicht erstmal immer noch nicht verloren – auch wenn er das tendenziell kritischer sieht als ich.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen