Von Leben und Risiko
Ich scolle die Fotos der letzten Wochen durch.
Es ist so viel passiert, dass das bis vor wenigen Wochen in ungefähr
fünf Jahre eines Mondkind – Lebens gepasst hätte – wenn es reicht. In den letzten beiden Jahren waren die guten Tage an einer Hand abzählbar - wenn überhaupt. Da zählte Tomaten umtopfen bei der potentiellen Bezugsperson schon zu den Jahreshighlights.
Erst kam das Auto Anfang Mai, mit dem ich mal schnell in die Nachbarstadt oder auf
einen nahe gelegenen Berg fahren konnte und dort ganz alleine wandern gehen
konnte. Dann bin ich zu meiner Schwester gefahren, habe das erste Mal seit
Jahren etwas anderes gesehen als die Studienstadt oder den Ort in der Ferne.
Habe – als der Kopf keine Orte mehr hatte, an denen er festhalten konnte – mal wieder
etwas anderes als die Sehnsucht nach dem alten Leben gefühlt, mich selbst ein
bisschen gespürt und konnte es wirklich genießen. Und dann – tja, dann kam mein Freund. Und nachdem wir uns
monatelang kannten, uns still beobachtet haben, niemand – weil die Beziehung
eben vertikal gedacht war – sich getraut hat, das anzusprechen, habe ich zum
ersten Mal angedeutet, dass ich in seiner Gegenwart mein Herz wieder fühle. Und
am Ende hat sich heraus gestellt: Das beruht tatsächlich auf Gegenseitigkeit. Und
jetzt habe ich seit wenigen Tagen einen Freund.
Und dann scrolle ich manchmal alte Blog- und Tagebucheinträge durch und finde das so niedlich und so berührend, was ich da geschrieben habe:
„„Ich mag Sie“. Ein Satz des neuen, jetzt schon alten, Herrn Therapeuten. Auch der wurde in einer vertikalen Beziehung gesprochen und dennoch hat er mich tief berührt. Sollte vielleicht Hoffnung machen, dass so etwas auch im echten Leben möglich sein kann. Immerhin war ich bei ihm nur ich selbst. Und dennoch laufen einem die horizontalen Begegnungen nur selten einfach so über den Weg. So etwas wie mit dem Freund – das war großes, großes Glück.“
„Am Nachmittag sehe ich den ehemaligen Herrn Therapeuten auf dem Gang. Es ist ein komischer Stich in meinem Herz und kurz tut es weh. Und irgendwie könnte ich mich manchmal selbst an die Wand klatschen bei so viel Dummheit. Ich hätte ihn nie so nah an mich heran lassen sollen. Es war von Anfang an klar, dass das eine vertikale Beziehung auf Zeit ist. Die zwar nicht schon nach vier Wochen hätte zu Ende sein sollen, aber nach sechs Wochen. Oder spätestens acht. Ich glaube sein „Ich mag Sie“, hat mich endgültig Vertrauen fassen lassen. So kurz vor dem Ende. Es hat mein Herz berührt.“
Die letzten Wochen waren wie ein Rausch durch die Tage, da war kaum Zeit über irgendetwas nachzudenken, es war ganz viel emotionale Reaktion, ganz viel Fühlen, eine Explosion von Erleben in mir. Zwischen „ich glaube das wird nichts mit uns“ und „wir sind jetzt mal offiziell ein Paar“, liegen nicht mal zwei Wochen, sehr viele Tränen und ein paar Kilo Gewicht.
Der offizielle Sterbetag des verstorbenen Freundes ist dahinter fast
unter gegangen.
Und ja, das hat mich an diesem Wochenende ein Stückweit gerettet, dass
ich beim Freund war, obwohl es eindeutig ein bisschen makaber ist. Ich stehe
halt auch nicht unbedingt darauf stundenlang weinend auf dem Sofa zu liegen,
weil dieser Schmerz gefühlt mein Herz erdrückt. Auch wenn mir die Menschen das
bisweilen gerne unterstellen.
Dass wir – weil der Freund aktuell im Urlaub ist – nur noch
sporadische whatsApps schreiben, entschleunigt die Sache massiv. Und beendet
den Rausch durch die Tage fürs Erste.
Und dahinter stellen sich auch viele Fragen, Sorgen, Zweifel.
