Der erste Sommer

2017. Irgendwie war es dann doch eskaliert.
Ich hatte mich zu sehr verzettelt. Mit mir und meinem Leben.
Und ich wusste nicht mal, ob ich überhaupt noch leben wollte.

Vollbremsung. Von heute auf morgen. In der Psychiatrie.
So viele Dinge, die neu waren. Einfach mal am Wochenende um acht Aufstehen, Haare waschen, in Ruhe frühstücken. Hatte ich seit Jahren nicht gemacht. Weil ich ja immer spätestens um sechs am Schreibtisch sitzen und lernen musste.

Ein „zu – Hause – auf – Zeit.“ Es gab sonst nichts, das ich damals als sicheren Ort bezeichnet hätte. „Ihre Wohnsituation ist eine Vollkatastrophe“, pflegte der sehr geschätzte Herr Psychiater zu sagen.

Und irgendwann wurde es Normalität, dass der verstorbene Freund ständig vorbei kam. Ich kannte wahrscheinlich jeden Strauch und jedes Blatt auswendig auf dem Weg um die nahe gelegene Rennbahn, um die wir fast täglich spaziert sind. Um dann im nahe angrenzenden Wald unter dem Schatten der Bäume zu sitzen. Rücken an Rücken und den anderen beim Atmen spüren. Es waren die ersten Male, dass wir in die Stadt fahren konnten, am Fluss sitzen, spüren wie die Altstadt hinter uns pulsiert, während der Fluss eine eigenartige Ruhe vermittelt. Es sind mit die friedlichsten Erinnerungen, die ich habe.

Die Abende endeten häufiger mit Pyjama – Partys auf Station und starteten in der Früh mit Sport in der Turnhalle. Bestanden viel aus Therapie, in der ich zum ersten Mal gelernt habe, was eine Depression ist, wie es anderen damit geht und wie ich selbst fortan damit umgehen kann. Die Nachmittage mündeten in unendlich lange Diskussionen mit dem Ergotherapeuten auf der Dachterrasse, in der wir die Wohnsituation hoch und runter diskutiert haben, bis ich irgendwann die Reißleine gezogen habe, alle alten Zöpfe abgeschnitten habe und mich der Angst gestellt habe, wieder keinen Wohnort zu haben – nachdem ich das doch schon einmal erlebt hatte. Ich habe unzählige WGs angeschrieben, habe zu Beginn immer noch eine Kommilitonin mit auf Besichtigung genommen, bis ich mich selbst sicher genug in fremden Wohnungen gefühlt habe.

Und dazwischen immer wieder Stolpern. Dann saß ich in lauen Sommernächten um 23 Uhr abends vor dem Büro des Arztes, konnte kaum noch atmen und wusste nicht, wie ich die Nacht überleben soll.
Damals konnte ich das selbst nicht einordnen. Zwar brauchte es die Psychiatrie dafür, aber das war der erste Sommer meines Lebens. Ich habe gelernt, dass die Welt nicht unter geht, wenn man das Leben wirklich lebt. Dass es mich nicht zu einem schlechten Menschen macht, auch mal Spaß zwischendurch zu haben. Es hatte ja niemand gesagt, dass ich die Uni an den Nagel hängen will und immerhin war ich am Ende von der Psychiatrie aus an der Uni.

Wenn ich das heute so lese, die Tagebucheinträge von damals, dann war es wahrscheinlich die Angst. Das ich das, was ich da gelebt habe, nicht halten kann. Ich habe zum ersten Mal seit so, so vielen Jahren meine Pirouetten durch das Leben gedreht, habe die Tage genossen, mich auf morgen gefreut. Ich hatte einen Menschen an meiner Seite, den ich geliebt habe und hatte erstmals das vorsichtige Vertrauen, dass er vielleicht doch nicht eines Tages weg läuft, weil ich es einfach nicht gebacken bekomme.
Ich hatte viel. Und hatte viel zu verlieren. Ich bin dankbar für jedes geschriebene Wort aus diesem Sommer. Es erinnert mich so sehr an die Mondkind von damals. In mancher Hinsicht war die Psychiatrie wie ein riesengroßer Lebens - Übungsplatz.

Und irgendwann, als die ersten kühlen Tage durch das Land gezogen sind und das Ende des Sommers angedeutet haben, habe ich die Flügelchen aufgespannt. Jetzt hieß es ohne die Psychiatrie im Rücken zu leben. Und nach so einigen Startschwierigkeiten hat das gut geklappt. Nicht für immer – gerade die Examenszeiten waren fast ein Garant dafür zurück in das alte Leben zu rutschen und dann musste ich mich mühsam wieder raus kämpfen – teils eben auch nochmal mit Hilfe der Psychiatrie.
Aber dieser Sommer war der Startschuss für alles, was dann kam. 

Dieses Psychiatriegelände wird schon immer ein besonderer Ort bleiben.
An dem ich sehr viel gelitten habe. Aber auch das erste Mal das Licht wieder gesehen habe.

