Von einem Wochenende und einem Dienst

Montag früh kurz nach 8.
Ich starte das Auto und fahre aus der Nachbarstadt zurück nach Hause, um von da aus aufzubrechen in Richtung Dienst. Um 10 Uhr muss ich da sein. In meinem Kopf tobt ein Feuerwerk. Eigentlich bräuchte ich jetzt erstmal Zeit für Reflexion. Aber die habe ich nicht mehr vor dem 24 – Stunden – Dienst. Ich bete, dass es ein ruhiger Dienst wird. Aber manchmal hat man so ein ganz komisches Magengrummeln vorher. Und manchmal bestätigt sich das.

Rückblick. 

Park in der Nachbarstadt

 

***
Samstag.
Ich brauche noch den Vormittag, um die Wohnung zu Ende auf Vordermann zu bringen – soweit das eben geht, mit einer halb eingerichteten Wohnung. Der Wocheneinkauf muss noch erledigt werden und die Wäsche den Weg in die Waschmaschine finden. Irgendwann am frühen Nachmittag meldet sich mein Freund. Er ist immer noch im Ausland, hat aber einen Plan. Hinter der Grenze möchte er die letzte Verbindung in den Ort in der Ferne nehmen, die es gibt. Na, ich sehe das kritisch, dass dieser Plan aufgeht.
Am späten Nachmittag sehe ich schon, dass der erste Zug Verspätung hat, den der Freund nehmen möchte. Ich bezweifle, dass er überhaupt noch ankommt. Zum Glück hat aber der zweite Zug dann auch Verspätung und damit würde er dann zumindest in der Stadt ankommen, in der ich einst stundenlang auf dem Bahnhof stand, um auf den Bus zu warten, der mich in die Studienstadt bringt. Irgendwann kurz nach 22 Uhr wird uns beiden dann auch klar, dass er dort festhängen wird, weil er den Zug danach wirklich nicht mehr bekommen kann. Also düse ich kurz vor 23 Uhr mit dem Auto los und bin genau Mitternacht da.
„Hättest du bei Deinem letzten Besuch auf diesem Bahnhof mal gewusst…“, denke ich mir so, während ich ihn dort wartend erblicke. Und dann nehmen wir uns das erste Mal seit knapp zwei Wochen in den Arm und jede Faser meines Körpers saugt diesen Moment in sich auf. Er hat mir so sehr gefehlt. Manchmal merkt man das erst so richtig, wenn der Mensch wieder da ist; als sei alles davor irgendwie Selbstschutz gewesen, um nicht zu sehr zu vermissen.
In der Dunkelheit fahren wir über die Autobahn zurück zu mir und er berichtet über seine turbulente Rückreise. Irgendwann läuft ein Lied, das die Angst zwischen uns so gut wieder spiegelt und das ich ihm letztens geschickt habe. Er dreht den Song lauter und es herrscht eine bedächtige Stille zwischen uns. Jeder spürt, wo der andere gerade ist mit seinen Gedanken. Das hier ist alles besonders und intensiv und wir wissen nicht, ob es in einer Woche auch noch so ist.
Es ist mitten in der Nacht, als wir bei mir zu Hause ankommen. Ich habe die Betten schon vorbereitet, wir trinken noch etwas und dann fallen wir völlig erschöpft in unserer Nachtlager.

Sonntag.
Ich bin schon früh wach, schleiche schon mal durch die Wohnung und beschließe dann zu warten, bis ich von ihm etwas höre. Es ist irgendwie ein komisches Gefühl einen für mich so besonderen und wertvollen Menschen in meiner Wohnung zu wissen und auch zu wissen, dass wir nicht alleine aufstehen müssen.
Es ist kurz nach 9, als er vorsichtig klopft und zu mir schlüpft. Und dann liegen wir da und es ist, als würde das Leben und die reale Welt mit all ihren Gefahren irgendwo anders sein, während wir dort ganz sicher sind. Morgen ist Dienst, aber morgen ist morgen. Und heute… - ist heute und wir müssen nicht darüber nachdenken, was morgen kommt.