Es haben so viele Menschen immer wieder geglaubt mit überstülpen zu können, worin ich meine Erfüllung finden werde. Und das war für mein komplettes familiäres Umfeld die Medizin. Und ja, es ist ein ehrenwerter Beruf, es macht Sinn. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist das nicht meine oberste Priorität, auch wenn ich jahrelang so gelebt habe und im Konflikt damit gelebt habe, dass ich dem, was mir eigentlich wichtig war, nicht nachkommen konnte und der verstorbene Freund und ich unglaublich darunter gelitten haben.
Denn für mich ist es ein essentiell wichtiger Bestandteil, Leben und Erleben teilen zu können, eine andere Seele ganz nah bei mir spüren zu können. Und immer wieder habe ich gehört, dass das doch nicht sein kann, weil man auch allein zurecht kommen muss. Ja, muss man vielleicht im Zweifel. Kann ich auch. Habe ich jetzt auch lange genug bewiesen, dass ich das kann. Und dennoch ist der Mensch nicht als Einzelkämpfer geboren worden – auch wenn ich weiß, dass gewisse Menschen das anders sehen und mir das auch schon um die Ohren gehauen haben.
Ich treffe Menschen auf der Straße, die ich eine Weile nicht gesehen
habe und obwohl sie nichts wissen von dem, was in den letzten Wochen passiert
ist, sagen sie mir, dass man sieht, dass ich glücklicher bin. Dass man da mal
wieder die „alte Mondkind“ sieht.
(Es gab sogar schon eine Person, die dann doch Bescheid wusste und
sich schon heraus genommen hat zu behaupten, dass mir die neue Beziehung
scheinbar besser tut als die Alte und dass mit dem verstorbenen Freund eben
keine echte Liebe war – wer hätte es gedacht, dieses Kommentar kam natürlich
aus dem weiteren Familienkreis, wo das Wort Sensibilität mal grundsätzlich
nicht existent ist).
Und das heißt nicht, dass der Job unwichtig ist oder ich ihn primär
gar nicht mag, aber es ist eben nicht das, was mich primär glücklich macht.
Auch ein bestandenes Examen hat mich nicht glücklich gemacht. Was für mich
immer etwas mit Glück zu tun hatte, war ein zwischenmenschliches,
familienähnliches Gefüge. Und dass ich ungefähr zwei Jahre dachte, dass so
etwas einfach nicht mehr möglich sein wird, war mein emotionaler Untergang.
Und – ohne mich mal zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen – aber die
Idee mit der Familie hat jetzt zumindest mal wieder eine Grundlage (ich habe
das Thema übrigens nicht zuerst angesprochen ;) )
Und dennoch – was hier steht, ist so fragil. Erschafft neben den
wundervollen Momenten auch so viel Unsicherheit. Fängt an bei der Frage: „Wie
mache ich es diesmal besser, dass es nicht wieder in so einer Katastrophe
endet?“ und "Wie werde ich ihm gerecht?" geht über „Wie springe auch ich Hasenfuß über viele Ängste, die in
einer Beziehung entstehen?“ und endet bei „Was mache ich, wenn es nicht
funktioniert?“ Ich habe mir vorgenommen auch in dem Fall nicht wieder emotional
zu zerfallen, aber ob das so realisierbar ist?
Und eine Frage – auf so wenig Verständnis, wie sie auch stoßen mag –
habe ich das Recht dazu, so zu leben? Muss ich nicht noch eine Schuld
abarbeiten? Müsste ich nicht zumindest ein bisschen mehr Loyalität dem
verstorbenen Freund gegenüber beweisen, dem nun mal der Hunger nach dem Leben
gegenüber steht? Wenn er alleine in seiner Welt bleiben muss – wo immer er auch
ist – muss ich das dann nicht auch tun? Verletze ich ihn nicht super doll, wenn
er mal zu mir herunter sieht und mich in den Armen eines anderen Mannes sieht?
Was soll er denken, wenn ich heute den Mut zusammen kratze und über die
Grenzen springe – oder es zumindest versuche – über die ich damals noch nicht
drüber konnte?