Natürlich hatte sich im Sommer 2020 die Lebenssituation geändert. Ich war nicht mehr dort, wo dieses „wir“ eines Tages begonnen hatte. Und dennoch hat mit einem Tag alles geendet, was damals war. In einer Weise, in der von Tag eins an klar war, dass ich das bis zum Ende meiner Zeit auf meinen Schultern tragen werde. Das was einst die Befreiung aus dem Leben war, das zu eng geworden war, war die Katastrophe von heute geworden und der Schatten von morgen.

Ich ertappe mich dabei Angst zu haben.
Und weil die Angst im Leben so vieles gehindert hat, wird das oft eine unendliche Erschöpfung in dem Versuch, sie nicht spüren zu müssen.

Ich weiß, dass sie da ist, wenn ich am Morgen verfluche, warum es schon wieder hell sein muss. Wenn die Nächte für ein paar Tage nicht mehr zum Tag werden müssten, weil ich einfach gern die Tage und Nächte durchschlafen würde.

Es ist ein bisschen wie damals.
So eine unglaubliche Skepsis ob das was da ist, bleiben kann. Ob ich mich nicht nur noch mehr verletze. Denn was ist, wenn ich gespürt habe wie es sein kann und das nicht halten kann?

Es ist nicht mal so, dass ich das total kritisch sehe mit uns. Es gibt keinen Grund sehr viel Angst zu haben. Und mittlerweile überlegt der lebende Freund, ob er in meinem nächsten Urlaub nicht auch noch eine Woche Urlaub nehmen kann.

Wer viel hat, kann viel verlieren. So ist es einfach.
Und so oft wie ich mir auch versuche zu sagen, dass ich dankbar für jede gute Erinnerung bin und keine Angst vor dem Verlieren haben sollte, ist sie doch da.

Weil das so oft passiert ist. Weil das jedes Mal so eine Katastrophe war. Weil die Erinnerungen so sehr weh tun. Weil sie nicht mehr den Frieden in sich tragen, der es mal war. Und es mich dennoch immer und immer wieder an diesen Ort zieht, an dem ich gelernt habe zu leben. Auch, wenn es heute nur noch Erinnerungen sind, die zwischen den unbekannten Menschen schweben, die sich heute über die Straßen bewegen, in denen damals das Leben spielte.

Und es gibt die Nächte, an denen ich immer noch die Stimme des verstorbenen Freundes noch im Ohr habe. Seine Hand in meiner fast fühlen kann. Seine Hände auf meinem Rücken. Und egal wie gut oder auch weniger gut es noch werden wird und so dankbar wie ich für diese Erinnerungen auch bin: Es zerreißt mir immer das Herz. Und das macht auch immer Angst.

Es ist so viel Chaos in meinem Kopf, obwohl es eigentlich – und das meine wirklich – so okay ist. Und so falsch diese Überzeugung auch ist: Aber es wäre nicht das Mondkind – Leben, wenn nicht hinter der nächsten Ecke – wahlweise im Privatleben oder im Berufsleben – die nächste Katastrophe lauern würde. Die die naive Mondkind noch nicht gesehen hat, aber die ganz sicher da ist.

„Kapitel Eins war irgendwie das Schönste mit all der Leichtigkeit“, singt Revolverheld. Ich befürchte, das wird nie wieder geben. Für mich nicht und für viele andere auch nicht. Erst heute hatte ich wieder einen recht jungen Patienten, der mir erzählt hat: „Ich muss zugeben, ein bisschen belastet bin ich schon auch. Meine Frau ist vor 15 Jahren verstorben und das war ganz schlimm.“ Und dann hatte er Tränen in den Augen. Und ich musste mich beherrschen, nicht gleich mitzuweinen. „Das verstehe ich sehr gut“, habe ich entgegnet. Ich unterscheide immer sehr zwischen „das verstehe ich“ und „das kann ich nachvollziehen“. Das wissen nur die Patienten meistens nicht. Und irgendwann in der Sozialanamnese meinte er: "Wie soll ich das jetzt sagen... - ich lebe mit einer Freundin zusammen." "Wie darf ich "eine Freundin" vestehen?", habe ich gefragt. "Meine Partnerin", meinte er. "Es ist nichts, wofür Sie sich schämen müssen", habe ich gesagt. Er hat nichts mehr dazu gesagt und ich wollte keine Diskussion vom Zaun brechen, von der ich selbst gerade nicht wusste, ob ich sie halten kann. Aber ich habe gespürt, dass das Kommentar ihn berührt hat. 

Der lebende Freund sagte heute, er habe viel nachgedacht über uns. Und natürlich sind gleich die Mondkind'schen Alarmglocken angesprungen. Ich hoffe, ich bin nicht zu sehr kaputt gegangen. Ich hoffe es einfach. Ich hoffe einfach, dass das nicht voll vor den Baum fährt und ich das erst merke, wenn es die nächste ungeplante Vollbremsung wird.

Und jetzt versuche ich gleich die Batterien aufzuladen. Und zu schlafen. Ich bin so erschöpft, ich könnte im Stehen schlafen.

Mondkind

 

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