Und irgendwann spüre ich, dass sein Herz rast. Er hat die Hand darauf gelegt und auch der Atem wird tendentiell schwerer. „Was ist los?“, frage ich. „Ich habe Angst“, sagt er. „Wovor?“, frage ich, obwohl ich es weiß. „Dass wir einfach nicht zusammenpassen. Und dass ich mich von Dir trennen muss“ Ich sage lange nichts. „Wenn es so ist von Deiner Seite aus, dann kann ich da wenig machen. Ich habe gelernt, ich darf die Menschen nicht festhalten.“ Vielleicht war das eine der wichtigsten Lektionen der letzten Jahre, zumindest nicht zu sehr zu zeigen, wie sehr man an den Menschen hängt. Es herrscht sehr lange Stille zwischen uns. Und irgendwann: „Ich habe Angst, dass ich so unglücklich mit dir werde, wie [dein verstorbener Freund].“ Wow… - das sitzt dann mal. Ich liege eine Weile still neben ihm, bewege mich keinen Millimeter, versuche irgendwie Herr über mein Herz zu werden. Aber dann spüre ich die Tränen in den Augenwinkeln und weiß, ich kann es nicht mehr halten. Ich habe Angst. Um ihn, um mich, um uns.
Ihn zu verlieren, wäre aktuell das Schlimmste, was mir passieren könnte. Und gleichzeitig könnte ich es nicht ertragen noch einen Menschen in den Tod zu verlieren.
Irgendwann beschließen wir, dass wir frühstücken sollen. Und dann wird es auch wieder einigermaßen friedlich zwischen uns. Obwohl über allem was wir tun, ein Schatten liegt. Denn ich weiß nie, was morgen ist mit ihm.

Am Nachmittag führen wir unsere Gespräche weiter und es ist immer noch ernst, aber ein bisschen friedlicher. Ihn bei mir zu haben, ist eine seltsame Mischung aus absoluter Euphorie und einer ganz tief sitzender Angst und einem Schmerz. Ich ertappe mich bei dem Gedanken nicht zu wissen, ob ich das schaffe, wenn er geht. Wieder diejenige zu sein, die nicht geeignet ist, für die Beziehung. Die sich so sehr nach Nähe und einem Privatleben sehnt, nach einer Beziehung zu einem anderen Menschen, aber gewisse Dinge nicht aushalten kann. Weil das stellt dann Fragen. Ob es für immer so sein muss. Ob ich vielleicht komplett beziehungsunfähig bin und das Einzige was mir bleibt ist, Einsatz im Job zu zeigen. Und so möchte ich nicht leben müssen. Ich kann es, ich weiß das. Ich habe es lange getan. Aber ich möchte es nicht mehr müssen.
Und zwischen all den Gesprächen dauert es lange bis zum ersten Kuss und ich spüre schon, wie sehr mir das gefehlt hat. Alle Sinne auf ihn ausgerichtet, sodass da nichts mehr ist, das dazwischen kommen könnte. Für einen Moment steht die Welt, sind die Schuldgefühle, das Gestern und das Morgen übertüncht von der Sinnesexplosion in mir. Für den Moment ist es okay.

Abend.
Er muss noch nach Hause und hat sein Fahrrad nicht, mit dem er am nächsten Morgen auf die Arbeit fahren kann. Also beschließen wir, wir essen noch bei mir und dann fahren wir zu ihm, schlafen dort und ich bringe ihn am nächsten Morgen auf die Arbeit, ehe ich zum Dienst fahre.

