Von einem Wir

Freitag. Spätdienst. Ich hoffe inständig, dass keine Katastrophen passieren, und ich pünktlich – wenn nicht sogar etwas überpünktlich - raus komme.
Gerade als ich mit dem Fahrrad nach Hause düse, holt mich das Gewitter ein und mir bleibt nichts anders übrig, als zu Hause nochmal unter die Dusche hüpfen und die Klamotten dort zum Trocknen aufzuhängen.
Kurz vor 21 Uhr starte ich das Auto und fahre in die Nachbarstadt. Ich bin den Weg noch gar nicht so oft gefahren, aber die Kurven der Landstraßen sind mir allmählich schon vertraut. Es ist dunkel, als ich das Ortseingangsschild passiere und – wie immer – noch an der Fußgängerzone entlang fahren muss, um am anderen Ende der Stadt zu landen. Es ist immer noch komisch mit dem Auto über die Zebrastreifen zu fahren, über die ich noch vor wenigen Monaten so häufig als Fußgängerin gegangen bin. So bewegend und überwältigend, wie viel sich seitdem geändert hat.

Nach der ersten Umarmung stellt sich heraus, dass er für das Abendessen gesorgt hat. Irgendwie berührt mich das.

Nach dem Essen ziehen wir um aufs Sofa. Zwar wäre es eigentlich schon längst Zeit ins Bett zu gehen und ich weiß, dass ich das spätestens am nächsten Morgen verfluchen werde, dass wir so lange wach geblieben sind, aber in dem Moment spielt die Zeit irgendwie doch keine Rolle. Wir haben uns zwar nur etwas mehr als eine Woche nicht gesehen, aber das ist schon zu lange. Und seitdem wir mal vernünftig miteinander geredet haben und einiges geklärt haben, ist es auch viel entspannter zwischen uns.
Und irgendwie steckt in diesem Anfang zwischen uns Beiden so viel Magie. Immer wieder könnte ich darüber reden und seine Sicht der Dinge hören. Das ist so viel Zauber. Irgendwann reden wir über den Silvesterabend dieses Jahr. „Ich mache mir ja immer Gedanken darüber, was ich mir für das nächste Jahr wünsche. Was realistischerweise passieren könnte. Und ich weiß, ich hatte Dich im Kopf, aber ich habe mich nicht mal getraut aktiv darüber nachzudenken, dass ich mir ziemlich doll wünschen würde, dass dieser Mensch Teil meines Lebens wird, obwohl ich den Gedanken im Herzen schon gefühlt habe.“ Es ist wirklich niedlich, wenn man sich die alten Tagebucheinträge durchliest in dem Wissen, was passiert ist. Und so bewegend.

„Wir haben unseren Beziehungsstatus noch nicht geklärt.“
„Da hast Du Recht.“

„Die Frage ist – müssen wir das?“
„Ich hätte lange gesagt nein. Und ich will nicht schon wieder mit dem Thema um die Ecke kommen. Aber bei dem verstorbenen Freund und mir war es so, dass es hinterher so viele Menschen gab, die behauptet haben, das sei doch keine Beziehung gewesen. Und ich konnte dem wenig entgegen setzen, weil es nie offiziell so definiert wurde. Es war klar, wir gehören zusammen – für uns war das klar - aber wenn es hart auf hart kommt, scheint das nicht zu reichen. Und irgendwann habe ich mich selbst in Frage gestellt, nachdem es das Außen permanent getan hat. War das eine echte Beziehung? Und von daher – ich finde das heute schon relevant. Ich denke man braucht da eine Klarheit auch für sich selbst.“

„Ich denke das auch.“ Und wenig später. „Ich liebe Dich.“
„Ich liebe Dich auch.“

„Okay, heute ist der 4. Juni.“
Ich gehe davon aus, wir haben das jetzt geklärt. Ich gehe davon aus, ich darf sagen: „Ich habe einen Freund.“

 

💜

Nächster Morgen.
„Bringst Du mich zum Bahnhof später?“ „Na klar, aber dazu sollten wir jetzt langsam mal aufstehen.“
Kaffee und Toast, während von draußen die Schwüle in die Wohnung drückt. Das letzte Mal für mindestens zwei Wochen, wahrscheinlich eher drei. Ich erledige den Abwasch, er packt seine Tasche zu Ende.