Und so gerne ich es auch würde – ich kann dem Frieden noch nicht so trauen. Ich kann nicht vertrauen, dass jetzt vielleicht auch mal eine Mondkind dran ist, glücklich zu werden. Und nachdem das so ein schwerer Start mit uns war und so eine 180 – Grad – Wende innerhalb weniger Tage – ich hoffe schwer er ist sich bewusst, dass eine Diskussion über den Beziehungsstatus eine gewisse Bedeutung hat. Und das jetzt zumindest mal ein „wir versuchen es beide wirklich und wenn es Probleme gibt, dann reden wir ehrlich miteinander“ heißt. Was natürlich aber auch für mich gilt.
Und manchmal bin ich – so schön wie das auch alles ist – mental so
überfordert, dass ich am liebsten fliehen würde. Und dennoch gilt es die
schweren Momente, die Traurigkeit um dieses Ereignis vor zwei Jahren und die
guten Momente nebeneinander zu stellen, daraus ein bewusstes Leben abzuleiten.
Es gilt keine Angst zu haben in den guten Momenten, dass die wieder einbrechen
könnten, sondern anzuerkennen, dass sie da sind und in die imaginäre Truhe von
der man in schweren Tagen zehren kann, zu verstauen. Es gilt nicht zu
verzweifeln, wenn ich von der Mondkind von früher lese und wie untröstlich sie
damals war und zu wissen, dass der Weg zurück mit all der Fragilität auf der
die Situation im Moment steht, nicht so weit ist. Und es gilt einzusehen, dass
ein Stückweit Erschütterung um all das, was ich erlebt habe, für immer bleiben
wird. Und, dass das auch gut so ist. Denn den Schmerz zu spüren heißt, dass ich
dieses Leben um das ich da trauere, mal gelebt habe. Dass der Mensch, der nicht
mehr da ist, unglaublich wichtig war… - und ist. Davor weg zu laufen und es zu
verdrängen würde uns beiden nicht gerecht werden. Wer Licht sehen möchte, muss
auch die Schatten nehmen, die es werden können. Leider ist das so und leider
kamen die schneller als ich dachte. Aber das ist das Risiko, das wir mitnehmen,
wenn wir im Licht tanzen wollen. Und nach allem was war ist es vielleicht sogar
nachvollziehbar wie groß der Hunger nach dem Leben ist, das mir persönlich wichtig ist und
gleichzeitig die Angst, dass das Risiko das ich mitnehme, zu schnell über mich
herein bricht.
Die Theorie ist erstmal schön, in der Praxis ist das gerade wirklich schwer.
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Mal noch ein Foto aus dem kürzlich verlebten Urlaub |
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Ansonsten hat mich das Leben auf der Normalstation wieder. Heute war ich mit
19:30 Uhr am Abend noch vergleichsweise früh zu Hause, mit zehn Aufnahmen für
zwei Leute, einer vollen Station, Besprechungen und einem 72 – Stunden – Video –
EEG, das ich auswerten muss, wird das die nächsten Tage anders aussehen. Ich
will mich nicht beschweren – alles was nicht Intensivstation ist, ist schon mal
gut. Die Ansprüche sinken. Und dennoch ist – gerade jetzt, wo sich mal ein
Privatleben anbahnt – eine berechtigte Frage, wie lange ich das so noch machen
will. Diese Arbeitszeiten überlebt keine Beziehung mehr als ein paar Monate.
Aktuell ist es mir ja ein bisschen Banane, der Freund ist derzeit im Urlaub und
wir haben ohnehin wenig Kontakt. (Der "wie sehr vermisse ich ihn - Test" läuft übrigens super und generiert eine Menge Sehnsucht...)
Aber zumindest hat eine Kollegin eine Kaffeemaschine für das Arztzimmer gekauft. (Eine der günstigen Maschinen mit super teuren Kaffee – Equipment, was man dafür braucht…) Das rettet Vieles. Mal so zwischendurch. Wenn die Verzweiflung von sich nicht zuständig fühlenden Oberärzten, zwischen denen man dann wie ein Vermittler hinterher telefonieren darf, zu groß wird.
Aber hey: Ich habe heute meine ersten ETPs seit Längerem raus
gefischt.
Und jetzt habe ich die super tolle Idee mit diesem Kopf ins Bett zu gehen. Vielleicht höre ich noch eine Runde Musik... - sonst wird es glaube ich nichts.
Mondkind
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