Es ist spät, als ich über die mittlerweile bekannten, kurvigen Landstraßen fahre, er auf dem Beifahrersitze neben mir. Das Navi läuft nur noch alibimäßig, eigentlich kenne ich den Weg mittlerweile auswendig. Und frage mich dennoch, wie oft ich noch über diese Landstraßen fahren werde. Ich lebe im heute und verdränge, was morgen ist. Weil ich auch nicht wüsste, wie ich es machen sollte. Ich würde den Menschen verlieren, der über die Wochen und Monate einen Teil meines Herzens bekommen hat. Den bekommen nicht Viele, aber wenn jemand ein Stück davon bekommt, dann ist es immer echt. Ich würde einen der aktuell verlässlichsten Gesprächspartner verlieren. Und ich müsste mich damit beschäftigen, dass mich diese moralische Frage, ob ich nach dem Tod des Freundes nochmal eine Beziehung erleben darf, die mich bis heute beschäftigt, für immer bleiben wird und sich nicht mal gelohnt hat. Weil all das „sich schuldig machen“ am Ende nicht mal etwas genützt hat. Weil es die Momente von absoluter Stille und Frieden nicht mehr gibt. Ich habe Angst. Wahnsinnige Angst. Ich möchte das nicht erleben müssen.

Als er in den Urlaub gefahren ist, haben wir die Wohnung gemeinsam verlassen und ich habe ihn zum Bahnhof gebracht, jetzt kommen wir gemeinsam zurück. Dass Bettzeug muss nur wieder aufs Sofa gelegt werden und nachdem wir innerhalb von 24 Stunden in drei Städten waren, schlafe ich wie ein Stein und erst der Wecker reißt mich am nächsten Morgen aus einer Nacht, die dennoch zu kurz war. Ich merke schon in den ersten Minuten des Tages, dass ich dringend einen ruhigen Dienst brauche.

Wir frühstücken schnell und ich setze ihn auf der Arbeit ab.
Pünktlich um 10 Uhr bin auch ich auf der Arbeit angekommen. Ackere mich so schnell es geht bis 16 Uhr durch die Station und rase dann rüber in Richtung Notaufnahme.
Und dieser Dienst – der hat es in sich. Praktisch in einer Nacht habe ich mit allem zu tun, was die Neurologie zu bieten hat. Überschattet wird der komplette Dienst durch einen Patienten mit einem frühklindlichen Hirnschaden. Schon die außerklinische Versorgung schien Chaos zu sein, jedenfalls wurde mir der Patient wechselnd als beatmet und spontanatmend angekündigt, sodass ich im Hintergrund mal ein Intensivbett organisiert habe. Und am Ende… - frühkindlicher Hirnschaden und fragliche Krampfanfälle sind immer ein Fall für sich. Man kann schlecht beurteilen, wie der Patient vorher war, was bei den massiven Hirnschäden neurologisch „normal“ für den Patienten ist und was jetzt neu ist. An Antiepileptika hatte der Patient schon alles drin, mit dem man mal fix eine Schnellaufsättigung hätte machen können, die üblichen Medikamente zum Krampfdurchbruch haben de facto mal gar nichts geändert und das mobile EEG – Gerät war so von schwersten Allgemeinveränderungen und Artefakten überlagert, dass man eigentlich nichts beurteilen konnte. Mein Hintergrund war nicht so gewillt sich in die Klinik zu bewegen (und ich habe sehr viel geweint wegen diesem Patienten, weil ich einfach so verzweifelt war und Angst hatte doch einen Status zu übersehen), ihn nur wegen eines Verdachtes auf einen Status ohne eindeutigen Beweis in Narkose zu legen - was die letzte Option gewesen wäre war mir auch etwas zu viel und irgendwann nach Stunden habe ich mich getraut den Patienten einfach auf die Station zu holen – auch noch mit Trachealkanüle (die aufmerksamen Leser wissen um mein Trachealkanülentrauma). Dort hat sich der Patient dann auch psychovegetativ beruhigt und ist die ganze Nacht mit normalen Vitalparametern durchgetackert, was einen Status doch nicht so wahrscheinlich gemacht hat. Und daneben gab es Schlaganfälle, weitere Krampanfälle, einen akuten MS – Schub (auch die MS – Patienten habe ich bislang eigentlich nicht betreut), einen entzügigen Patienten irgendwo auf der Kardiologie, der laut Kollegen unbedingt neurologisch gesehen werden musste, Treppenstürze und irgendwann in den frühen Morgenstunden wurde noch ein Verdacht auf Hirnhautentzündung angemeldet. Einen Meningismus hatte der Patient nun wirklich nicht, aber als er mit seiner Aufmerksamkeit voll bei den Kabeln an der Überwachung festhing und mir erklärt hat, dass das ein Puzzle sei, das er lösen müsse, habe ich mir schon so meine Gedanken gemacht. Damit hatte er sich dann seine Nervenwasseruntersuchung verdient und irgendwie habe ich ihn immer noch für einen betagteren Herrn gehalten, der des nachts vielleicht einfach ein bisschen durcheinander ist. Aber gerade nachdem ich ihn auf die Station verlegt hatte, rief das Labor an. Zellzahl erhöht. Also erstmal alle möglichen Erreger nachmelden, Antibiosen ansetzen. Aber die Laborkonstellation spricht zum Glück für etwas Virales.
Und dann alles dokumentieren. Ich liege nicht mal eine Minute auf meinem Bett in dieser Nacht. 