Puh. Bahnhöfe. Habe ich nicht noch letztens gesagt, dass ich so bald sicher nicht mehr auf einem Bahnhof stehen werde und Menschen begrüßen oder verabschieden werde? Habe ich nicht gesagt, dass die Bahnhofszenen ein Stück weit sicher der Vergangenheit angehören werden? Es ist eine Herausforderung, aber ich möchte es machen. Ich möchte die Diskrepanz zwischen dem Damals und dem Heute fühlen, denn es wird anders sein heute. Weil ich nicht dieselbe bleiben konnte.
Unterwegs springt er noch bei der Post rein („Mondkind, Du musst wirklich nochmal zum Autohaus fahren und die sollen die Werbung von Deinem Auto machen“) und ich bemerke, dass das vollkommen crazy ist, dass ich meinen Freund durch die Gegend fahre, wo ich es bis vor sechs Monaten nicht für möglich gehalten hätte, jemals wieder Auto zu fahren.

Manchmal frage ich echt, wann ich aufwachen und feststellen werde, dass das alles nur ein Traum war. Das kann doch nicht das echte Leben sein.

Bahnhofszene.
Ich bin mir nicht sicher, ob das Auto nicht im Halteverbot steht. Bestimmt tut es das. Aber es gibt einfach keine Parkplätze, der Herr möchte nicht so weit laufen mit seinem Gepäck und ich möchte ihn aber unbedingt zum Zug bringen und ihn nicht einfach nur aus dem Auto raus schmeißen.

Auf dem Bahnsteig nehmen uns nochmal in den Arm und ich glaube, es ist der erste Kuss in der Öffentlichkeit. Und was nach außen hin so völlig normal wirken kann, wie zwei Menschen, die sich eben verabschieden, ist nach allem was war, ein absolutes Wunder. Und irgendwie darf es auch jeder sehen. Diese Wunder. Beziehung lief in meinem Leben viel zu lange im Verborgenen.
Und wer weiß, vielleicht sammle ich ihn auch vom Zug wieder ein – das würde ich schon tun ;)

Ich spüre, ich stehe heute mit einer anderen Haltung da. Es ist interessant, wenn man Situationen so unmittelbar vergleichen kann. Und heute ist es anders. Irgendwie erwachsener. Intensiver. Dinge, die vielleicht lange Jahre Selbstverständlichkeit waren, sind es nicht mehr. Das was ich, was wir, hier erleben, ist so viel Wunder. Eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die eine gewisse Tiefe hat, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Seele und das Herz eines anderen Menschen spüren zu dürfen, das Erleben teilen zu dürfen – für nichts davon gibt es Garantien und jeder Moment hätte genauso gut nie existieren können. Und manchmal spüre ich Tränen voller Dankbarkeit in meinen Augen. Dankbarkeit, dass ich das nochmal erleben darf, dass ich diesen Menschen getroffen habe, dass wir beide trotz der Barrieren mutig genug waren und dass er die Vergangenheit mitträgt ohne sich darüber zu beschweren und mich eher noch darin bestärkt, dass die Erschütterung in gewissen Maß bleiben darf. Ich muss das nicht verstecken. Dankbarkeit, dass er mir vermittelt, wertvoll zu sein, was lange Zeit nicht mehr so sein konnte. Ich spüre Dankbarkeit, dass ich es trotz des Gedankensalates in meinem Kopf streckenweise so sehr genießen kann, dass ich das Drama meines Lebens – obwohl ich so oft selbst nicht mehr daran geglaubt habe – überlebt habe und jetzt für immer sagen kann, dass egal was passiert – ich das Licht nochmal gesehen habe und es sich allein dafür gelohnt hat. Und dass ich jeden guten Moment und jede gute Erfahrung so viel mehr zu schätzen weiß.

Und genauso, wie es manchmal für diesen unendlichen Schmerz in mir keine Worte gibt, fehlen die auch manchmal für das Glück.

Mondkind

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