Kaffee von den Schwestern geschnorrt...

Die Krankenstände sind hoch und die Kollegin, die eigentlich die Notaufnahme macht, ist krank. Nachdem die Übergabezeit der Notaufnahme längst vorbei ist, rufe ich auf der Station an. „Wird sich jetzt einer von Euch Helden hierher bewegen und mir das Telefon abnehmen?“ „Ja, also die haben gerade geredet, man muss da jetzt nochmal eine Entscheidung treffen…“, kommt es. „Nee, es ist in 10 Minuten Frühbesprechung, einer von Euch bewegt sich jetzt hierher und nimmt das Telefon“, sage ich vermutlich unfreundlicher, als ich es wollte. Aber der Geduldsfaden ist kurz mittlerweile.
Ich schleiche eher in die Frühbesprechung. „Na Mondkind, hast Du Party gemacht?“, begrüßt mich die potentielle Bezugsperson. „Mh…“, sage ich nur. Der wird wahrscheinlich gar nicht zufrieden sein mit meinem Tun der Nacht. Ich versuche vor versammelter Mannschaft die Fälle vorzustellen, nicht ganz so viel Müll zu reden und es zu vermeiden, dass mir in jedem zweiten Satz die Worte fehlen, aber es funktioniert nicht ganz.

Danach muss ich noch Visite auf meiner Station machen. Zuletzt komme ich zu einem ganz lieben Patienten, bei dem heute noch eine Untersuchung aussteht, von der noch einiges abhängt was die Prognose anbelangt und dann darf er gehen. „Sehe ich Sie dann nachher nochmal?“ fragt er mich. „Es tut mir leid. Ich hatte Dienst und bin schon seit 26 Stunden in diesem Krankenhaus. Ich kann nicht mehr. Ich muss nach Hause. Ich schicke Ihnen den Oberarzt vorbei, okay?“ „Ach deswegen sehen Sie heute so müde aus“, sagt er. „Sie waren eine ganz tolle Ärztin, ich danke Ihnen sehr.“
Na wenn man so den Dienst beendet, macht man vielleicht doch irgendetwas richtig.

Im Halbschlaf laufe ich den Weg nach Hause nach, bin mir nicht so sicher, ob ich mich noch als Teil dieser Welt fühle und falle erstmal in mein Bett. Als ich wieder aufwache ist mir kotzübel.

Es ist alles viel. Der Job. Eine so unsichere Beziehung, die so viel Licht und Angst parallel ist. Das Tanzen im Licht, während man die Schatten schon im Rücken spürt. Nicht zu wissen, welcher der Schritt ist, der vom Tanz an den Klippen zum Sprung in den Abgrund führt.
Ich wünschte so sehr, da könnte mehr Vertrauen sein. Dass ich nicht irgendwann sagen muss, Ziel war immer nochmal im Licht zu tanzen und das ist hiermit erledigt und damit darf dann auch ich meinen Frieden finden. Sondern, dass ich noch eine Weile dort bleiben darf. Im Licht. Aber es würde nicht passen in ein Mondkind - Leben. Das muss man auch sagen.
Ich lebe im heute. Und wenn ich irgendwann gehe, dann nehme ich die Lichtmomente mit. Und weiß, dass sich die letzten zwei Jahre zumindest für diese paar Wochen gelohnt haben.

Mondkind

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